SLF-Winterrückblick 2019/20
So fassen Jürg Trachsel, Christoph Marty und Frank Techel – die Autoren dieses „Winterflash“ – den vergangenen Winter bis zum 31. März 2020 zusammen. Das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos bringt jedes Jahr neben den Wochenberichten am Ende der Saison einen solchen Winterrückblick heraus, der hier bis 2002/03 abgerufen werden kann.
Headerfoto oben: Der Regen am Heiligabend bis auf über 2.000 m prägte das Erscheinungsbild der Schneeoberfläche in La Léchère (1.442 m, Finhaut, VS). Foto: J.-L. Lugon/25.12.2019
Zusammenfassung
Auf einen vielversprechenden Winterbeginn im November mit Rekordschneefällen im Süden folgten sehr warme Wintermonate: Von November bis März wurde von MeteoSchweiz die zweitwärmste Periode seit Messbeginn 1864 verzeichnet. Mehrmalige Regenfälle bis über 2.000 m und intensive Winterstürme führten zu sehr unterschiedlichen Schichteigenschaften auf kleinem Raum und verhinderten ein stärkeres Anwachsen der Schneehöhen. In den inneralpinen Gebieten waren wiederholt Schwachschichten im Altschnee vorhanden, was teils zu ungünstigen Verhältnissen für Wintersportler führte.
Auf die Grossschneefälle vor Weihnachten mit kritischer Lawinensituation folgte im sonnigen und niederschlagsarmen Januar eine mehrwöchig günstige Lawinensituation. Diese endete mit intensivem Regen und Schneesturm, begleitet von einer hohen Aktivität nasser und trockener Lawinen, Ende Januar. Auf der Alpensüdseite und im Engadin hingegen blieb es bis Ende Februar mehrheitlich trocken. Anfang März gab der Winter ein weiteres Comeback: Mit Neuschnee, Sturm und auch intensivem Regen entstand die dritte markante Lawinenperiode des Winters. Der restliche März war wiederum sonnig und mild. Die Corona-Pandemie führte am Freitag, 13. März, zum abrupten Ende der Skisaison.
Bis Ende März wurden 112 Schadenlawinen mit Personen- und Sachschäden gemeldet, was deutlich weniger ist als sonst bis um diese Jahreszeit. Insgesamt starben fünf Personen in Lawinen. Dies liegt weit unter dem langjährigen Mittel von 18 Todesopfern bis Ende März.
Typische Aspekte des Winters 2019/20
Vielversprechender Winterbeginn
Warm und nass zeigte sich der Oktober, entsprechend schneite es im Hochgebirge viel. Am Ende des Monats lag dort bereits viel Schnee, unterhalb von 2.500 m dagegen war es praktisch überall aper. Im November schneite es im Süden ergiebig und es wurden rekordhohe November-Neuschneesummen gemessen. Mit den wiederholten Starkschneefällen gingen bereits sehr grosse Lawinen nieder. Ende November waren die Schneehöhen im Westen sowie am Alpenhauptkamm und südlich davon stark überdurchschnittlich.
Zwei Grossschneefälle vor Weihnachten
In den Tagen vor Weihnachten schneite es zuerst im Süden, danach im Westen und am gesamten Alpennordhang intensiv. Mit den grossen Neuschneemengen und starkem Wind stieg die Lawinengefahr gebietsweise kurzzeitig auf Stufe 4 (gross) an. Es wurden zahlreiche grosse und teils auch sehr grosse Lawinen beobachtet.
Sonniger und rekordtrockener Januar
Der Januar war geprägt von viel Sonne und milden Temperaturen. Im Mittel wurde weniger als 10 cm Neuschnee pro Messstation registriert (Auswertung von 130 Stationen von SLF und MeteoSchweiz, 29. Dezember 2019 bis 27. Januar 2020). Die Lawinengefahr nahm rasch ab auf Stufe 1 (gering) – eine seltene Lawinensituation für den Hochwinter. Da insbesondere in hohen Lagen genügend Schnee lag, herrschten dort optimale Bedingungen für Skitouren. In mittleren und tiefen Lagen blieb die Schneelage kritisch, dafür gefroren, wenn auch eher spät, die Seen in den Alpentälern und bildeten fantastisches Schwarzeis.
Sturm und Regen bis in hohe Lagen im Februar
Anfang Februar löste Regen bis 2.400 m viele Nass- und Gleitschneelawinen aus. Darauf folgte fast nahtlos ein Sturm mit Schnee bis in tiefe Lagen. Beide Ereignisse sorgten im Westen und im Norden gebietsweise für grosse Lawinengefahr (Stufe 4). Es gingen zahlreiche mittlere und grosse, vereinzelt auch sehr grosse nasse, aber auch trockene Lawinen ab. Durch den starken Regen nahmen die Schneehöhen in tiefen und mittleren Lagen ab. Der restliche Februar war geprägt von wechselhaftem Wetter mit wiederholten Schneefällen. Bis zum Monatsende hin beruhigte sich die Lawinensituation zunehmend.
