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Shitstorm heaven
05. Mrz 2019 - 20 min Lesezeit

Shitstorm Heaven – Willkommen in der alpinen Empörungs-Community

„Heute (…) können sich alle öffentlich äußern, die Wut über die Wut der jeweils anderen Seite ist längst zum kommunikativen Normalfall geworden.“ (Pörksen, S. 18)
Shitstorm heaven, by Roman Hösel

Jänner 2019. Es schneit, schon seit Tagen. Lawinenwarndienste sprechen von großer Lawinengefahr, die sich tagtäglich steigert. Der langersehnte Winter wird zur Schneehölle. 

Medien warnen Wintersportler davor, gesichertes Gelände zu verlassen. 

Manche machen es trotzdem, posten Powder-Fotos mit Fun-Faktor und werden kritisiert. Dasselbe gilt für Kommentare bei Berichten über die – zum Glück verhältnismäßig wenigen – Lawinentoten oder -verunfallten. Mitgefühl und Verständnis werden nicht gezeigt, sondern es werden sofort Beschuldigungen erhoben – noch bevor man überhaupt Informationen über den konkreten Unfallhergang, die Unfallursache hat oder ein Gutachten vorliegt. Social Media wird abermals zur gläsernen Plattform veränderten Kommunikations-, Informations-, Medien- und Diskussionsverhaltens bis hin zu einer gesellschaftsverändernden Dynamik.

Was dieses Mal anders war: Oft war die Grundlage für ausschweifende Diskussionen im Netz in den polarisierenden, radikalisierenden oder unvollständigen Berichten der klassischen Medien zu finden, die im Folgenden angeführt sind. Die Diskussionen in den sozialen Netzwerken sind schnell zu finden.

Die vielen Unwahrheiten, Übertreibungen, Pauschalisierungen, Diskussionen und die Vermischung von Emotionen oder Informationen haben zu einer sehr negativen Dynamik in unserer netten Bergwelt-Community geführt. Und wieder einmal ist das nicht ein Sonderfall, sondern ein Beispiel veränderten Kommunikationsverhaltens, veränderter Informationsverbreitung und -verarbeitung, ein Beispiel unserer Empörungsdemokratie. 

„Und es vergeht kein Tag ohne Verstörung, keine Stunde ohne Push-Nachrichten, kein Augenblick ohne Aufregen. Man könnte, selbst wenn man wollte, den digitalen Fieberschüben nicht entkommen. Sie regieren die öffentliche Agenda der klassischen Medien und bestimmen, was kommentiert wird.“ (Pörksen, S. 7)

Die Trolle sind gefüttert.

Wie konnten diese Diskurse überhaupt entstehen?

„Als Troll bezeichnet man im Netzjargon eine Person, die ihre Kommunikation im Internet auf Beiträge beschränkt, die auf emotionale Provokation anderer Gesprächsteilnehmer zielen. Dies erfolgt mit der Motivation, eine Reaktion der anderen Teilnehmer zu erreichen. In darauf bezogenen Bildern wird oft der aus der Mythologie bekannte Troll dargestellt.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Troll_(Netzkultur), abgerufen am 15.1.2019)

Viele Trolle wurden im Jänner 2019 aus der Reserve gelockt und haben sich voll Freude, Unsachlichkeit und Emotionen ins Netz gestürzt. Die Zutatenliste für das gehäufte Auftreten dieses Phänomens sei im Folgenden beschrieben.

Filterblase und Bestätigungsdenken

Veränderte Informationsverbreitung, -verarbeitung und Nachrichtenkonsum

Grundlage jeder fachlichen Diskussion sollten richtige, verifizierte, vollständige und relevante Informationen sein. Gar nicht so leicht, diese in der individuellen Social-Media-Bubble zu finden. Denn die Nutzer von Facebook und anderen sozialen Plattformen erhalten nicht alle relevanten Informationen. Was im jeweiligen Newsfeed angezeigt wird, ist also nicht eine chronologische Auflistung von Informationen, sondern wird von einem Algorithmus ausgewählt. In der auf diese Weise entstandenen Filterblase erhält der Social-Media-Nutzer also nur eine Auswahl an Informationen – beeinflusst durch sein bisheriges Klick-Verhalten und einem daraus resultierenden Ausspiel-Algorithmus der Plattformen. Der Leser hat sich daran gewöhnt.

