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04. Okt 2019 - 18 min Lesezeit

Beating the amputation with a smile

Lächelnd die Amputation meistern
Ops, autsch … und schon rumpelt es unter den Füssen. Steine rollen und ich sehe den Morteratschgletscher auf den Kopf gestellt. Die Folge sind ein paar Abschürfungen und eine verdrehte Prothese, die irgendwo feststeckt. Mit geübtem Handgriff und einem Schraubenschlüssel trenne ich die Prothese vom Schaft, kann mich aufdrehen und hinsetzen, sodass ich den Gletscher wieder so sehe wie er sein sollte. Es war nur eine kleine Unachtsamkeit und die Krücken sind auf der felsigen Moräne weggerutscht. „Die Prothese zu wenig belastet, den Fuss zu weit vorne aufgesetzt“, geht mir durch den Kopf. Das Abschütteln wie ein Hund bringt mein Grinsen wieder zum Vorschein. Ich schaue mich um und das Bewusstsein, es überhaupt zu wagen, hier alleine unterwegs zu sein, stärkt mich – ein zufriedenes Gefühl, trotz der inneren Ermahnung „Get a Grip! Und konzentriere dich besser!“ Solche Situationen sind beim Bergsteigen mit (m)einer Beinprothese eigentlich selten. Aber es gibt sie.

Wenn er sich frühmorgens mit seinem Hund Kayha und montierter Prothese zu einer Tour aufmacht, durch die von Tau bedeckten Wiesen läuft und die winzigen, von der Sonne beschienen Tröpfchen wie kleine Diamanten scheinen, dann ist Reto mit sich und der Welt im Reinen. Die Natur im Allgemeinen und der Bergsport sowieso zaubern ihm immer noch ein Lächeln ins Gesicht. Diese Leidenschaft hat den 63-jährigen Bergführer schon in jungen Jahren gepackt. Nicht nur die Gipfel, sondern vielmehr die kleinen unscheinbaren Dinge beim Aufstieg sind das, was er schätzt – oder besser: zu schätzen gelernt hat. Denn die Prothese am linken Bein, vom Oberschenkel abwärts und ein künstliches Kniegelenk mit verkürzter Patellasehne am rechten Bein haben sein Leben verändert.

Die Gewissheit, dass ich mein Bein verlieren werde

Seit 16 Jahren trägt Rey, wie ihn seine Freunde nennen, eine Prothese. In den 80er-Jahren verunfallte der Schweiz-Kanadier bei einer Tour im Himalaya und die Amputation ist eine Spätfolge davon: „Man ha mir damals schon gesagt, dass ich mein Bein eines Tages amputieren lassen muss …“.

Eine ungewöhnliche Gewissheit, die ihn lange begleitet hat. Denn nach dem Unfall hatte Rey das Glück, mit seinem verletzten Bein noch 15 Jahre als Bergführer arbeiten zu können, wobei er sich vor allem in Canada verwirklichen konnte. Beim Heliskiing und Skitourengehen konnte er diesen wunderbaren Beruf noch weiter ausüben, auch wenn die Probleme mit dem linken Bein zunehmend größer wurden – doch manchmal vergass Rey fast, was ihm hier noch bevorstand. Die Venen verhinderten die Amputation noch einige Zeit, aber im Winter 2003 war der Fuss so geschwollen, dass er nur mit einer Wollsocke, aber ohne Innenschuh in den Skischuh passte. Rey fragte sich, ob und wie er später mit einer Prothese unterwegs sein kann, doch meist versuchte er diese Gedanken wegzudrängen: „Ich lebe einfach die Zeit aus, die mir bleibt“.