Winter-Comeback Anfang März
Anfang März schneite es wiederholt und teils intensiv. Die Schneefälle waren begleitet von stürmischen Winden. Am Ende der Niederschlagsperiode regnete es aber bis gegen 2.400 m. Die Folge waren mehrere Lawinenperioden mit meist trockenen und gegen Ende mit vielen nassen Lawinen. Der 11. März verzeichnete die höchste Lawinenaktivität des Winters mit einem hohen Anteil an Nassschneelawinen. Danach war der März sehr sonnig und mild.
In der Nacht auf Dienstag, 03.03.2020, fiel auf der Alpensüdseite viel Schnee. Dieser wurde intensiv durch den Wind verfrachtet. Auf dem Bild sind grosse Windfahnen am Gazzirola 2.115 m bei Lugano (TI) zu sehen. Foto: L. Silvanti/03.03.2020
Lawinenauslösungen im Altschnee
Bei längeren Schönwetterperioden können sich die oberflächennahen Schneeschichten zu einer schwachen Schicht umwandeln. Wird diese schwache Oberfläche eingeschneit, kann sie über Wochen störanfällig bleiben und Lawinen können dort anbrechen. Solche eingeschneiten Schwachschichten werden als „Altschneeproblem“ bezeichnet. Lawinen, die in diesem schwachen Altschnee anbrechen, werden häufig besonders gross.
Das erste Mal in diesem Winter trat ein Altschneeproblem im Dezember in den inneralpinen Gebieten des Wallis und Graubündens auf. Mit der Überlast des Neuschnees zu Weihnachten lösten sich zahlreiche Lawinen bodennah im Altschnee und rissen die gesamte Schneedecke mit. Während der Schönwetterperiode im Januar stabilisierte sich die Schneedecke dann zunehmend, gleichzeitig wandelte sich der oberflächennahe Schnee erneut um: Mit dem Neuschnee von Anfang Februar wurde dieser zu einer Schwachschicht, in der sich verbreitet Lawinen lösten. Vor allem im Osten der Schweiz hielt dieses Altschneeproblem über mehrere Wochen an. So wurden auch Mitte März noch Lawinenauslösungen in diesem schwachen Altschnee beobachtet.
Nass- und Gleitschneelawinen
Anfang Januar war die Gefahr von trockenen Lawinen gering, die Hauptgefahr ging von Gleitschneelawinen aus. Deren Aktivität war aber, wie im gesamten Winter, kleiner als in den zwei vorangegangenen Wintern. Dies ist vor allem auf die weniger mächtige Schneedecke zurückzuführen. Auch die Aktivität von Nassschneelawinen war bis Ende März eher klein. Abgesehen von den niederschlagsbedingten Lawinenperioden, die zuvor beschrieben wurden, gab es keine grösseren Perioden mit Nassschneelawinen.
Klimatologische Einordnung
Die Wintermonate November bis März waren geprägt von teilweise rekordwarmen Temperaturen und mehrheitlich überdurchschnittlichen Niederschlagsmengen: Diese Konstellation führte dazu, dass unterhalb von 1.000 m die Niederschläge zum grössten Teil als Regen statt Schnee fielen und der wenige Schnee höchstens ein paar Stunden oder Tage liegen blieb. Basierend auf der mittleren Schneehöhe führte dies in diesem Höhenbereich zum schneeärmsten Winter seit Messbeginn, knapp vor dem Winter 1989/90, aber klar vor dem Winter 2006/07. An mehreren Stationen wie z.B. Marsens, FR (718 m), Einsiedeln, SZ (910 m) oder Elm, GL (965 m) wurden noch nie so wenige Schneetage (Tage mit mindestens 1 cm Schnee) wie in diesem Winter beobachtet.
Zwischen 1.000 m und 1.700 m waren die Schneehöhen fast überall die meiste Zeit unterdurchschnittlich (10 % bis 90 %). Am westlichen und zentralen Alpennordhang waren die mittleren Schneehöhen auch oberhalb von 1.700 m unterdurchschnittlich, am östlichen Alpennordhang durchschnittlich; im Engadin, Tessin und im Wallis dagegen überdurchschnittlich. Diese überdurchschnittlichen Schneehöhen sind vor allem auf die grossen Schneefälle Anfang Winter in diesen Gebieten zurückzuführen.
Bemerkenswert an diesem Winter waren einerseits die wiederholten Regenfälle bis über die Waldgrenze, die unterhalb von 2.000 m ein stärkeres Anwachsen der Schneedecke verhinderten. Andererseits die sehr geringen Schneefälle im Januar und Februar auf der Alpensüdseite und im Engadin, wobei der niederschlagsarme und sehr sonnige Januar die ganze Schweiz betraf.
