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Bergrollstuhl
06. Aug 2024 - 6 min Lesezeit

Ja muss das denn sein?

Mit dieser Frage wird man sehr häufig konfrontiert, wenn man mit Gehbehinderten am Berg unterwegs oder mit Rollstuhlfahrern an der Kletterwand zu Gange ist. Dieselbe Frage kann man sich natürlich auch stellen, sieht man andere fragwürdige Bergaktivitäten. Wer bestimmt denn, was sein muss oder darf?

Wir halten uns an Reinhold Messner, der sagt: „Die Berge, die es zu versetzen gilt, sind in unserem Bewusstsein.“ Für mich steht fest: Natürlich gibt es Grenzen, aber in erster Linie entscheide nicht ich darüber. Die Teilnehmenden bestimmen selbst, basierend auf ihren Möglichkeiten, wie weit wir gehen.

Der Ehrgeiz des Trainers darf nicht der Maßstab sein. Vielmehr setzen die Lust, die psychischen und die physischen Voraussetzungen des Betroffenen den Rahmen für die Aktivitäten. Ich sehe mich nur als „Ermöglicher“, nicht als „Bevormunder und Bestimmer“, der sein Ego auslebt. Ich versuche, den Teilnehmern Freiheit, Gipfel und Spaß erlebbar zu machen.

Bänder fürs Klettern mit Querschnittslähmung
Abb. 1 Diese Bänder unterstützen den Kletterer mit einer inkompletten Querschnittslähmung. Foto: Andreas Strauß

Oft hat der Sport eine solche Kraft, dass sich Grenzen verschieben. Je tiefgreifender das Erlebnis ist, desto größer ist der Erinnerungseffekt und desto größer ist der Lerneffekt. Es werden Angstbarrieren überwunden oder neue Bewegungen ausprobiert. Verborgene Ressourcen werden entdeckt.

Therapeutische Aspekte werden spielerisch angegangen. Die Förderung des Selbstbildes wird durch Spaß und Aktivität unterstützt. Viele, die durch Schicksalsschläge ihre Sportaktivitäten einstellen mussten, knüpfen an ihre alten Erinnerungen an und können vielleicht neue Perspektiven für sich entwickeln. „Geht nicht, gibt’s nicht“ (sofern es die Sicherheitseinschätzung und der Wille der Teilnehmenden zulassen).

Erfolg ist bei unseren Aktionen, wenn wir gemeinsam Grenzen verschieben. Wir erleben Abenteuer und lassen Augen leuchten. Das ist beflügelnd für die ganze Gruppe und der höchste Lohn. Im Detail muss man schauen, welche Betreuung und Unterstützung für ein Erfolgserlebnis nötig sind. Oft können einfache Hilfsmittel neue Möglichkeiten schaffen.

Ich ermögliche Wandern und Klettern trotz:

Halbseitenlähmung.

Das typische Problem bei Menschen mit Hemiparese ist die „offene Tür“. Durch die einseitige Zug- und Stehposition dreht sich der Körper aus der Wand und die kranke Seite kann dem durch die unmögliche Fixierung nicht entgegenwirken. Eine Schiene mit einem fixen Haken, die an der eingeschränkten Hand angebracht wird, ermöglicht ein einfacheres Andocken an der Wand und verhindert die offene Tür. Das gibt ein neues Körpergefühl und unter Umständen lässt dieses veränderte Körperbewusstsein solche Haken auf lange Sicht überflüssig werden.

MS und inkompletter Querschnitt.

Ein gezieltes Ansteuern und Setzen der Beine ist bei diesen Menschen oft unmöglich. Mithilfe von Bändern, die um Sprunggelenke und Kniegelenke angebracht werden, die von den Händen dirigiert werden können, wird die Beinarbeit deutlich verbessert und beschleunigt. Es ist erstaunlich, welche Leistungssteigerung damit erreicht werden kann (Abb. 1).

Bergrollstuhlfahrer
Abb. 2 In der Regel werden die Fahrer:innen des Bergrollstuhls von einer Person gezogen und von zwei geschoben. Foto: Andreas Strauß

Querschnitt.

Jeder, der das Klettern mit einer querschnittsgelähmten Person ausprobiert hat, weiß, dass sich die Sicherung als Schwerstarbeit entpuppt. Auf Dauer nicht machbar. Es gibt unterschiedliche Flaschenzugsysteme, die entweder vorgefertigt oder schnell aufgebaut sind und eine deutliche Minderung des Kraftaufwandes bewirken.

Je nach Höhe des Querschnittes und der leistbaren Körperspannung ist meistens ein Brustgurt angesagt. Für das Ablassen sind Knieschoner und ein am Hüftgurt angebrachtes Hilfsseil, mit dem ich den Abstand zur Wand steuern kann, von großem Vorteil. Ansonsten drohen Hautabschürfungen.

Mentale oder motorische Einschränkungen.