Wir sind es gewohnt, uns mit Fake News oder unvollständigen Informationen zufrieden zu geben, die in unserer eigenen Social-Media-Bubble erscheinen. In wenigen Sekunden screenen wir die ausgespielten Nachrichten, für mehr als das flüchtige Lesen der Headlines reichen unsere Zeit und Aufmerksamkeitsspanne häufig nicht. 

Viele Social-Media-Nutzer sind so daran gewöhnt, ausschließlich Facebook als Informationsmedium zu nutzen, dass sie der Ansicht sind: Was es nicht auf Facebook ist, gibt es nicht – das betrifft auch Informationen. Das aktive Abfragen zusätzlicher Kanäle oder das aktive Verändern der Filterblase (durch Anklicken anderer Quellen) ist uns anscheinend zu anstrengend. Lieber lassen wir uns in unserer Filterblase durch entsprechende Postings und Informationen in unseren Denkmustern bestätigen, ganz nach dem Motto: „Mehr desselben“.

Wir akzeptieren die polarisierenden Nachrichten und umgekehrt werden gerade diese öfter ausgespielt, da sie Emotionen wecken und eine höhere Klick- bzw. Ansichtsrate haben, was wiederum eine höhere Ausspielrate bewirkt.

„Sie (Anm.: YouTube und Facebook) liefern möglichst einseitige, möglichst emotionale und nicht überprüfte Inhalte und streben an maximal zu polarisieren. (…) Damit leisten sie zusätzlich dem digitalen Triablismus – also der Bildung „digitaler Stämme“ – Vorschub, zusammengesetzt aus Personen, die sich zwar nicht persönlich kennen, aber sich zugehörig fühlen und bereit sind, nur jene Nachrichten weiterzuleiten, die dem eigenen „Stammesdenken“ entsprechen.“ (Breitenecker, Milborn, S. 128)

Lieber urteilen als beurteilen

Die Bereitschaft der Nutzer von sozialen Plattformen, sich Hintergrundinformationen für nicht-einordbare Informationen zu beschaffen – und zwar so viele, bis sich ein geschlossenes und logisches Bild ergibt –, nimmt rapide ab. Dieses Phänomen existiert schon länger in anderen Bereichen, derzeit ist es aber recht plakativ in unserer Facebook-Berg-Community zu finden. Lieber beschimpft man Wintersportler und Verunfallte, ohne zu wissen, wo, bei welcher lokalen Lawinenwarnstufe, warum, mit welcher Entscheidungskompetenz und auf welchem Entscheidungsweg und mit welcher Ausbildung die Leute unterwegs waren – und was allenfalls zu einem Unfall geführt hat. 

Emotionale Gereiztheit und kommentierender Sofortismus. 

Wissen braucht Zeit und Raum 

Wie gerne hätte ich beim ersten Shitstorm mitdiskutiert und meine Meinung abgegeben. Doch ohne fundierte Informationen kann keine sachliche Diskussion geführt werden. Diese zu erhalten, vor allem im Falle von Unfällen, braucht Recherche und Zeit. 

Für all diese Hintergrundinformationen sind aber wiederum Alpinpolizei, Gutachter und in letzter Instanz ein Richter zuständig, weshalb eine Diskussion zum derzeitigen Zeitpunkt oft völlig sinnlos ist – dienen doch als Diskussionsgrundlage Mutmaßungen und Küchenpsychologie. Erschwerend kommt die reduzierte Mitteilungsmöglichkeit über soziale Medien hinzu. Ein Satz – ein Statement.

