Pro & Contra: Geschwindigkeit am Berg
1. Pro
Eines vorweg: Ich liebe es, schnell unterwegs zu sein, mit minimaler Ausrüstung auch an hohen, schwierigeren Bergen. Aber das hat nichts mit Leichtsinn zu tun, wie manche vielleicht meinen. Ganz im Gegenteil: Leicht und schnell zu sein, gibt mir in gewisser Weise Sicherheitsreserven. Für mich funktioniert dieser Stil, denn ich kann meine Leistungsfähigkeit sehr gut einschätzen.
Ich komme zwar ursprünglich aus dem Wettkampfsport, vom Berglauf und Skibergsteigen, wo es klar um Geschwindigkeit geht, trotzdem steht bei mir beim Bergsteigen, das ich eher nebenbei angefangen habe, das gesamte Bergerlebnis an erster Stelle. Deshalb machen für mich persönlich Länge und Höhe der Wand die Schönheit einer Tour aus – und nicht die Kletterschwierigkeit. Ich war ja auch nie ein Spitzenkletterer und werde es wahrscheinlich nicht mehr. Dafür macht es mir – wohl aufgrund meiner läuferischen Vergangenheit – einfach Spaß, mich konditionell auszupowern.
Als Speedbergsteiger habe ich mich dennoch selbst nie definiert, für mich ist es einfach normal und meine Art, mich schnell am Berg zu bewegen. An einem Tag 6000 Höhenmeter zu machen oder 1000 Höhenmeter in unter 35 Minuten zu laufen, ist für mich kein Problem. Für andere mag es absurd klingen, aber genau das ist für mich Genuss. Darum suche ich auch im Bergsteigen meine Herausforderungen in konditionell fordernden Projekten.
Neben der körperlichen Herausforderung genieße ich es aber auch, durch die Geschwindigkeit am Berg eine unglaubliche Flexibilität zu haben, Pläne kurzfristig ändern zu können, ein Enchainment oder eine große Nordwand wie die des Matterhorns einfach an einem Tag vom Tal aus zu besteigen. Natürlich bringt Schnelligkeit in solchen Wänden auch Sicherheit mit sich, schließlich halte ich mich um ein Vielfaches kürzer in einer stein- oder eisschlaggefährdeten Wand auf! Von Touren in großer Höhe ganz abgesehen.
Allerdings musste ich auch lernen, dass man dabei viel weniger Reserven hat und unter Umständen öfter eine Tour abbrechen muss. Generell ist eine realistische Selbsteinschätzung gerade bei diesem Stil unheimlich wichtig. Bin ich allein – oder mit Partner, aber nur mit minimaler Ausrüstung – unterwegs, muss ich mir sicher sein, dass ich die Kletterschwierigkeiten meistere und einen Puffer habe, falls etwas Unvorhergesehenes passiert. Gehen einem die Reserven aus und man ist zu einem Biwak ohne Ausrüstung gezwungen, kann es sehr schnell gefährlich werden. Dessen sollte man sich immer bewusst sein. Aber auch darin liegt für mich der Reiz.
Es ist für mich aber auch irgendwie eine Frage des Komforts. Ich finde es deutlich attraktiver, 16 Stunden nonstop Gas zu geben und abends ins eigene Bett zu fallen, als einen schweren Rucksack tragen zu müssen und eine Nacht in einem unbequemen Biwak zu verbringen. Vor zwei Jahren wachte ich zum Beispiel um 7 Uhr in der Früh auf und entschied mich spontan, die Königspitze Nordwand zu klettern. Ich fuhr also nach Sulden, ging um 10 Uhr los und war um 18 Uhr schon wieder zu Hause. Genau dieses unkomplizierte, schnelle, flexible Bergsteigen macht mir einfach unglaublich viel Spaß – und dafür trainiere ich jeden Tag, auch wenn es im Moment mit Rennveranstaltungen eher schlecht aussieht.
Philipp Brugger (29) macht seit seiner Jugend Wettkampfsport. Inzwischen ist der Skitourenrennläufer und Trailrunner immer öfter als Bergsteiger unterwegs. Er hält den Geschwindigkeitsrekord über den Hintergrat auf den Ortler (1:48 Stunden) und lief in unglaublichen 3:58 Stunden vom Bahnhof Pontresina auf den Piz Bernina.
