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Pic by Pauli Trenkwalder|Christoph Mitterer ist Schnee- und Lawinenforscher und fachlicher Koordinator im Projekt ALBINA.|Abb. 2 Alle möchten das Gleiche sagen
19. Dez 2018 - 10 min Lesezeit

Konsistenz in den Lawinenbulletins in den Alpen: ein Blick über die Landesgrenzen hinweg

Spontan mal ein Wochenende zum Skitourengehen woanders planen als in der Heimatregion? Ja klar, aber wo sind die Schneeverhältnisse gut und – vor allem – wie ist die Lawinensituation dort? Und wo finde ich diese Informationen?
Abb. 1: www.avalanches.org: Auf derWebseite der Europäischen Lawinenwarndienste EAWS findet sich eine Übersicht zu allen regionalen Lawinenbulletins im Alpenraum bzw. in Europa.

Das ist wohl einfach: im Lawinenbulletin! Aber bedeutet der Inhalt des fremden Bulletins das Gleiche wie bei mir daheim? Und was zum Teufel ist ein Bulletin?

Informationen zur Vorhersage der Lawinengefahr im Alpenraum – wo finde ich die?

Zu jeder guten Skitour gehören drei Dinge: gut gewachselte Skier, eine gute Tourenplanung und eine reichliche Brotzeit oder besser gesagt Jause – nein, Znüni oder doch eher Marend? Man merkt schon, kaum wechselt man von Bayern über Tirol nach Graubünden oder Südtirol, bekommt der doch so wichtige Proviant einen anderen Namen. Bedeutet es dann aber immer das Gleiche?

Dass ähnliche Probleme bei einer der wichtigsten Information zur Tourenplanung – der Einschätzung der Lawinengefahr – unbedingt verhindert werden mussten, erkannten die Lawinenwarndienste der Alpenländer schon vor 25 Jahren. Aus dieser Erkenntnis heraus resultierte damals die Europäische Lawinengefahrenstufenskala (siehe auch der Beitrag zu 25 Jahre Europäische Gefahrenstufenskale in bergundsteigen #104): grenzüberschreitend gleiche, gemeinsam definierte Begriffe. Heute arbeiten in allen Ländern der Alpen verschiedene Lawinenwarndienste an der Herausgabe von Lawinengefahrenprognosen, -berichten oder -bulletins.

Um Informationen zu den einzelnen Bulletins in den Alpen, ja in Europa generell zu gelangen, starte ich am besten auf der Webseite der Europäischen Lawinenwarndienste (EAWS) (Abb. 1). Über eine Karte kann ich die gewünschte Region auswählen und über einen Link komme ich dann meist direkt zur Webseite des entsprechenden Lawinenwarndienstes. Außer in Italien, da finden sich jeweils Links zu zwei Warndiensten – denen der Regionen und Provinzen (AINEVA) und denen des Forstdienstes und Militärs (Servizio Meteomont). Für die Gemeinde Livigno, im Norden der italienischen Provinz Lombardei, finde ich sogar noch ein drittes Bulletin.

Werfe ich einen Blick in die verschiedenen Produkte, sprich Bulletins, kommt – ähnlich wie bei den verschiedenen Begriffen zur Brotzeit – vielleicht erstmals Verwirrung auf: Denn alle Produkte sehen anders aus, alle scheinen anders aufgebaut, und dazu noch die Sprachenvielfalt … (Abb. 2).

Schaue ich genauer hin, kommen noch andere Unterschiede hinzu: Manch ein Bulletin erscheint am Morgen und ist gültig für den aktuellen Tag (bis jetzt war dies meist in Österreich der Fall), andere werden täglich am Nachmittag ausgegeben und geben Informationen bis zum nächsten Abend (der Normalfall in Frankreich, Italien, der Schweiz), andere wiederum werden am Nachmittag für den Tag und mehrere Folgetage veröffentlicht. Und dann gibt es da auch noch regelmäßige Updates am Morgen, wie z.B. in der Schweiz.