„Es gehört zu den Kernaufgaben der Profession (Anm.: Journalismus), Komplexität zu reduzieren – und gleichzeitig die verzerrende Vereinfachung zu vermeiden. Es ist eine Herausforderung eigener Art, Unterhaltungsbedürfnissen gerecht zu werden, aber auch mit Substanz zu informieren, eine ansprechende Darstellung mit aufklärerischem Interesse zu verbinden.“ (Pörksen, S. 199)

Das ist meine private Meinung! Ich stell sie mal öffentlich.

Produser, der Deckmantel der Anonymität

Die Möglichkeit, sofort, immer und überall zu posten, ist eines der wichtigsten Merkmale der sozialen Medien. Überall meint auch: mit und über alle und alles. 

Noch einmal sei hier darauf hingewiesen, dass auch vermeintliche Privatpersonen als Medium agieren, ihre (Ad-hoc-)Postings, Kommentare und Meinungen öffentlich sind. 

Wer ist für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Nachrichten verantwortlich? Ist es der User, der als (Nachrichten-)Medium agiert? Oder ist es die Aufgabe von Facebook und Co, private Posts auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit zu kontrollieren? 

Fakt ist, dass jede Nachricht, die wir auf Facebook veröffentlichen, öffentlich ist. Und wir uns über die Konsequenzen, die diese Nachrichten haben können, bewusst sein müssen.

„Wenn jedoch, wie heute der Fall, jeder zu publizieren vermag, dann heißt dies, dass die Erregung sich auch deswegen fortsetzt und sich die allgemeine Gereiztheit verschärft, weil die Empörung der jeweils anderen Seite als das eigentliche Ärgernis gilt und Deutungskonflikte in neuer Schärfe aufeinanderprallen. Die Folge ist die in endlosen Schüben wuchernde Skandalisierung der Skandalisierung.“ (Pörksen, S. 165)

Den Deckmantel der digitalen Pseudo-Anonymität, der Beschimpfungen und moralisch-ethischen Verurteilungen der Masse rechtfertigt, gibt es nicht. Man ist im Netz nicht anonym oder rechtsfrei, man tritt auch hier als Individuum, als Person auf – mit jedem View, Like & Kommentar – und hat auch die Privatsphäre anderer Personen zu respektieren. Und zudem ist natürlich auch Facebook selbst kein rechtsfreier Raum, sondern gibt in seinen Nutzungsbedingungen und Richtlinien klare Vorgaben für die Nutzer.

Whataboutismus und digitaler Schmetterlingseffekt

Was ist eigentlich das Thema? Was ist Ursache und Wirkung?

„Wir sind gereizt, weil wir im Informationsgewitter und einem medientechnisch produzierten Dauerzustand der Ungewissheit in heller Aufregung nach Fixpunkten und Wahrheiten suchen, die doch, kaum meinen wir, ihrer lebhaft geworden zu sein, schon wieder erschüttert und demontiert werden.“ (Pörksen, S. 17)

Schön zu beobachten, in emotional geführten Diskussionen, dass eigentlich niemand mehr das oder die eigentlichen Themen kennt oder den Informationsgehalt nach Relevanz für das Thema sortiert. Es wird dort weiterdiskutiert, wo der Letzte aufgehört hat. 

Die Themen werden nicht mehr fachlich behandelt, die Wut des Einzelnen dreht die Empörungs-Spirale einfach weiter.

Hier zu erwähnen wäre auch der digitale Schmetterlingseffekt – hiermit wird eine Asymmetrie zwischen Ursache und Wirkung bezeichnet, so der Namensgeber: „Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?“ 

Einzelthemen waren hier

Bergrettung

Es gab täglich mehrere Posts, in denen sich unzählige Personen bemüßigt fühlten zu sagen, dass sich die Bergretter aufgrund unverantwortlicher Wintersportler in Lebensgefahr bringen. Die Bergrettung hat versucht, dies in einer APA-Meldung des Bundesverbands (Martin Gurdet, Bundesverband-Geschäftsführung) klarzustellen. Das wollte aber keiner hören