Bill Eagle Eye

In Canada hatte Rey bald einen Indianer als Freund, der zu seinem Mentor wurde und ihn in die Geheimnisse der schamanischen Denkweise einführte. Oft waren sie mit dem Kanu am Fluss unterwegs und führten lange Gespräche. Er hat Rey gelehrt, sich vom rein irdischen Denken zu lösen und stets mit dem zufrieden zu sein, was man hat. Bill ist immer wieder in der Kunstschreinerei „Log Yeti“, die Rey schon seit den 1990er-Jahren betrieb, aufgetaucht und hat ihn aufgefordert zusammenzupacken, um auf gemeinsame Kanutour zu gehen. Die Antwort von Bill auf den regelmässigen Einwand von Rey „Leider keine Zeit – zuviel zu tun!“, war stets dieselbe: „Die Seele ist wichtiger als die Arbeit.“ So landeten sie im Sommer immer wieder auf dem Fluss …

Amputation

Mai 2003, ein Tag vor der Amputation. Rey hatte die Operation so lange wie möglich hinausgezögert, war noch bis im April auf den Skiern gestanden und hatte jeden Schwung ausgekostet. Doch in den Venen hatten sich Blutgerinnsel gebildet und das Bein war ohne mögliche kritische Konsequenzen nicht mehr länger erhaltbar. „Du verlierst nicht, du gewinnst etwas“, meinte Bill während einer Kanutour und sprach von Erfahrung, Stärke und Erkenntnis – die Rey damals noch nicht hatte. Aber auf diesem Trip wurde aus Angst Akzeptanz.

Mich wieder erleben

Nach der OP bekam Rey die erste Prothese und das Lernen ging los. Im Kopf war er schon wieder am Berg, im Körper war er wie ein Kleinkind ohne Geduld. Es folgten Stürze, blaue Flecken und Momente der Verzweiflung: wenn die Phantomschmerzen den Körper durchzuckten oder der Gleichgewichtssinn auf einmal ausblieb. Doch Rey liess sich nicht entmutigen. Er bastelte sich eine Kletterprothese und bestieg damit gemeinsam mit Freunden den Ha-Ling Peak in Canmore/Alberta/Canada. Diese „Bergführer-Freunde“ liessen ihn nicht sitzen, sondern holten ihn für Touren ab und halfen ihm ebenso wie Bill, mit den neuen Situation fertigzuwerden und die alte Passion weiterzuleben.

Das Klettern am Ha-Ling Peak ging erstaunlich gut und war Balsam für Reys Seele. Der folgende Abstieg wurde aber zu einer harten Lektion: Erstmals mit der Prothese und nur einem Stock hinunter über gerölliges Gelände– normalerweise dauert der Abstieg vom Gipfel, den sie zu Mittag erreicht hatten, zwei Stunden; Rey erreichte das Auto erst im Dunkeln. Doch aus solchen Erfahrungen lernt man.

Klettern am Hau Ling Peak Canada 2004. Ein Jahr nach der Amputation mit der Kletter- Prothese 2004 am Ha-Ling Peak/Canadien Rockies. Foto: Kirsten Knechtl

Was alles möglich wurde

Während eines Urlaubs in der Schweiz riss sich Rey 2007 das Kreuzband und wurde „am guten Bein“ im Spital operiert. Alles verlief problemlos, bis einige Wochen später eine Infektion auftrat und erneut Durchhaltewillen und innere Ruhe gefordert waren – denn dieser Infekt hätte ihn fast aus der Bahn geworfen. Da Rey inzwischen geschieden war und seine zwei Töchter, die ebenso für die Berge leben, bereits ihre Berufsausbildungen machten, hatte er keine Eile, nach Canada zurückzukehren und konnte sich ganz auf die Heilung konzentrieren. Doch durch den Infekt kam es zur Arthrose und vier Jahre später folgte schliesslich ein künstliches Kniegelenk ohne Kniescheibe und mit verkürzter Patellasehne. Erneut folgten Reha und Aufbauarbeit und nur durch den Einsatz der Ärzte und Reys Willens- stärke kann er sein Bein heute wieder ein- setzen. Damals musste Rey hart kämpfen, um seine Zufriedenheit nicht zu verlieren.