2. Contra
„Heit a Schritt, morgn a Schritt, heit a Schritt, morgn a …“ Im normalen Sprechtempo führt dieses Metronom zu circa einem Schritt pro Sekunde. Mit der ersten Silbe baut der Oberschenkel die Spannung auf, während der zwei nächsten unbetonten Silben erfolgt die Streckung. So kommt es zu 60 Schritten pro Minute, 3600 pro Stunde. Das ergibt eine Strecke von 2160 Metern und eine Höhendifferenz von 360 Höhenmetern pro Stunde – bei 60 Zentimetern Schrittlänge und 15 Zentimetern Schritthöhe. Also sechs Kilometer horizontal und 1080 Meter vertikal in drei Stunden! Unglaublich, was mit „langsam“ alles zu erreichen ist, wie sich Grenzen und Horizont auch mit „langsam“ verschieben und erweitern lassen.
„Wenn ich die Welt beim Wandern in langsam vorbeigleitenden Bildern erlebe, wenn ich bei einem Bergbach raste, wenn ich auf anstrengenden Serpentinen gesund müde werde und wenn ich am Ziel angelangt vom tiefen Blick überwältigt bin, das ist eine andere Form des Lebens …“ – so formulierte es der große Menschenfreund Reinhold Stecher in seiner Fest- und Dankesrede anlässlich 150 Jahre ÖAV. Bergsport ist seinem Wesen nach „Langsamsport“. Wer rennt, läuft, sprintet, macht etwas anderes. Ein Plädoyer für die Langsamkeit beim Bergwandern, auf Skitouren, Hochtouren, beim Klettern:
Ungezählt die Menschen, denen Touren vermiest werden, weil ihre Partner – häufig „Lebenspartner“ – zu schnell gehen. Viel zu schnell starten. Viel zu schnell die erste halbe Stunde. Das passiert nicht in böser Absicht, es passiert aus Unachtsamkeit. Es passiert im Privaten und leider manchmal auch bei geführten Vereinstouren, wenn ehrenamtliche Führer*innen ihr individuelles Tempo mitbringen. Eines haben professionelle Bergführer*innen gelernt, es ist ein Schlüssel in der Kunst des Führens am Berg: „Heit a Schritt, morgen a Schritt.“ Das richtige Tempo. Das richtige Tempo ist langsam und stetig, es nimmt Ängste, stärkt das Selbstbewusstsein der Gäste, ermöglicht nicht Zugetrautes – und führt zu neuerlicher Buchung.
Griffe halten, Tritte ansteigen, Schwerpunkt verlagern, ziehen, drücken, Rastpositionen geschickt nützen. Vollendetes Klettern verwirklicht sich langsam. Dynamik, Eleganz und Schönheit der Bewegung sind nicht das Ergebnis hoher Geschwindigkeit. Es sind die scheinbare Leichtigkeit, Bewegungsfluss und Präzision, die Kletterkunst ausmachen. Wer im Flow klettert, klettert langsam und „flüssig“, in Spannung, aber ohne Angst. Dass die Disziplin „Speed“ im Wettklettersport ein Dasein im Schatten von Lead und Boulder führt, erklärt sich auch aus dem Wesen des Klettersports: Klettern heißt, in der Vertikalen Probleme meistern, in Steilwänden begehbare Linien finden und „gehen“. Speed ist der Versuch, den Sprintlauf von der Tartanbahn in die Senkrechte zu übertragen. Speed ist etwas anders.
Notebook, Smartphone, E-Mail, Social Media, Messenger, Smart-TV. Die exponentielle Zunahme an Informationen, die Beschleunigung und Verdichtung von Kommunikations- und Arbeitsprozessen seit Beginn des Internetzeitalters vor erst 25 Jahren verleiht Entschleunigungsprogrammen höchste gesundheitspolitische Bedeutung. Unsere Computer mögen bei 3,2 Milliarden Takten pro Sekunde erst richtig warm werden – unsere Nervenbahnen brennen durch, wenn wir versuchen, da Schritt zu halten. Die Evolution hat uns auf Rhythmus geeicht, nicht auf Taktung. Menschen sind aus Fleisch und Blut und unser Nervensystem ist kein Glasfasernetz. Bergsport bietet unglaubliche Chancen für menschenfreundliche Kontrastprogramme durch die Kombination von langsamer Bewegung, ursprünglicher Bergnatur, Gemeinschaft und einer Prise Abenteuer. Zeit zum Schauen, Zeit zum Erleben, Zeit zum In-den-Körper- und Auf-den-Boden-Kommen. Jetzt ist der richtige Moment, um an das Merkmal „langsam“ im Bergsport zu erinnern und seinen Wert zu schätzen.
Michael Larcher (61) ist Leiter der Bergsportabteilung im Österreichischen Alpenverein. In jungen Jahren zählte er zu den vielversprechendsten Alpinisten Österreichs. Flott unterwegs waren er und Bernd Hollaus 1978 im Karwendel: Lafatscher-Pfeiler, Lafatscher-Verschneidung, Buhl-Durchschlag, Buratti-Pfeiler und Speckkar-Nordwand in knapp 9 Stunden.