Bergrettung wider Willen: Wie viel Unvernunft darf sein?
Langfassung von Nik Burgers Artikel im bergundsteigen #115
Zwangsrettung bedeutet im Ergebnis Rettung gegen den Willen des Betroffenen, mithin im strafrechtlichen Sinn insbesondere Nötigung und Freiheitsberaubung, gegebenenfalls auch Körperverletzung (Gewaltanwendung bis hin zu invasiven Eingriffen zur Medikamentengabe). Die Thematik „Zwangsrettung“ ist präsent und virulent, vor allem unter Landrettungsbedingungen im Tal, wenn ein Hilfsbedürftiger die ärztliche Behandlung und die Einlieferung in die Klinik verweigert. Mitunter werden Retter und Rettungsmittel unnötig lang gebunden und Folgeeinsätze verzögert. Am Berg ist die Lage komplexer: Polizeikräfte sind selten vor Ort und die Eigengefährdung ist oft gelände- und witterungsbedingt hoch. Hinzu kommt: Alpinismus und Risiko waren nie Gegensätze: „Der Tod als Seilgefährte“ umschreibt nicht mehr nur literarisch das erlaubte Risiko. Auch das Recht stützt die Freiheit zum Handeln. Das wissen insbesondere Alpinisten und fragen bisweilen: Risiko, warum nicht?
26. Dezember 2019, 2. Weihnachtsfeiertag: Gegen 00:50 Uhr wird die Bergwacht Ramsau bei widrigsten Wetterverhältnissen, Neuschnee und erheblicher Lawinengefahr (Warnstufe 3) alarmiert. Drei Wanderer aus München beabsichtigen, trotz des vorhergesagten schlechten Wetters und bei erkennbar zunehmender Lawinengefahr (Prognose zu 4) ohne Skier oder Schneeschuhe zum Winterraum des Watzmannhauses aufzusteigen. Nach stundenlangem Aufstieg müssen sie im steileren Gelände zwischen Falzalm und Watzmannhaus erschöpft umkehren; sie retten sich nach fast elf Stunden Marsch in einen offenen Stall einer nicht bewirtschafteten Alm auf 1.615 Metern Höhe und setzen einen Notruf ab. Die Retter stellen nach mühsamem Anstieg an der Einsatzstelle fest, dass einer der drei Männer in einem kritischen Zustand ist und rasch liegend abtransportiert werden muss. Für Unmut sorgt eine unangenehme Diskussion mit dem faktischen Führer des Trios, der vor Ort zunächst die Hilfe der Bergwacht ablehnt und nicht mit absteigen will, da das Abenteuer aus seiner Sicht nur aufgrund seiner beiden erschöpften Begleiter gescheitert sei. Der Mann gibt an, dass er im Stallraum weiter übernachten wolle. Letztendlich kann ihn die Bergwacht aber mit Nachdruck überreden, mit ins Tal abzusteigen. Diese Rettung am Watzmann-Hocheck sorgte für mediale Aufregung. So fragte der Bayerische Rundfunk einen Tag nach dem Einsatz „Darf die Bergwacht Menschen zum Umkehren zwingen?“ und berief sich auf zahlreiche einschlägige Diskussionsbeiträge in den sozialen Netzwerken und in den Kommentarspalten des Rundfunks. Der Beitrag kommt in allgemein gehaltener Form zu dem Ergebnis, dass es keinen rechtlichen Rettungszwang in Deutschland gebe. In begründeten Fällen könne allerdings der Betroffene auch gegen seinen Willen in eine Klinik eingewiesen werden, notfalls müsse die Polizei Zwangsmaßnahmen ergreifen. In der Bergrettung ist die Thematik kein Einzelfall. Alleine aus dem Berchtesgadener Land lassen sich drei weitere Beispiele anführen.
August 2018, Hochstaufen, Pidinger Klettersteig: Ein Notruf, da eine Frau die letzten 100 Höhenmeter wohl nach glimpflicheren Stürzen ins Klettersteigset bis zum Ausstieg des Klettersteigs nicht mehr schafft. Christoph 14 fliegt zwei Bergretter zum Gipfel. Von dort aus steigen die Bergretter ab, seilen sich zur erschöpften Frau, untersuchen sie und führen sie seilgesichert bis zum Ausstieg. Die Urlauberin ist zwar von mehreren leichten Stürzen aufgeschürft, aber offenbar nicht ernsthaft verletzt. Der Rettungshubschrauber bleibt gebunden und wartet. Retter und Gerettete erreichen die Gipfelwiese. Die Frau verweigert einen Abtransport per Hubschrauber wie auch eine weitere medizinische Versorgung und signalisiert, zu Fuß abzusteigen. Christoph 14 und die Bergretter ziehen ab.