Ein Bein amputiert zu bekommen ist das eine, dann aber das andere nicht mehr benützen zu können, das andere. „Sei nicht enttäuscht darüber, was du nicht erreichst, erfreue dich daran, was möglich ist“, waren dazu die Worte von Bill. Seine Lebenspartnerin Rea, die Tochter der Schweizer Bergsteigerinnenpionierin Ruth Steinmann, hat einen riesigen Anteil an Reys Wiederein- oder besser -aufstieg in der Bergwelt. Oft hat sie sein Bein – wenn auch nur aus Metall- aus dem Schnee gezogen, ihn unermüdlich motiviert und unterstützt.

Prothesen und Berg

Wenn man mit einer mechanischen Oberschenkelprothese einen Berg hinaufsteigt, ist man langsam und oft unsicher unterwegs; beim Abwärtsgehen, wenn die Schritte bzw. „Stufen“ zu gross werden, fühlt man sich wie auf einem Zahnstocher mit einem Türscharnier. Deshalb haben die meisten Prothesen auch eine Dämpfung, die das Knie bis zu einem gewissen Grad zurückhält. Ab einer Kniebeugung von über 30 Grad klappt es aber ein und ist mit einer Feder, die etwas nachgibt, auf 90 Grad fixiert. Deswegen kann man beim Aufstieg je nach Steilheit den „Prothesenfuss“ nur etwa 20 bis 30 Zentimeter vor das Standbein bringen. Es geht also nur langsam, jedoch mit etwas Technik und viel Übung alles in allem erstaunlich gut den Berg hinauf. Rey hat gelernt, mit normalen Skistöcken den Berg hinauf- und mit Unterarm-Krücken wieder herunterzukommen. Mit viel Training und entsprechender Konzentration kommen Stolperer nur noch selten vor. Später hat er dann eine Computer-Prothese bekommen, mit der das Bergsteigen wesentlich leichter geworden ist. Im Gegensatz zum Rucksack: weil diese Prothese nach maximal drei Tagen wieder aufgeladen werden muss, ist seitdem ein Powerpack mit dabei und dazu Reparatur-/Reservematerial wie Schraubenschlüssel, Tape, Ersatzschrauben und als Backup die mechanische Prothese, was alles in allem viereinhalb Kilogramm Mehrgewicht bedeutet. Zusammen mit den Unterarmkrücken für den Abstieg wird dann schnell die Fünf-Kilo-Marke überschritten, sodass am Ende meist ein Zehn-Kilo-Ruck- sack herauskommt.

Freude: Grundstein für mentale Stärke

Als körperbeeinträchtigter Sportler sind der Aufbau und das Training der mentalen Stärke ebenso wichtig wie jene der Grundkondition. Nein, eigentlich wichtiger. Denn ohne Zielfokusierung, Frustrationstoleranz, Willensstärke und vor allem der Überzeugung von den eigenen Fähigkeiten geht gar nichts. Zusätzlich muss die Freude an der geplanten Tour so gross sein, dass alleine der Gedanke daran einen die Bewegungen im Körper spüren lässt. Seine Erwartungen sind Reys wichtigster Sparringspartner: oft zu hoch oder zu niedrig und oft so realistisch, dass umgeplant werden muss. Freude und mentale Stärke sind die besten Freunde, denn die mentale Stärke ist die Fähigkeit, sich ungeachtet der Bedingungen an seine oberen Leistungsgrenzen zu bewegen, was eben Freude auslöst und der Antrieb für „Gutes“ ist. Ohne diese mentale Stärke, die sich Rey aneignen musste – oder vielmehr durfte – wäre vieles nicht möglich gewesen. Misserfolge und Emotionen haben in seinem (Bergsteiger-)Leben heute eben-so viel Platz, wie das Annehmen von Veränderungen.