Lawinengefahr
Im Winter 2019/20 entsprach die Häufigkeit der fünf Gefahrenstufen in etwa dem langjährigen Mittel, einzig die Gefahrenstufe 1 (gering) wurde um 7 % häufiger prognostiziert. Dies deutet auf eine überdurchschnittlich günstige Lawinensituation hin und dürfte u.a. zur geringen Anzahl der Lawinenopfer beigetragen haben.
Gefahrenstufenverteilung vom 01.12.2019 bis 31.03.2020 (vorne) und langjähriger Mittelwert (hinten). Mit Gefahrenstufe 5 (sehr gross) wurde an keinem Tag gewarnt. Die restlichen Gefahrenstufen wurden wie folgt prognostiziert: Stufe 4 (gross) 1.7 %, Mittelwert 1.5 %; Stufe 3 (erheblich) 33 %, Mittelwert 37 %; Stufe 2 (mässig) 41 %, Mittelwert 44 %; Stufe 1 (gering) 24 %, Mittelwert 17 %.
Lawinenunfälle und Schadenlawinen
Aussergewöhnlich wenige Lawinenopfer
Insgesamt wurden dem SLF bis Ende März 112 Schadenlawinen gemeldet. Darunter waren 89 Personenlawinen mit insgesamt 128 erfassten Personen. Dies ist rund ein Drittel weniger als der Durchschnitt der letzten 20 Jahre mit 158 Schadenlawinen und 175 erfassten Personen im gleichen Zeitraum.
Bis Ende März starben fünf Personen in Lawinen. Dies ist der tiefste Wert seit dem Winter 1959/60 und liegt weit unter dem langjährigen Mittel von rund 18 Todesopfern bis Ende März. Alle Opfer waren Wintersportler, die sich im ungesicherten Gelände aufhielten: Drei Personen waren auf Touren unterwegs, zwei auf Variantenabfahrten.
Gründe für die geringe Anzahl der Todesopfer können sein:
- Im Januar herrschten weitgehend günstige Verhältnisse mit einem guten Schneedeckenaufbau.
- Milde Temperaturen und wiederholte Regenereignisse bis in hohe Lagen führten mittelfristig zu einer Stabilisierung der Schneedecke.
- In den gefährlichsten Phasen des Winters waren Wetter- und Schneebedingungen durch Sturm und Regen bis in hohe Lagen für Touren unattraktiv, deshalb dürften weniger Tourengänger und Variantenfahrerinnen unterwegs gewesen sein.
- Es gab nur einen Unfall, bei dem mehr als eine Person in derselben Lawine starb.
- Einige Personen dürften auch Glück gehabt haben, denn es wurden doch 122 Personen von Lawinen erfasst, was rund ein Drittel weniger als das langjährige Mittel ist. Darüber hinaus liegt der prozentuale Anteil an Unfällen mit tödlichem Ausgang mit einer Abnahme von 72 Prozent noch deutlicher unter dem langjährigen Mittel.
Eine abschliessende Bilanz wird erst am Ende des hydrologischen Jahres (30. September 2020) gezogen.
Lawinenunfälle im Winter 2019/20, Stand 31. März 2020. Insgesamt ereigneten sich vier Unfälle mit insgesamt fünf Todesopfern. Drei Unfälle ereigneten sich im Dezember 2019 und forderten je ein Todesopfer, bei einem weiteren Unfall im Februar kamen zwei Personen ums Leben. Der tödliche Unfall mit zwei Personen ereignete sich bei Gefahrenstufe 2 (mässig), die anderen bei Stufe 3 (erheblich). (Kartenbasis: Bundesamt für Landestopografie, Copyright 2007).
Lawinenbulletins
Das Lawinenbulletin enthält eine Prognose der Lawinengefahr und allgemeine Informationen zur Schneesituation. Es gilt für die Schweizer Alpen, den Schweizer Jura und Liechtenstein. Im Winter erscheint es täglich um 17 Uhr, im Hochwinter zusätzlich um 8 Uhr. Es wird unter www.slf.ch und der SLF-App White Risk publiziert.
Diesen Winter wurde das Bulletin wie folgt herausgegeben:
- Tägliches Lawinenbulletin um 17 Uhr: ab 12. November 2019 bis auf weiteres
- Tägliches Lawinenbulletin um 8 Uhr: 13. Dezember 2019 bis 17. März 2020
Bei grossen Schneefällen erscheinen im Sommer und Herbst situationsbezogene Lawinenbulletins. Diese können wie folgt bezogen werden:
- Push-Meldung aktivieren auf White Risk
- SMS abonnieren: „START SLF SOMMER“ an 9234, 0.20 CHF/SMS
Service stoppen: SMS mit Inhalt „STOP SLF SOMMER“ an 9234
Das Lawinenbulletin erscheint bis auf weiteres um 17 Uhr und in erster Linie zur Unterstützung der Sicherheitsdienste. Wetterinformationen: MeteoSchweiz-App sowie www.meteoschweiz.ch