„Wir sind das ganze Jahr über einsatzbereit, so auch in dieser Phase – mit besonderem Bedacht, dass unseren eigenen Einsatzkräften nichts passiert.“  

Die Gefahr durch die großen Schneemengen

Die „Schneehölle Österreich“. So las man es in praktisch allen Medien. Es bestand eine große bis sehr große Lawinengefahr. Aber nicht immer und überall bzw. lokal begrenzt oder vollständig in einer Region. Auf diesbezügliche einseitige Berichte über die Schneehölle in den Nordalpen reagierten bald Touristiker, die bestätigten, dass ihre Skiregion geöffnet und erreichbar sei, für ihre Gäste keine Gefahr bestünde und zudem einer der schönsten Winter der letzten Jahre sei.

Fahrlässigkeit und Eigenverantwortung der Wintersportler

Kann man prinzipiell bei Lawinengefahrenstufe 4 eine Skitour gehen? Darf man das? Warum tut das jemand?
Ersteres ist ein Alpin- bzw. Risikothema. Zweiteres ist ein juristisches Thema und wird im Einzelfall, meist nach einem Unfall, geklärt. Beides ist abhängig von den lokalen Begebenheiten. Aus der Ferne pauschal zu urteilen, es sei fahrlässig, bei Lawinenstufe 4 ins freie Gelände zu gehen, ist ein unzulässiger Schluss.
So richtig klar und anschaulich wurde es für mich am 10.1.2019, als in den meisten Teilen Nordtirols die Lawinengefahrenstufe 4 ausgegeben wurde – auch bei uns vor der Haustür. Vom Berg bis ins Tal. An diesem Tag mit Skiern ins Gelände zu gehen, wäre natürlich verwerflich gewesen und ein diesbezüglicher Post hätte vermutlich einen Shitstorm ausgelöst
An diesem Tag meine Kinder über die Wiese vor der Haustüre unterhalb des Patscherkofel in die Schule zu schicken, voll okay. Warum? Weil eben lokal keine große Gefahr bestand.

Die dritte Frage, warum jemand überhaupt das Bedürfnis hat, sich bei Lawinenwarnstufe 4 ins freie Gelände zu begeben, wäre aus einer psychologischen Perspektive interessant und somit wieder ein eigenes Thema. 

Social-Media-Verhalten

Ob es notwendig ist, an solchen Tagen das Powdererlebnis zu posten, sei dahingestellt. Natürlich ist es jedermanns und jederfraus Privatsache, die allerdings öffentlich in den digitalen Raum gestellt wird. Fakt ist, dass Posts auf sozialen Plattformen einerseits das Verhalten anderer beeinflussen (siehe unten), andererseits können auch Postings einzelner Nutzer zur pauschalierenden Beurteilung der „Wintersportler“ als Community beitragen.

Der Schnee und die davon ausgehenden Gefahren

Gerade im Tourismus ist der Schnee das weiße Gold, werden doch die Powderfotos ganzjährig transportiert: „Have fun!“ Zu viel Schnee ist dann aber nicht mehr gut. Schnell versucht man den motivierten Wintersportler bei großer Gefahrenlage zu stoppen. Die Salzburger Land Tourismus GmbH entscheidet sich daher am 11. Jänner 2019, auf Freeride-Werbefotos zu verzichten.

Es ist wenig überraschend, dass man mit diesem Alarmismus nicht sofort alle erreicht. Funktionierende Projekte im Bereich der Lawinenprävention sind immer mit einer gewissen Langfristigkeit verbunden. Daher ist durchaus (wieder) die Frage an den Tourismus berechtigt, ob man mit den traumhaften Fotos vom weißen Gold nicht das damit verbundene Risiko noch besser und langfristiger mittransportieren muss.

Wer berichtet mit welcher Motivation?

