Lawinenkunde: Der Mensch ist Schuld
Wenn es um die Vermeidung von Lawinenunfällen geht, stehen fundierte Kenntnisse der Lawinenkunde und regelmäßiges Üben der Verschüttetensuche an erster Stelle. Das ist grundsätzlich richtig.
Doch ein Bereich, der häufig ausgeklammert wird, ist die Psychologie. Dabei beeinflussen unsere individuellen Einstellungen und gruppendynamische Phänomene unsere Entscheidungsfindung am Berg viel stärker, als wir glauben.
Erst wenn wir uns der psychologischen Prozesse bewusst werden, können wir Fallstricke vermeiden – und bessere Entscheidungen im Gelände treffen.
Michael Larcher
Michael Larcher, Leiter der Bergsportabteilung des Österreichischen Alpenvereins, staatlich geprüfter Bergführer und Gerichtssachverständiger für Alpinunfälle, und die Autorin Rabea Zühlke gehen auf einige dieser „Fallstricke“ näher ein.
Hochmut kommt vor dem Fall
Wir gehen seit Jahren Skitouren, gerne am eigenen Hausberg – auch bei Lawinenwarnstufe drei. Den Hang kennen wir gut, abgegangen ist hier noch nie etwas. So entsteht das Vertrauen in unsere Urteilskraft: Wir denken, wir haben alles im Griff. Im Grunde haben wir aber nichts im Griff: Oft gibt es einen großen Unterschied zwischen dem, was Menschen wirklich wissen, und dem, was sie meinen zu wissen. Die Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky bezeichneten diesen psychologischen Mechanismus als Overconfidence-Effekt. Die (Selbst-)Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und des eigenen Wissens tritt dabei häufiger bei Männern als bei Frauen auf – was ebenso Michael Larcher im Umgang mit dem Lawinenrisiko unterstreicht: „Vor allem Männern und Experten fehlt die Skepsis gegenüber den eigenen Entscheidungen – diese ist aber im Umgang mit dem Lawinenrisiko elementar.“
Der Vater aller Denkfehler
Allein im Sonnenschein, vor uns ein unverspurter Hang. Dass dieser Hang auf der windabgewandten Seite (Lee) ist, sich darüber ein vom Wind abgeblasener Kamm befindet und der Lawinenwarndienst eine Triebschnee-Warnung ausgesprochen hat, wird nicht gesehen. Menschen neigen dazu, neue Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass diese zu ihren eigenen Erwartungen und Überzeugungen passen. Informationen, die ihnen entgegenstehen könnten, ignorieren sie. Die erste Theorie dieser kognitiven Verzerrung, im Fachjargon Confirmation Bias genannt, wurde in den 1960er-Jahren von dem Psychologen Peter Wason veröffentlicht. Gefährlich wird es also, wenn wir unbedingt eine Tour machen wollen – und nicht mehr offen für Informationen sind, die uns zum Umkehren zwingen würden.
Unsere Angst vor dem Verzicht
„Es gibt kein Denken ohne Fühlen. Kognitive Prozesse laufen durch die Bereiche im Gehirn, wo auch unsere Gefühle angesiedelt sind – das ist inzwischen neurowissenschaftlich belegt“, so Michael Larcher. Bei jedem Urteil und jeder Entscheidung ziehen wir demnach unsere Emotionen zurate – in der Psychologie wird das als Affektheuristik bezeichnet. Wir entscheiden nicht rational auf Basis von Statistiken oder Wahrscheinlichkeiten, sondern aufgrund unserer Gefühle. Und dabei streben wir stets nach positiven Gefühlen, die mit einer Powder-Abfahrt natürlich gegeben wären. Auf einer Tour umzudrehen und den Hang nicht abzufahren, löst hingegen starke negative Gefühle aus. So beeinflussen unsere Emotionen unsere Entscheidungsfindung („weitergehen oder umdrehen“), und das meist, ohne, dass wir es bewusst wahrnehmen. „Was helfen kann, ist, eine innere Pause einzulegen, also die Situation von außen zu betrachten. Ich stelle mir einen Lawinenunfall vor und projiziere dies in die nahe Zukunft. Wie harmlos ist der Verzicht nun im Vergleich zu einem Unfall?“
Mehr zum Thema: Mensch, Psyche und Lawine. Der alpenverein basecamp Podcast, Folge 011: Wie kann Verzicht cool sein? Warum kommen bei Lawinen viel weniger Frauen ums Leben? Warum ist das Bauchgefühl im Gelände ein denkbar schlechtes Gefühl?