Probleme mit der Elektronik der Prothese 2016 an der Kleinen Zinne. Foto: Daniel Rogger

Bergtouren, um andern Mut zu machen

Nach Touren in der näheren Umgebung rücken bald höhere Berge und andere Gebirge in den Fokus. So geht es auch in die Dolomiten, wo nicht nur wunderschöne Wanderungen gemacht werden, sondern auch die Kleine Zinne versucht wird. Dort, mitten in der Kletterei dann plötzlich ein „Biep-Biep- Biep“ und der Computer der Prothese ist im Error-Modus. Ups, wow – und was jetzt? Nach einer Weile ist klar, dass Rey auf seine Ersatz-Prothese wechseln und mit ihr weiter muss. Das geht nicht mehr mit so flüssigen Bewegungen, da das Knie immer wieder zu schnell biegt, wenn das Bein hochgezogen wird. Etwas Frustration und Enttäuschung schleichen sich im Kopf ein, doch: „Mit einem Wimpernschlag kann sich alles ändern – so liebe das Jetzt mit deinem Herzen, vielleicht kommt dieselbe Chance nie wieder.“ Mit diesen Gedanken kommt auch Reys Motivation zurück und er ist dankbar, dort sein zu können, wo er gerade ist – im Anstieg zur Zinne. Sein Lächeln beim Abseilen zeigt auch den anderen Kletterern, wie überglücklich er ist, hier unterwegs zu sein und wieder etwas geschafft zu haben. Für Rey wäre es nur noch schöner, wenn er diese Momente und Erfahrungen mit „Gleichgesinnten“ teilen könnte, wobei er damit körperbehinderte Menschen meint, welche von derselben Leidenschaft für die Berge infiziert sind.

„Meine Passion fürs Bergsteigen habe ich mir nicht ausgesucht“, sagt Rey, „sie hat mich ohne Grund gefunden, ohne dass ich Einfluss darauf hatte. Passion ist, wo deine Seele ein Zuhause gefunden hat.“

Im Abstieg vom Pazolastock/Graubünden (2015). Foto: Rea Steinmann
Abseilen an den Zinnen 2016. Foto: D. Rogger
Mit Ski-Strap als Patellasehen-Ersatz beim Langlauftraining für die Ost-Grön- land Expedition (2017). Foto: Rea Steinmann

Langlaufen und Skitouren im Click-Clack-Mode

Wenn nach den Sommermonaten der Schnee vor der Haustüre liegt, dann kommt der Drang nach dem Skitourengehen wie- der. Mit seiner Prothese ist das für Rey wie- der eine neue Herausforderung. Je nach verwendetem Material ist der Ski zu schwer, um das Bein beim Aufsteigen nach dem Abstossen zurückzuholen und dann noch mit gebeugtem Knie weiter nach vorne zu schieben. Nach dem Studieren dieses Bewegungsablaufes ist dann die Idee geboren, mit einem G3-Skistrap (stabiles, elastisches Polyurethan-Band) eine Patellasehne „nachzubauen“. Diese Idee hat Reys Leben revolutioniert. Nicht nur beim Skitourengehen, sondern auch beim Klettern taten sich auf einmal neue Möglichkeiten auf, um an sein früheres Leben anschliessen zu können. Mit diesem Band kann er länger in gebeugter Stellung auf dem Ski stehen und bei Entlastung schnellt das Bein mit dem Ski – je nach Einstellung und Stärke – wieder zurück; auch bei der Abfahrt hilft dieses Band, einen entsprechenden Wiederstand in den Schwüngen aufbauen zu können. Aber erst nach vielen Stürzen und noch mehr frustrieren- den Momenten konnte Rey die ersten Ski- touren auch wirklich geniessen. Nachdem sie funktionierte, ging es nun darum, das Gewicht dieser „Sehnen-Konstruktion“ zu reduzieren, denn eine Prothese, deren Schaft mittels Vakuums am Oberschenkel hält, ist nur bedingt zusätzlich belastbar. Rey hat fast eineinhalb Kilo gewonnen, indem er den Skischuh aufgeschnitten hat und eine notwendige Fussfeder dort direkt mit Bolzen und Schlauch- klemmen befestigt hat – Angst vor kalten Füssen musste er ja keine haben. Der Nach- teil war, dass man nun während des ganzen Aufstieges von einem „Click-Clack“-Geräusch begleitet wird. Mit diesem System wurden auch Langlauftouren bis 30 km möglich, was für Rey ein ideales Aufbautraining für weitere Skitouren war.