Diese Frage ist insbesondere im Zusammenhang mit der (medialen) Verantwortung für einen Beitrag von großer Bedeutung. Man muss sich darüber bewusst sein, dass alle Botschaften – egal ob wahr oder falsch, vollständig oder unvollständig oder sogar Fake News – mit ihrer ursprünglichen Botschaft in den Köpfen der Leser bleiben, auch wenn sie später korrigiert werden. Facebook als Betreiber einer sozialen Plattform sieht es nicht als seine Aufgabe, Fakten vor der Veröffentlichung zu prüfen – das ist Aufgabe des Produsers. Also lieber mal alles Veröffentlichte kritisch hinterfragen.

Die inhomogene Gruppe der Leser- und Autorschaft

(Nicht nur) die Empfänger machen Botschaften

Wie bereits in früheren (bergundsteigen)Artikeln erwähnt, weisen gerade soziale Medien das Phänomen auf, dass sich scheinbar „alle“ Menschen auf dieser Plattform treffen. Aber nicht alle verfügen über denselben Wissensstand, dasselbe Können oder dieselbe Ausbildung. In einer scheinbar homogenen Community derjenigen, die „Berg“, „Wandern“ oder „Skitouren“ als ihre Interessen angeben, trifft der „Skitouren-Erstling“ (oder in diesen Diskussionen auch Nicht-Skitourengeher) mit dem langjährig, erfahrenen Skitourengeher zusammen. Beide erhalten dieselben Informationen und dürfen zum selben Thema mitdiskutieren:

„Der Schnee ist gefährlich.“

„Super Schnee gerade.“

Die Diskrepanz dieser zwei Hauptbotschaften ist offensichtlich. Doch wer kann die (für sich) richtige Botschaft daraus ableiten?

Angry people click more.

Polarisierung, Radikalisierung. Emotionalisierung & Pauschalisierung für mehr Klicks

Das ist eigentlich der Punkt, der mich am meisten entsetzt hat – auch seitens der klassischen Medien: Die Berichterstattung und die daraus hervorgehenden Diskussionen, die furchtbar unsachlichen und mit den reißerischen Headlines gespickten Beiträge und Posts, die unzählige Clicks und Kommentare erhalten haben. 

Corinna Milborn, österreichische Journalistin und TV-Moderatorin, bezeichnet dies in ihrem Buch „Change the game“ als „Die Belohnung der Extreme“ (Breitenecker, Milborn, S. 129).

Dass Medien für mehr Reichweite Formen der Übertreibung, Polarisierung oder Emotionalisierung verwenden, das gab es schon immer. Aber was ist mit uns als Privatpersonen? Wie verdienen ja nicht mal Geld für diese Klicks. Wofür also? Damit ich als Pseudo-Experte meinen Beitrag in der Öffentlichkeit leisten kann? Damit ich dazugehöre? Weil ich somit auch Menschenleben rette?

Die schrecklichste Form, neben all der Beschimpfungen und Verurteilung der Toten und Verunfallten, war wohl das Abfotografieren und die Hetze gegen Wintersportler, die im gesperrten Terrain unterwegs waren. Die Fotos wurden ins Netz gestellt und fröhlich geteilt. Zu klären, ob hier ein Tatbestand besteht, bzw. die Verurteilung einer solchen Person wäre eine juristische Frage, aber kein Community-Thema für Social Media.

Ein schönes Beispiel der polarisierenden Berichterstattung in klassischen Medien war meiner Meinung nach die Rettung eines Hüttenwirtes per Hubschrauber. Also alle Wintersportler, die bis dato von der Bergrettung geborgen wurden, waren fahrlässig. Das Video eines Hüttenwirtes, der nicht rechtzeitig ins Tal zurückgekehrt ist und mit dem Hubschrauber ausgeflogen werden musste, erhielt aber Heldenstatus. Warum? Wer ist gut und wer ist schlecht? Wer handelt fahrlässig und wer ist ein Held?
Die Nahrung jeglicher Polarisierung sind auch hier wieder fehlende oder unvollständige Informationen.

Kommunikation von Lawinengefahr

Wie erreiche ich alle? Will ich alle erreichen?