Mehr Sicherheit, mehr Risiko
Jeden Winter informieren uns neue Marketing-Slogans und emotional aufbereitete Produkt-Videos über die Neuheiten der Lawinensicherheitsausrüstung. Kein Wunder, dass wir uns mit unserem nagelneuen Airbagrucksack in Sicherheit wiegen: Ein 35 Grad steiler Hang bei Lawinenwarnstufe drei? Kein Problem – wir haben ja ein Luftkissen, das uns in der Not rettet. Durch unser verändertes Verhalten machen wir den dazugewonnenen Sicherheitsgewinn allerdings zunichte. Das dahinter steckende Risky-Shift-Phänomen kommt ursprünglich aus der Sozialpsychologie und bezeichnet eine Veränderung von Verhaltensweisen einzelner Individuen aufgrund sozialer Interaktion. So neigen Gruppen dazu, riskantere Entscheidungen zu treffen als eine Einzelperson. Nach Michael Larcher kann dieses Phänomen ebenso durch Sicherheitsausrüstung getriggert werden.
Was wir von Medizinern & Piloten lernen können
Ohne das Wissen über unsere kognitiven Prozesse und unsere selektive Wahrnehmung tappen wir immer wieder in dieselben Fehler. Vor allem beim Bergsteigen können solche psychologischen Fallstricke tragische Konsequenzen haben. So komplexe Situationen wie der Umgang mit dem Lawinenrisiko erfordern daher eine strukturierte Herangehensweise. Ein bewährtes Modell typischer Problemlösestrategien ist das sogenannte PROBAK, welches in wenigen Schritten eine Entscheidungsfindung erleichtern soll und überall dort zum Einsatz kommen kann, wo menschliche Fehler passieren können. Das Modell wurde von Experten des Unispitals in Basel entwickelt und ist angelehnt an verschiedene Modelle und Strategien, die auch in der Luftfahrt angewandt werden.
- P für Problem erfassen: Wo liegt das Problem? Wo liegen die Gefahren?
- R für Ressourcen schaffen: Zeit nehmen, zusätzliches Personal einzusetzen und Hilfe von außen erfragen
- O für Optionen sammeln & werten: möglichst viele Erkenntnisse zu erwartenden Problemen und andere Faktoren über die Situation sammeln; anschließend die tauglichsten Optionen auswählen
- B für Beschlussfassung: Entscheidung für eine neues Ziel und die Herangehensweise an dieses Ziel? (Was ist zu tun? Wer ist zuständig?)
- A für Ausführung
- K für Kontrolle: Haben sich die Umstände verändert? Oder womöglich ein neues Problem aufgetaucht?
Der ganze Artikel über Probleme und Strategien der Entscheidungsfindung im Archiv-Artikel der bergundsteigen 2/02
Jung, männlich und risikoaffin
Manche lieben das Risiko, andere meiden es. Ob und welche Risiken wir eingehen, hängt von unseren Persönlichkeitsstrukturen, von unserem Alter, aber auch von unserer Peergroup ab. Der Begriff Sensation Seeking, der auf den Psychologen Marvin Zuckerman zurückgeht, beschreibt – vereinfacht gesagt – ein relativ stabiles Persönlichkeitsmerkmal, das Menschen nach intensiven, abwechslungsreichen und neuen Erlebnissen und Erfahrungen streben und dabei auch gewisse Risiken eingehen lässt. Variablen, welche die Ausprägung am meisten beeinflussen, sind nach Zuckerman das Geschlecht und das Alter. Das Verhalten ist vor allem bei Männern sowie bei Personen unter zwanzig Jahren, aber auch bei geschiedenen Männern besonders stark ausgeprägt.
Ebenso hat Michael Larcher beobachtet, dass in Gruppen extrovertierte Menschen in puncto Risiko dazu neigen, weniger zu reflektieren.„Es kommt eine falsche Souveränität zum Ausdruck. Die Unsicheren, oftmals Frauen am Berg, ordnen sich automatisch unter.“
Man meint: Die Lauten hätten das Wissen und damit das Sagen in der Gruppe.