Abb. 2: Alle möchten das Gleiche sagen, keines ist gleich wie das andere. Trotz des einheitlichen Aufbaus anhand der EAWS-Informationspyramide wird die Lawinengefahr in den Alpen von Warndienst zu Warndienst unterschiedlich kommuniziert.

Jetzt aber genug der Verwirrung. Ich will eine Tour planen und zwar in der Silvretta. Es steht ein verlängertes Wochenende an und wir wollen schon ein paar Klassiker in diesem Paradies für Skitourenfanaten machen. Da die Touren im Silvrettagebiet sich blöderweise nicht an politisch-administrative Grenzen halten, muss ich mir die Bulletins aus Vorarlberg, Tirol und der Schweiz anschauen. Da ich ein gewissenhafter Planer bin, schaue ich mir die Berichte über einen längeren Zeitraum – einfach ein paar Tage – an, und langsam frage ich mich immer mehr: Wieso unterscheidet sich die Gefahrenstufe in benachbarten Gebieten so oft? Und wieso ist die Stufe auf der einen Seite der Grenze eher mal höher als auf deren anderen Seite? Unterschiede, die auch den Lawinenwarnern im Alpenraum aufgefallen sind. Deswegen haben sie für einen Zeitraum von vier Wintern (2011/12 bis 2014/15, 477 Tage mit Gefahreneinschätzungen) die Lawinenbulletins von 23 der 30 Warndienste in den Alpen miteinander verglichen (Originalstudie: Techel et al., 2018). Heraus kam Folgendes:

Über Grenzen hinweg, egal ob dies Landesgrenzen waren oder auch Grenzen zwischen Warndiensten innerhalb eines Landes, wie z.B. zwischen der Lombardei und dem Trentino, oder zwischen den Bulletins, welche in Chamonix oder in Bourg-St-Maurice in Frankreich ausgegeben wurden, wurde im Schnitt nur an rund zwei Drittel aller Tage im Datensatz die gleiche, höchste Gefahrenstufe ausgegeben.

Die Unterschiede gingen aber noch weiter: Die ausgegebene Gefahrenstufe einiger Warndienste war tendenziell eher mal etwas tiefer (oder höher) als die der Nachbarn. Dies wurde besonders augenfällig, wenn man die Einschätzungen des Schweizer Bulletins mit denen in Frankreich und Italien verglich. Ein Beispiel im Detail: Analysiert man die Häufigkeit der Verwendung der Gefahrenstufe 4-Groß und 5-Sehr Groß (Letzteres kam in diesen vier Jahren kaum vor), dann stechen Unterschiede sofort ins Auge.

Abb. 3 zeigt, wie häufig verschiedene Warndienste die Gefahrenstufe 4-Groß und 5-Sehr Groß im Verhältnis in diesen vier Jahren verwendet haben. Je mehr die Farbe ins Dunkelviolette geht, umso häufiger, je heller umso weniger. Dabei fallen zwei Muster auf: Zum einen wurden diese hohen Gefahrenstufen weniger in Gebieten verwendet, in welchen die höchsten Gipfel eher niedriger sind (ca. 2.000 m), was ja durchaus plausibel ist – wie z.B. in den östlichsten Regionen von Niederösterreich und der Steiermark oder in den Schweizer Voralpen. Zum anderen wurden aber auch große Unterschiede in der Verwendung der hohen Stufen über Warndienstgrenzen hinweg augenscheinlich, wie z.B. zwischen denen der Schweiz und dem Aostatal mit ihren französischen und italienischen Nachbarn im Westen und Süden. Grenzen, an denen man zwar Unterschiede aufgrund von unterschiedlichen Wetter-, Schneedecken- und somit Lawinensituationen erwarten kann, aber ob diese so markant sein sollten, bleibt die Frage.