„Allerdings muss man dazusagen, dass viele Gäste aus dem Ausland die Warnungen gar nicht zu Gesicht bekommen oder hören.“ (Gerhard Kremser, stellvertretender Bezirksleiter der Bergrettung im Pongau auf orf.at)

Wie kann man sicherstellen, dass man „einfach“ alle erreicht hat bzw. alle erreichen kann? 

Verschiedene Zielgruppen kommunizieren über verschiedene Kanäle, in unterschiedlichen Sprachen und Stilen. Darüber hinaus gibt es die oben erwähnten „Filterblase“ oder Gruppen, in die man meist nur über „Gleichgesinnte“ reinkommt. 

Setzt man es sich also zum Ziel, eine bestimmte Zielgruppe mit Informationen ausreichend versorgen zu wollen, muss man in diese Group-Kommunikation einsteigen – und zwar langfristig. So gibt es erfolgreiche Projekte mit eigener Strategie, die dies erreicht haben (siehe unten).

Kontrovers sind auch die Ansätze, ob der User mit relevanten Informationen versorgt wird (evtl. auch mit Informationen, von den er nicht wusste, dass es sie gibt) oder ob der Nutzer selbst für das Abrufen von Informationen zuständig ist.
Der avalanche.report (Lawinenwarndienst Tirol, Südtirol, Trentino) hat sich dafür entschieden, die täglichen Lawinenlageberichte nicht auf Facebook zu posten. Der ausgebildete Skitourengeher sollte über die Website Bescheid wissen und aktiv alle Informationen darüber abrufen bzw. hat die Möglichkeit, Messenger-Dienste zu abonnieren.

Medien, Zielgruppen und ihre Motivation

Auch hier vermengt sich vieles: Personen, die eventuell wenig oder keine Erfahrung beim Skitourengehen haben, vermischen sich mit Experten und vermeintlichen Experten. Betroffene, Hinterbliebene lesen mit. Weiters wird von vielen der (Un-)Wert des Katastrophenjournalimus zum Zwecke großer Leserschaften betrieben, der nichts mit fachlichem Background zu tun hat. Dieser existiert und funktioniert freilich nicht erst, seit es soziale Medien gibt.

In einem Interview auf bergundsteigen.blog bestätigt der Bergführer und Bergretter Roman Diernböck diese Beobachtung. Er bemerkt, dass in den Medien dann über die Entspannung der Lawinenlage verhältnismäßig wenig berichtet wurde.

Ein Mobilfunkanbieter und eine Versicherung haben das Thema überhaupt für kommerzielle Zwecke verwendet und unter dem Deckmantel inhaltlich relevanter Beiträge wie „Smartphone als Lebensretter“ und „Haftung bei Lawinen im alpinen Gelände“ (Werbe-)Beiträge für ihre Produkte auf sozialen Plattformen geteilt.

Ein perfekt emotionalisierendes Thema – die Lawinengefahr

Durchschnittlich sterben pro Jahr in Österreich 25 Personen in einer oder durch eine Lawine. Dem stehen 400 Verkehrstote und 8.000 Alkohol-Todesopfer im Jahr 2018 gegenüber. Trotzdem ist Skitourengehen verwerflich, am Straßenverkehr teilzunehmen bzw. Alkohol zu konsumieren hingegen ein akzeptiertes Risiko.

Der Themenbereich Lawinengefahr, -tote und -verunfallte erlangt immer wieder mehr mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit als „gleichwertige“ andere Themen.

Fakt ist – die Empörungs-Spirale 

Ist Pluralität meist ein positiv konnotiertes Wort, so scheint es in den sozialen Medien das Gegenteil zu bewirken. Hier vermisst man Empathie und Mitgefühl, hier werden Informationen nicht mehr zuordenbar, hier geht der Spaß verloren. 