Wieder auf Expedition

Der Wunsch einmal in Grönland eine Expedition zu machen, war bei Rey schon lange da. So begann er mit seiner Kollegin Katharina Duciaova, mit der er in Kanada schon oft am Berg war, eine erste „Beinprothesen-Expedition“ in Ost-Grönland zu organisieren. Die Vorbereitungen waren intensiv, denn Rey hatte nach der Amputation noch nie einen Pulka gezogen. Auch wie sich die Prothese verhält, wenn sie knapp drei Wochen in Schnee und Eis unterwegs ist, wie sie auf- geladen wird, uvm. musste herausgefunden werden. Nach diversen Trockenübungen machte er sich am Lukmanierpass in Graubünden an das erste Grönland-Training in der Praxis. Das Ziehen des Schlittens war strenger als erwartet, aber machbar, und alles verlief zunächst nach Plan. Nachdem er das Zelt bei Sturm und Kälte problemlos aufbauen konnte, verbrachte er eine gute Nacht und auch der nächste Morgen begrüsste Rey mit Windböen und Schneefall. Raus aus Schlafsack und Zelt und erst ein- mal die Prothese montieren, d.h. Hose runter in den Schnee und den kalten Stumpen einziehen und ups – schon fällt ein Verschluss in den Schnee, der blöderweise eine weisse Farbe hat. Also suchen, nach fünf Minuten finden, aber solange mit her- untergelassener Hose im Wind und dann passt endlich alles und hoch mit der Hose. In dieser hat sich inzwischen natürlich Schnee angesammelt und der muss aus- geschüttelt werden und am Schluss bleibt ein saukaltes Hinterteil übrig. „Lache bedingungslos und bedauere nie etwas, das dich zum Lächeln gebracht hat!“, so wurde Reys Allerwertester wieder warm. Nach dieser Trainingstour wurden nicht nur die Hosen geändert (einfach ein Seitenreissverschluss rein), sondern zahlreiche Details optimiert und angepasst. Im März 2017 wurde der langgehegte Traum wahr und sechs Teamkollegen und Rey starteten zu ihrer Expedition in Ost-Grönland. Auf breiten Langlaufskiern glitten sie 16 Tage durch die zauber- hafte Schnee- und Eislandschaft, jeder zog einen 45 Kilogramm schweren Schlitten, sie überquerten Fjorde und Gletscher, über- nachteten bei zweistelligen Minustemperaturen und seine Prothese hinderte auch Rey nicht daran, diese 150 Kilometer zurückzulegen. Von seinen Teamkollegen wollte und bekam er keine Sonderbehandlung. Auch wenn er bei den bis zu acht Stunden langen Tagesetappen ca. 60 % mehr Energie benötigte, schaufelte er wie alle anderen auch Schneewände als Windschutz für die Zelte, bevor es ans Ausruhen ging. Dafür hatte er ja auch monatelang trainiert und obwohl der Aufwand und die Vorbereitungen gross waren, haben sie sich für Rey gelohnt: „Diese Expedition war eines der wichtigsten Erlebnisse in meiner Karriere. Ich fühle mich eins mit der Natur und mit mir im Reinen.“

Neue Wege: Para Swiss Alp Traverse

Anderen Menschen Mut zu machen, die sich in derselben oder einer ähnlichen Situation befinden, wurde zu Reys Lebensaufgabe. Weil es aber gar nicht so einfach ist, diese Menschen zu erreichen, um Erlebnisse und Emotionen zu teilen oder noch besser, sie für – idealerweise gemeinsame – Aktivitäten am Berg zu motivieren, entstand die Idee, alle von Reys Outdoor-Aktivitäten in einer Traverse zu kombinieren. Dank einer neuen Prothese und dem Freund und Techniker Simon-David war es Rey wie- der möglich Fahrrad zu fahren: bei einem Grillnachmittag begannen sie herumzubasteln und experimentierten mit einem verkürzten Pedal. Das System funktionierte und seitdem ist Rey mit seiner Prothese auch auf dem Velo unterwegs; nach dem entsprechenden Training ging es damit auch wieder den Berg hinauf. 