Oft muss man sehr direkt Hilfestellung geben oder bei Blockaden schnell eingreifen können. Duoklettern ist eine gute Möglichkeit, das umzusetzen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Ich habe entweder parallel zur Kletterroute ein Interventionsseil befestigt, an dem ich mich mittels Grigri bewegen und bei Stressblockaden schnell eingreifen kann. Oder ich befestige eine bewegliche Weiche am Kletterseil und klettere parallel zu meinem Kletterer. Auch für das Abseilen bieten sich Duokonstruktionen bestens an, um Ängstlichen oder motorisch Unfähigen das Abseilen zu ermöglichen.

Blinde und sehbehinderte Menschen.

In der Zwischenzeit gibt es Klettergriffe, die licht- oder tongesteuert sind und dadurch kenntlich gemacht werden können.

Unternehmungen am Berg im Sommer

Bergrollstuhl
Abb. 3 Der Bergrollstuhl ist so konstruiert, dass die darin sitzende Person auch mitarbeiten kann. Wenn es mal eng wird, können wir auch die zwei großen Räder entfernen. Foto: Andreas Strauß

Bergerlebnisse erden mich und lassen mich gleichzeitig die Weite und Größe der Natur erleben. Sie machen mich glücklich und ausgeglichen. Das möchte ich für Menschen mit Unterstützungsbedarf möglich machen. Am Markt gibt es inzwischen einige Hilfsmittel – aber bei Weitem nicht so viele, wie wir uns alle wünschen würden.

Deswegen sind wir auf unser eigenes handwerkliches Können und eigene Ideen angewiesen. Die es dann auch umzusetzen gilt. So entstand auch die Idee von unserem Bergrollstuhl (Abb. 2 und 3). Die auf dem Markt erhältlichen Modelle waren leider nicht für unsere Bedürfnisse geeignet. Deswegen bauten wir unsere eigenen. Mit diesen Modellen können viele unterschiedliche Menschen ein Bergabenteuer erleben und fast alle Wege befahren.

Seit dem ersten Testlauf waren die Bergrollstühle schon viele Male im Einsatz und haben uns unvergessliche Erfahrungen beschert. Die Idee dazu entstand, als wir das erste Mal auf dem Weg zur Rotwand waren – mit einem normalen Rollstuhl. Leider ging dabei der Rollstuhl kaputt und wir entschieden uns, etwas Robusteres zu bauen. Ein Bergrollstuhl steht in der Jugendbildungsstätte in Hindelang.

Unternehmungen am Berg im Winter

Skibob für Gehbehinderte
Abb. 4 Skibob. Der Skibob ist für unsere Teilnehmer:innen ein wunderbares Gerät, weil es ihnen möglich ist, alles selbst in die Hand zunehmen. Die Füße sind mittels einer Vorrichtung gegen Verdrehen geschützt. Foto: Andreas Strauß

Der Winter – eine unbeliebte Jahreszeit bei vielen Rollstuhlfahrern. Durch unsere Angebote im Schnee versuchen wir diese Jahreszeit zu verschönern. Wir haben mehrere Skigeräte für die unterschiedlichsten Bedürfnisse. So können wir Skiausflüge für viele Menschen möglich machen. Unser Team besteht aus ausgebildeten Skilehrern für Handicap.

Wir suchen das passende Gerät für unsere Teilnehmenden heraus. Unsere Skigeräte sind z. B. Skibobs (Abb. 4), Dualski und Bi-Ski (Abb. 5). Unsere Teilnehmenden sitzen auf den Geräten und wir haben die Möglichkeit, hinten als Begleitfahrer zu unterstützen. Sollten wir kein geeignetes Gerät haben, finden wir kreative Lösungen.

Wir versuchen, die Freude am Fahren, an der Geschwindigkeit und der Bewegung im Schnee erlebbar zu machen. Spaß im Schnee ist für alle möglich – sei es allein, im Team oder mit Begleitfahrer. Die Belohnung sind für uns alle das Strahlen der Teilnehmenden und die Momente des Glücks. Ich hoffe, dieser Artikel konnte euch inspirieren, etwas zu wagen und Abenteuer möglich zu machen.

Fahrt mit einem Bi-Ski.
Abb. 5 Fahrt mit einem Bi-Ski. Die Begleitläufer sind mit einer Sicherheitsleine mit dem Skigerät verbunden. Die Fahrer:innen sind in dem Gerät festgeschnallt und können durch Verlagern des Schwerpunktes mitarbeiten. Die Begleitfahrer:innen werden von uns in einem dreitägigen Kurs ausgebildet. Sie fahren mit Kurzski, die 90 Zentimeter lang sind. So können sie jederzeit eingreifen. Foto: Andreas Strauß

Mehr zum Thema Inklusion im Bergsport in der Ausgabe #124.

Direkt weiter zum nächsten Artikel: Inklusion im Gebirge? Geht sicher.

Erschienen in der
Ausgabe #124 (Herbst 23)

bergundsteigen #124 cover (Schwerpunkt: Inklusion)