Abb. 3: Die unterschiedlichen Warnregionen der Alpen mit dem Anteil von ausgegebener Stufe 4 & 5 in den Wintern 2011/12 bis 2014/15. Schwarze Linien symbolisieren die Grenzen von nationalen oder regionalen Lawinenwarndiensten. Für die Region Lombardei existierten für diese Auswertung Einschätzungen von zwei regionalen Lawinenwarndiensten. LOM wird von der AINEVA eingeschätzt, während BOR von Meteomont herausgegeben wird. Die Farbe zeigt, wie häufig verschiedene Warndienste die Gefahrenstufe 4-Groß und 5-Sehr Groß im Verhältnis in diesen vier Jahren verwendet haben. Je mehr die Farbe ins Dunkelviolette geht, umso häufiger, je heller umso weniger.

Unterschiede – wieso?

Eine mögliche Erklärung für diese Unterschiede findet sich in der Größe der Warnregionen. Warnregionen sind die kleinste Flächeneinheit, welche die Lawinenwarner in ihren Produkten verwenden. Sie sind damit auch die kleinste Einheit, für welche theoretisch eine regionale Gefahrenstufe kommuniziert werden könnte.

Diese Warnregionen sind sehr unterschiedlicher Größe und mit rund 100 km2 bis 300 km2 in der Schweiz, dem Aostatal und Trentino rund vier- bis fünfmal kleiner als in den Warnregionen, welche andere Warndienste verwenden (Abb. 4).

Zudem werden die Warnregionen in den Bulletins dieser drei Warndienste dynamisch aggregiert, sehen die Gebiete mit gleicher Gefahr auf der Gefahrenkarte also jeden Tag etwas anders aus. Lawinenwarner in Warndiensten, welche größere Regionen verwenden, müssen sich dagegen entscheiden: kommunizieren sie die höchste Stufe, welche innerhalb einer Region gilt, oder die, welche flächenmäßig am verbreitetsten ist? Hierfür gibt es keine fixen Regeln. Aber es ist zu vermuten, dass meist die höchste Stufe, welche ein Lawinenwarner innerhalb einer größeren Region erwartet, kommuniziert wird.

Der Vergleich der Gefahrenstufe benachbarter Warndienste bei Verwendung stark unterschiedlicher Größen der Warnregionen zeigt, dass es nicht nur öfters Unterschiede in der Gefahrenstufe geben kann, sondern dass diese in Warndiensten mit kleineren Warnregionen auch tendenziell eher tiefer sind.

Abb. 4: Die Warnregionen, die kleinste in den Bulletins verwendete Flächeneinheit, für welche eine regionale Gefahrenstufe auf einer Karte kommuniziert werden kann (dünne schwarze Linien). Dargestellt ist die Situation der Jahre 2011 bis 2015. Einige Warndienste verwenden mittlerweile eine teils feinere Einteilung.

Natürlich gibt es weitere Ursachen für Unterschiede, welche aber in der Studie nicht betrachtet werden konnten, da die Datengrundlage fehlte. Allerdings wurde schon vorher darauf hingewiesen, dass z.B. die Stufe 4-Groß zwar innerhalb ihres Definitionsspielraumes (siehe Abb. 5), aber trotzdem teils unterschiedlich gehandhabt wird. So ist in den meisten Ländern die Gefahrenstufe 4 untrennbar mit spontaner Lawinenaktivität verknüpft, während die französische Praxis auch die Stufe 4 verwendet, wenn Personen Lawinen sehr leicht auslösen können, spontane Lawinen aber eher die Ausnahme sind. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass wir eine unterschiedliche Häufigkeit bei der Verwendung dieser Stufe vorfinden: Während in Frankreich über 16 Jahre die Gefahrenstufe 4-Groß 8 % aller ausgegeben Gefahrenstufen ausmacht, ist sie in der Schweiz über zehn Jahre gesehen mit 1,1 % aller ausgegebenen Gefahrenstufen sehr selten (Mansiot, 2016; SLF, 2017).

Abb. 5: Definition der Stufe 4-Groß laut Europäischer Lawinengefahrenskala (2018/19).