Der Plan war nun, mit der normalen Alltagsprothese zehn Tage lang die Schweiz zu Fuss, mit dem Fahrrad und dem Kanu zu durchqueren und dabei von anderen körper- behinderten Menschen an einigen Tagesetappen begleitet zu werden: 368 Kilometer und 13.000 Höhenmeter durch die Alpen. Wiederum hieß es trainieren, herumbasteln und modifizieren und bald wurde klar, dass er für dieses Projekt die Unterstützung von Partnern benötigte. Dabei war der Wechsel auf ein E-Mountainbike der grösste Schritt zur Machbarkeit dieser Idee (an dieser Stelle Dank an alle beteiligten Freunde sowie an Thömus, Plussport, Össur, Pro Cap und Exped). Im Juli 2018 startete Rey in Brissago/Tessin diese noch nie gemachte Traverse, die ihn über die Tessiner-, Bündner- und-Glarner Alpen bis zum Bodensee führt. Wie geplant begleiten ihn Freunde und Gleichgesinnte auf seinen Tagesetappen, die voll von Erlebnissen und Zwischen fällen aller Art sind, die zu erzählen aber den Rahmen dieses Beitrages sprengen würden. Der Moment, als er nach einem langen Tag die Cadlimohütte/ Tessin erreichte, ist ihm eindrücklich in Erinnerung geblieben: „Am Abend in der Hütte, kommt ein Gefühl wie früher auf. Ich bin kein Behinderter mehr, sondern auf gleicher Augenhöhe mit den anderen Menschen hier am Berg.“

Prothesen break down im Val Viola/ Graubünden 2018. Foto: Rea Steinmann
Rey auf Kulusuk Island/Sermersooq in Grönland (2017). Foto: Kat Duciavia

Wieder der Alte sein oder doch nicht

Ein „normales“ Leben führen mit den ganzen angenehmen Kleinigkeiten wie, sich am Morgen nicht mit dem Sockenanziehen ab- plagen, weil man zu einem Fuss kaum hin- unterkommt, am Abend keinen Prothesenschaft reinigen müssen, der – naja – richtig stinkt usw. hat natürlich seinen Reiz. „Durch meine Behinderung habe ich bis jetzt viele Erlebnisse und Erfahrungen gesammelt, von denen ich sicher bin, dass ich sie ohne Prothese nie machen hätte können,“ sagt Rey heute, nicht ohne klar zu stellen: „Natürlich ist es damit im Alltagsleben oft schwierig, da man sozial auf einer anderen Ebene steht. Auch bin ich nicht nur am Berg, sondern überall langsamer und vieles ist komplizierter.“ Rey erzählt weiter, dass er immer wieder gefragt wird, ob er seine Beine wie- der zurückhaben möchte, so wie früher. Seine Antwort darauf lautet: „Nein, denn ich bin als Mensch gereift und meine Karriere wurde in den letzten Jahren positiv von dem Wiedererlangen meiner Selbstständigkeit und der damit verbundenen extremen Freude geprägt und geschult. Ich kann heute noch mehr weitergeben und schulen, als in meiner besten Zeit als Bergführer. Das habe ich dieser, nicht immer einfachen, aber grossen Lebenserfahrung zu verdanken.“

Nächste Projekte

Diesen Sommer stehen Piz Palü und Piz Badile ganz oben auf der Wunschliste und im Frühling 2020 ist geplant, mit einer Gruppe Körperbehinderter Spitzbergen von Ost nach West zu durchqueren. Doch der größ- te Wunsch von Rey ist es, Gleichgesinnte zu finden, die Freude haben, sich am Berg zu versuchen. Bis heute hatte er leider noch keinen Erfolg, Menschen kennenzulernen, die sich tatsächlich öfter bzw. regelmäßig mal am Berg bewegen. Sein Wissen, wie man mit Körperhinderung bergsteigen kann, würde der Bergführer Rey „Reto“ Keller jederzeit gerne weitergeben.