Unter dem Deckmantel der Anonymität wird mit scharfen Worten sogar gegen Tote oder deren Hinterbliebene gehetzt. Hier dürfen Unwissende mit gefährlichem Halbwissen bzw. auf Basis unvollständiger Informationen ihre Meinung abgeben. Und statt diese fehlenden Informationen zu ergänzen oder auch bessere oder notwendige Ausbildungen zu proklamieren, drehen viele durch Teilen und Kommentieren fröhlich weiter an der Radikalisierungs-Spirale zwischen Schneehölle und Winterparadies, zwischen Fahrlässigkeit und coolem Powderfoto, zwischen Idioten und Helden, zwischen Lebensretter und Sich-in-Lebensgefahr-bringende-Retter.

Die Spirale hat sich bis ganz hinauf in die österreichische Bundesregierung gedreht, wo sich Bundeskanzler Sebastian Kurz „rechtliche Konsequenzen für jene, die andere Menschen außerhalb der sicheren Pisten in Gefahr bringen“, prüfen will. (Danach ist es übrigens zu dem Thema ganz ruhig in den sozialen Medien geworden. War das der klassische „Das-wollten-wir-gar-nicht-Effekt?“)

Gegipfelt hat das ganze übrigens in einem Treffen der Bundesregierung im Feber 2019 zum Thema Lawinen, wo sich eine große Mehrheit gegen eine höhere Bestrafung von Wintersportlern ausgesprochen hat.

Ausbruch aus der Machtlosigkeit dieser Debatten-Kultur

Die Social-Media-Falle, by Roman Hösel

Wir können Werteverhalten beeinflussen

Ob wir in sozialen Medien als Privatpersonen strenggenommen als Medium agieren oder nicht, sei dahingestellt. Jedenfalls agieren wir öffentlich und erreichen so eine große Menge an Leuten. Das sollte uns bewusst sein und damit sollten wir verantwortungsbewusst umgehen. 

„Tatsächlich ist die Verantwortung für öffentliche Sphäre heute auch ins Lager derjenigen diffundiert, die einst das Publikum genannt wurden.“ (Pörksen, S. 187)

Wir können Werte mitbeeinflussen – durch unsere eigenen Posts, durch das Kommentieren, Bewerten und Teilen. Somit können wir uns auch der gefühlten Machtlosigkeit gegenüber den sozialen Medien widersetzen, ebenso wie wir uns durch das gezielte Anklicken von Medien dem wahllosen bzw. von Facebook zusammengestellten Newsfeed widersetzen und somit unseren Informationsstand beeinflussen können. 

„In diesem Moment, in dem etwas einen Wert bekommt, bestimmt es unser Handeln.“ (Diefenbacher, Ullrich, S. 76)

Alleine die Mäßigung der Worte oder das Sichten, Verstehen und Verknüpfen aller verfügbaren Informationen und Standpunkte würde viel an Diskussionen ändern. Und dies braucht Zeit!

Warum kommt es so weit? Wer ist schuld? Und wie kann man es ändern?

Wie kann es so weit kommen, dass Fotos von Skitourengehern, die bei oder hinter einer Absperrung stehen, gepostet und diese Personen somit öffentlich denunziert werden? Hier gibt es verschiedene Ansätze und es ist sicher ein Zusammenspiel aus allem.

Die Plattform

Facebook & Co. ist schuld und sollte als Nachrichtenmedium agieren. Zeitungen müssen auch auf Medienethik, Wahrheiten und moralische Richtlinien achten. Facebook bezeichnet sich selbst als Portal, wird auch in Österreich (rechtlich) nicht als Nachrichtenmedium gesehen und muss sich demnach nicht an diesen Regeln orientierten und somit auch keine Verantwortung für die Beiträge seiner Autoren übernehmen (Milborn).

Der Leser

Bernhard Pörksen sieht in seinem Buch „Die große Gereiztheit“ die Notwendig von Prinzipien für eine redaktionelle Gesellschaft, „eine Ethik des Teilens, eine sensible Moral des Users, der Inhalte eben nicht gedankenlos weiterleiten, (…) womöglich Gerüchte verbreiten soll“ (Pörksen, S. 187ff.). 