Steiler ist geiler
Das Selbstwertgefühl ist eng mit dem sozialen Vergleich und unserem sozialen Status verbunden. Ein geringes Selbstwertgefühl steigert beispielsweise die Neigung, sich mehr mit anderen Menschen zu vergleichen, oftmals mit denen aus der gleichen Peergroup. Eine amerikanische Studie (bergundsteigen #105) untersuchte die Zufriedenheit von Freeridern, sobald sie die Abfahrten anderer Freerider sahen: Ein Drittel fühlte sich besser, wenn andere Tourengeher weniger steile Abfahrten gemacht hatten – im Umkehrschluss wurden die eigenen Erlebnisse abgewertet, wenn andere steilere Abfahrten gewählt hatten. Menschen, die eine hohe Tendenz haben, sich zu vergleichen, investieren (in diesem Fall „riskieren“) wiederum auch mehr, um mithalten zu können.
Für Michael Larcher hängt diese Neigung mit dem Wertesystem der Gesellschaft zusammen: „Eine Tour im siebten Grad ist besser als im sechsten, ein 40 Grad steiler Hang besser als ein 30 Grad steiler. Auch im Alpenverein kämpfe ich gegen diese Haltung an – nämlich, dass schwierige Gemeinschaftstouren ‚besser‘ seien als z. B. ‚einfache‘ Wanderungen.“
Das Tragische ist, dass wir ein kapitalistisches Wertesystem in den Bergsport übernehmen.
Michael Larcher
Gemeinsam sind wir schwach
Schon aus evolutionären Gründen fühlen wir uns innerhalb einer Gruppe sicherer. Je mehr Mitstreiter zusammenarbeiten, desto besser können wir uns gegen Angreifer wehren. „Dieses Sicherheitsgefühl ist im Lawinenhang aber völlig falsch und bewirkt das komplette Gegenteil.“
Michael Larcher hat das vor allem bei der Abfahrt beobachtet: „Ohne erkennbaren Grund fahren Freerider und Tourengeher gleichzeitig und ohne Abstände in einen Steilhang hinein. Abstände einhalten wäre trivial, trotzdem passiert es in der Realität viel zu selten. Die Menschen suchen die scheinbare Sicherheit in der Nähe – was aber im Umgang mit Lawinen oftmals mehr Gefahr bewirkt. Entgegenwirken können Gruppen diesem Phänomen, indem man vor der Abfahrt deutlich macht, dass alle unten warten werden, bis die Gruppe komplett ist – und alle zur Weiterfahrt bereit sind.“
Die Tragik der Alpha-Männchen
„Keiner kann sich die Blöße geben, Bedenken zu äußern – oder gar seinen sozialen Status zu verlieren. Gleichzeitig entsteht das Gefühl, sich in dieser Gruppe voller Experten absolut sicher zu fühlen. Allerdings schiebt in dieser ‚Expertengruppe‘ jeder die Verantwortung auf die andere Person.“ Ebenso gefährdet sind nach Larcher gemischte Gruppen: „Männer neigen dazu, sich risikoaffiner zu verhalten, sobald Frauen dabei sind. Der Mann möchte imponieren, es kann sogar zu einem Konkurrenzkampf innerhalb der Gruppe kommen – und auch hier möchte niemand der ‚Angsthase‘ sein und Bedenken über eine mögliche Gefahr äußern.“
Nichts ist gefährlicher als sechs Bergführer oder Bergretter gemeinsam auf Skitour.
Michael Larcher
Gerade in größeren Gruppen ist es elementar, seine Bedenken zu äußern. Einmal getan, wird man meist auch nicht von außen pikiert, vielmehr sind die anderen Gruppenmitglieder dankbar, dass es ausgesprochen wurde. Dafür braucht es Mut, was sich aber auszahlt. Am Ende muss jeder selbst sein Risikoverhalten verantworten!
Weitere Quellen: DAV Panorama 6/2020: „Wer bremst, verliert“; Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik: lexikon.stangl.eu; Springer Link: Praxis der Sozialpsychologie: „Das Risikoschub-Phänomen als Gegenstand sozialpsychologischer Forschung