Der Schweizer Rey „Reto“ Keller ist 1988 nach Canada ausgewandert und hat sich dort als Bergführer, Schnee-/Lawinenexperte, Safety-Manager, Mentor und Kunstschreiner einen Namen gemacht. Aufgrund einer Knieverletzung 1986 wurde ihm 2003 ein Oberschenkel amputiert. www.reykeller.ch

Rey’s Markenzeichen. Foto: Rey Keller

Amputation und dann …

von Simon-David König, Orthopädietechniker

Hauptursache für eine Bein-Amputation (lat. „ringsherum abschneiden“/ambi= herum; putare=beschneiden, reinigen, puten) ist die periphere arterielle Verschlusserkrankung (pAVK) mit über 95 % (davon ca. 70 % mit Diabetes Mellitus); lediglich 4 % der Amputationen sind auf ein Trauma (Unfall) zurückzuführen. Nach jeder Amputation muss sich der Organismus grundsätzlich neu organisieren und strukturieren. Dies fängt bei der Psyche an und hört bei den neuen physischen Herausforderungen auf. Je nach Amputationshöhen hat dies grundlegende Auswirkungen auf die neue Lebenssituation und die anschließende prothetische Versorgung. Je weiter oben eine Beinamputation erfolgt, umso intensiver wird die Rehabilitation. Das heißt, dass in der Regel Unterschenkelamputierte einfacher zu rehabilitieren sind und bessere Aussichten auf eine höhere Mobilitätsklasse haben als Hüftexartikulierte. Auch der notwendige Energieaufwand steigt mit zunehmender Amputationshöhe. So hat ein Oberschenkelamputierter im Vergleich 60 % mehr zu leisten, als jemand mit der gleichen Konstitution, aber ohne eine Amputation. Grund dafür ist die nicht mehr vorhandene gelenksübergreifend agierende Muskulatur (z.B. Ober- zu Unterschenkel). Je mehr Gelenksebenen nach einer Amputation prothetisch wiederhergestellt wer- den sollen, desto komplexer wird die Versorgung. Heute ermöglichen Materialien wie Carbonfasern und die verfügbare Elektronik, dass sich Menschen mit Amputationen im Alltag wieder in einem gewissen Maß bewegen können.

Aus wissenschaftlicher Sicht kann zum jetzigen Zeitpunkt aber nicht eindeutig bewertet werden, ob z.B. die Prothese eines Spitzenathleten auf Weltklasseniveau beim Weitsprung einen Gesamtvorteil bringt oder nicht. So entspricht laut einer Untersuchung z.B. die Energierückgabe eines erhaltenen Fusses (mit Band-, Sehnen-, Muskelstrukturen und Knochen) über 240 % im Vergleich zu einem Fuss aus Carbonfaser (max. 95 %). Dieser Wert variiert jedoch stark in Abhängigkeit vom Fussmodel bzw. dessen Konstruktionsweise. Mit einem mikroprozessorgesteuerten Kniegelenk werden durch die Elektronik und die entsprechenden Algorithmen zumindest die Aufgaben von „Wahrnehmen, Denken und Handeln“ künstlich wiederhergestellt. Die meisten elektronischen Kniegelenke reagieren jedoch nur auf die „Wahrnehmung“, d.h. auf durch Sensoren ermittelte Daten und agieren dann. Ein mechanisches Kniegelenk kann dies nicht und adaptiert sich somit auch nicht an die jeweilige Situation. Bei einem mechanischen Kniegelenk muss man somit noch achtsamer sein und sich somit mental noch stärker anstrengen.

Weitere Infos zum Thema Amputation und Prothese findest du auf www.stolperstein.com

 

Erschienen in der
Ausgabe #108 (Herbst 19)