Auch wenn es also Unterschiede gibt, und wir haben mit der Verwendung der Stufe 4-Groß den augenscheinlichsten Fall aufgegriffen, die Begriffe sind überall die gleichen, allerdings mit Nuancen in der Interpretation.

Es zeigt sich also: die Europäischen Lawinenwarndienste EAWS haben weiterhin viel Arbeit vor sich und sind gefordert, nicht nur ihre Produkte anzugleichen, sondern auch konsistenter in der Verwendung der Gefahrenstufenskala zu werden. Grenzüberschreitende Harmonisierungen und gemeinsame Produkte, wie dies ab dem heurigen Winter die Warndienste Tirol, Südtirol und Trentino machen werden (www.avalanche.report, siehe bergundsteigen #104, Mitterer et al., 2018), scheinen ein sehr sinnvoller Weg zu sein, um dies zu erreichen.

Eine weitere europaweit harmonisierte Anpassung steht ebenfalls diesen Winter an: die Bezeichnungen der Lawinengrößen werden angepasst. Bei allen Harmonisierungen müssen aber die Bedürfnisse der verschiedenen Nutzer der Bulletins – also nicht nur der Freizeitsportler, welche sich über Grenzen hinwegbewegen, sondern natürlich auch der lokalen Sicherheitsverantwortlichen – zentral bleiben

Wenn ich das Lawinenbulletin in einer anderen Region nutze – worauf sollte ich achten?

Als Nutzer der Bulletins sollte mir also bewusst sein: es gibt Unterschiede zwischen den Lawinenbulletins der verschiedenen Warndienste, aber auch zahlreiche Gemeinsamkeiten:

  • Beispielsweise sind alle Warndienste dazu angehalten, die Informationen im Sinne der Informationspyramide zu gliedern (das Wichtigste zuerst),
  • verwenden alle die Europäische Gefahrenstufenskala,
  • werden die kritischsten Hang- und Höhenlagen speziell aufgeführt und
  • wird die Gefahr im Detail beschrieben.
  • Zudem haben sich die Warndienste 2017 auf die Verwendung einheitlicher Lawinenprobleme geeinigt und
  • es gibt ein Glossar, welches die verwendeten Fachbegriffe und deren offizielle Übersetzung in neun europäische Sprachen erklärt.

Als Nutzer sollte ich auf folgende Punkte achten, wenn ich ein mir unbekanntes Bulletin öffne:

  • Wann wurde das Bulletin ausgegeben?
  • Bis wann ist es gültig?
  • Wie groß sind die Warnregionen?
  • Bin ich in Grenzregionen unterwegs, dann sollte ich mir die Produkte aller angrenzenden Warndienste anschauen. Ähnliches gilt ja übrigens auch, wenn ich mich an der Grenze von Gebieten mit unterschiedlicher Gefahreneinschätzung bewege. Auch dann schaue ich mir beide an.
  • Und zuletzt sollte ich mir bewusst sein, dass die Gefahrenstufen zwar überall innerhalb ihres Definitionsspielraumes verwendet werden, aber dass sich dieser vor allem bei Stufe 4 etwas unterscheiden kann.

Wohlgemerkt, die Gefahrenstufe ist die maximalste Vereinfachung der Situation. Mehr spezifische Information liest man im Text des Lawinenbulletins, wenn auch bis dahin vielfach nur in der jeweiligen Landessprache.

Schlusswort

Bei allen Gemeinsamkeiten und Unterschieden sollte vor allem eines nie vergessen werden: das Lawinenbulletin ist eine regionale Prognose und besonders wertvoll als Planungshilfe. Und als solche muss es immer im Gelände kritisch hinterfragt werden. Egal ob in Frankreich, der Schweiz oder in Tirol.

Und noch was: natürlich nie Brotzeit, Jause, Znüni oder Marend vergessen – egal, wo ihr auf Tour geht. •

 Literatur/Quellen

Erschienen in der
Ausgabe #105 (Winter 18-19)