Denkt man die Gesellschaft als eine redaktionelle, so muss der einzelne User in seinem Medienverhalten dieselben Prinzipien wie professionelle Journalisten einhalten.

Die Gesellschaft

Spiegelt das Kommunikationsverhalten auf Facebook nur Dynamiken einer egozentrierten, überforderten, konsumorientierten Gesellschaft wider? 

Wir haben uns mit diesen Fragen und Ansichten auch an den PR-Ethik-Rat in Österreich gewandt und folgende Antwort von der Vorsitzenden, Prof. Dr. Sabine Einwillerder, erhalten:

Aus ethischer Sicht sind sowohl der einzelne Poster, der Auftraggeber eines Postings und auch die ausführende Agentur für die Inhalte verantwortlich, die er/sie online postet/en.

„Der Österreichische Ethik-Rat für Public Relations hat Prinzipien für diesen Bereich in seinen Richtlinien zu „Kommunikationsethik in Social Media“ (vom 24. 4. 2014) definiert, der auf dem Online-Kodex des PR-Ethik-Rat basiert“.

Ethische Prinzipien für Social Media:

Fairness: „Mit kommunikativer Macht sorgsam umgehen.“

Respekt: „Die Persönlichkeit und die Meinungen der NutzerInnen respektieren.“

Verantwortung: „Als Kommunikator die Verantwortung für den Inhalt einer Aussage übernehmen. Die Verantwortung für die Dynamik in den sozialen Netzwerken verteilt sich jedoch auf alle, die daran mitwirken.“

Moderation: „Klare Richtlinien für den Diskurs vorgeben.“

Klarheit: „Regeln und Anleitungen als Orientierungshilfe für Mitarbeiter/innen eines Unternehmens definieren.“

Transparenz: „Die Rolle als Kommunikator und die Motivation offenlegen.“

Höflichkeit : „Den richtigen Ton finden.“

Privatsphäre: „Persönliches als persönlich behandeln, Vertrauliches als vertraulich.“

Bis auf Regel 5 und 6, die eher eine Agentur oder Auftraggeber betreffen, können alle anderen für den privaten User übernommen werden.

Rechtliche Punkte 

„Aus rechtlicher Sicht ist der Einzelne übrigens ebenfalls verantwortlich, sollte es sich um eine strafbare Kommunikation handeln. So z.B. beim Straftatbestand der Volksverhetzung (§283 StGB), der – auch wenn online getätigt – strafbar ist“. Das impliziert auch Hasspostings und Beschimpfungen im Netz. Hinzu kommen noch weitere Punkte wie z.B. Persönlichkeitsrechte, die u.a. beim „Recht am eigenen Bild“ greifen. 

Wie die unten angeführten Beispiele belegen, sorgt eine gute Kommunikation in den sozialen Medien nicht nur für eine sinnvolle Informationsverbreitung, sondern spielt auch für die Präventionsarbeit – nicht nur im alpinen Gelände – eine wichtige Rolle.

Endnoten & Verweise

1) Der Begriff der „Empörungsdemokratie“ wurde von Bernhard Pörksen in seinem Buch „Die große Gereiztheit“ geprägt, als Merkmal unserer digitalen Gesellschaft.

2) Die ehemals klare Unterscheidung zwischen Produzenten und Usern von digitalem Content wurde somit aufgehoben. User produzieren und publizieren Content gleichermaßen und sind somit Produser. Ein von Axel Bruns geprägter Begriff.

Literaturverzeichnis

Digitale Depression. Wie neue Medien unser Glücksempfinden verändern. Sarah Diefenbach, Daniel Ullrich. mvgverlag, München 2016.

Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft. Paul Verhaeghe. Verlag Antje Kunstmann, München 2012.

Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. Bernhard Pörksen. Carl Hanser Verlag, München 2018.

Change the Game – Wie wir uns das Netz von Facebook und Google zurückerobern. Markus Breitenecker, Corinna Milborn. Brandstätter Verlag, Wien 2018. 

Erschienen in der
Ausgabe #108 (Herbst 19)