Juni 2017, Berchtesgaden: Bekannte alarmieren bei aufziehendem Unwetter über abgängige Bergsteiger. Die jungen Männer können zunächst von den Einsatzkräften über das Handy erreicht werden, verweigern aber sodann jegliche Hilfe und geben bewusst ihren Standort nicht preis. Die Zeit verrinnt. Drei Stunden später alarmiert die Gruppe dann selbst aus besonderer Notlage, kann geortet und gerettet werden. Zwei junge Männer sind verletzt und einer psychisch aufgelöst.
Oktober 2014, Hochstaufen: Wanderer beobachten und melden einen Absturz. Kurz darauf ruft ein betrunkener Mann per Handy in der Leitstelle an, dass er vermutlich der Gesuchte sei, aber eigentlich nur eine Abkürzung über das Geröllfeld genommen habe und keine Hilfe brauche. Der Mann bedarf aber offensichtlich der Hilfe, hat bereits mehrere Schürfwunden und kann nicht mehr sicher absteigen. Er verweigert weiterhin jede Hilfe, auch gegenüber einem Bergretter, der privat unterwegs ist. Die Polizei ergreift die Initiative und geht dem Betrunkenen entgegen, damit er trotz seines Rausches sicher ins Tal kommt.
Wie sind die Fälle juristisch zu analysieren? Und noch wichtiger: Wie haben Retter sich richtig zu verhalten?
Diese Fragen beantwortet der Jurist Dr. Klaus „Nik“ Burger in bergundsteigen Sommer 21 / #115. Wir haben seinen Artikel gekürzt, damit die spannende Thematik auch für Nicht-Juristen leichter nachvollziehbar ist. Für juristisch im Detail interessierte Leser findet sich hier noch die originale Langversion (PDF):
Ergänzung: Kurz vor Erscheinen des Artikels im Heft informierte uns Nik noch über eine beabsichtigte Gesetzesänderung in Bayern, die das Thema nochmals befeuern könnte:
„Absolut aktuell ist eine beabsichtigte Gesetzesänderung des BayRDG, die auch in extremen Fällen polizeiliche Eingriffsbefugnisse im alpinen Bereich erweitern wird; derzeit in der Verbändeanhörung. Es ist vorgesehen, einen Missbrauchstatbestand bei Einsätzen der Berg- und Wasserrettung einzuführen, und zwar, so die Gesetzesbegründung, „um der stark steigenden Alarmierung von Rettungsmitteln der Wasser- und Bergrettung aufgrund grob sorglosen Vorverhaltens der dann Hilfesuchenden entgegenzuwirken“: Mit Geldbuße bis zu zehntausend Euro kann belegt werden, wer sich grob fahrlässig im Gebirge, im unwegsamen Gelände oder in Gewässern in eine vermeintlich oder tatsächlich gesundheitsgefährdende Situation begibt und damit einen Einsatz des Rettungsdienstes veranlasst.“ Die rechtliche und tatsächliche Entwicklung dieser Gesetzesinitiative der Bayerischen Staatsregierung ist abzuwarten. Die Vorgabe einer Ahndung wird durch die Wörter „kann“ und „grob“ bereits relativiert. Grundsätzlich schafft aber ein Bußgeldtatbestand neben der Ahndung durch eine Geldbuße die Möglichkeit polizeilichen Einschreitens, so eine Gewahrsamnahme, wenn das unerlässlich ist, um die die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern. Vorausgesetzt ist allerdings, dass ein Rettungseinsatz unmittelbar bevorsteht. Oftmals wird eine weniger einschneidende Maßnahme wie ein Platzverweis gem. Art. 16 PAG ausreichend sein. Denkbar ist ein polizeiliches Einschreiten in Form eines Platzverweises gem. Art 16 PAG zum Beispiel bei unbelehrbaren Freeridern, die sichtbar mit Hilfe von Seilbahnbeförderung zu einer Tour bei extremer Lawinensituation aufbrechen und ein Lawinenabgang mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.
Der waghalsige gute Alpinist, der sich fordert oder trainiert, muss aber wohl nicht besorgt sein. Insofern wird es nicht so sein, dass die Polizei präventiv waghalsige Touren verhindern wird. Die Entwicklung dieser Vorschrift in der Praxis ist spannend und einen Folgeartikel zu gegebener Zeit wert.“