Kältekunde: Über Erfrierungen am Berg
Egal, ob jemand in Grönland geboren oder im australischen Busch aufgewachsen ist – eines haben alle Menschen gemeinsam: Unser Körper verlangt 37 °C Kerntemperatur, egal, ob draußen 30 °C plus oder 40 °C minus herrschen. Anders als bei wechselwarmen Lebewesen (z. B. Fischen, Reptilien, Insekten) funktionieren unsere lebenswichtigen Stoffwechselprozesse nur innerhalb geringer Temperaturlimits. So wie bei 40 °C Fieber unsere Alarmglocken schrillen, ist auch der Spielraum nach unten sehr begrenzt: „Bei einem Abfall der Körperkerntemperatur unter 35 °C spricht man von einer Hypothermie“, erklärt Dr. Peter Paal, Bergrettungs- und Notarzt und wissenschaftlicher Leiter der medizinischen Kommission der International Commission of Alpine Rescue (ICAR MEDCOM).
Das, was landläufig als Unterkühlung bekannt ist, droht uns nicht nur in der Arktis oder am Everest, sondern auch in den Alpen: Zwar seien Bergrettungseinsätze für Erfrierungen in den Alpen selten, wie Ueli Mosimann, Verantwortlicher für die Bergnotfallstatistik des SAC, berichtet. Aber: „Deutlich häufiger sind Unterkühlungen, meistens im Zusammenhang mit einer Blockierungssituation oder einer Lawinenverschüttung.“
Laut SAC sind in den Schweizer Alpen insgesamt 38 Berggänger in den letzten 20 Jahren an den Folgen einer Unterkühlung verstorben, 14 davon auf Hochtouren, 11 auf Skitouren und 10 beim Bergwandern (siehe Info-Box unterhalb: Bergtote durch Erfrieren). Abgesehen von den Todesfällen sind statistische Angaben zu Kälteschäden allerdings schwierig. „Es gibt eine riesige Dunkelziffer, weil Personen oft gar nicht ins Spital kommen oder nicht erfasst werden“, sagt Dr. Monika Brodmann, leitende Ärztin der internationalen Notfallmedizin in Bern.
„Zudem sind Unterkühlungen oft eine Begleiterscheinung anderer schwerer Verletzungen.“
1. Bergtote durch Erfrieren
Die Bergrettungsorganisationen in der Schweiz haben keinen expliziten Parameter für Unterkühlungen bzw. Erfrierungen. Solche Ereignisse dürften in den allermeisten Fällen die Folge von Verirren und oder Blockierung bzw. Erschöpfung sein, wozu es in den Einsatzdaten entsprechende Parameter gibt. Zu Todesfällen bei solchen Situationen kommt es meistens dann, wenn extreme Wettersituationen eine zeitnahe Rettung verunmöglichen oder die Betroffenen nicht in der Lage sind, einen Alarm auszulösen. In der Grafik wurden nur diejenigen Ereignisse berücksichtigt, bei welchen es in den verbalen Kurzberichten klare Hinweise zu einem Erfrierungstod gibt (38 von total 54 Betroffenen).
Hinweise zu den Tätigkeiten
- Hochtouren: Fast ausschließlich gerieten die Betroffenen in einen extremen Wettersturz, sodass keine zeitnahe Rettung möglich war.
- Skitouren: Allein 7 der 11 Opfer forderte das Drama an der Pigne d’Arolla.
- Bergwandern: Alle 10 Betroffenen waren als Alleingänger unterwegs, was offenbar einen hohen Risikofaktor darstellt.
Bei einigen Fällen gibt es Hinweise auf mangelhafte Ausrüstung (Bekleidung). Seit 2004 enthält die SAC-Statistik die vollständigen Daten auch der nichttödlichen Ereignisse. Während diesen 16 Jahren wurden gut 12.000 Berggänger gerettet, welche sich verirrt hatten oder blockiert waren. Die meisten davon waren nicht, oder nur sehr geringfügig verletzt. Auch wenn es sich statistisch nicht belegen lässt, sollten solche Einsätze differenziert betrachtet werden: Viele der Beteiligten hätten höchstens eine unfreiwillige Biwaknacht verbracht und bei einigen müsste man gar das Wort „Missbrauch“ gelten lassen.
Bei beiden Konstellationen wird das aber teuer, wenn man nicht REGA-Gönner (zahlender Unterstützer der Schweizer Flugrettung) ist. Aber: es gab und gibt auch nicht selten Situationen, die zu einem fatalen Ausgang geführt hätten, wenn die Rettungskräfte nicht beherzt interveniert hätten: Evakuierung in letzter Minute bei einem beginnenden Wettersturz, terrestrische Einsätze, etc. Mit anderen Worten: Ohne die hochprofessionelle Bergrettung hätten wir deutlich mehr Bergtote durch Erfrieren. Ueli Mosimann, Quelle: Bergnot- und Unfallstatistik des SAC
2. Wenn der Körper auskühlt
Aber was passiert eigentlich, wenn der Wärmeverlust unsere Wärmeproduktion übersteigt? Zunächst versucht der Körper, durch eine gesteigerte Atmung und eine höhere Aktivität des Kreislaufes sowie durch Muskelzittern die Körperkerntemperatur konstant zu halten. „Abhängig von der Muskelmasse kann Zittern die Wärmeproduktion um das Sechsfache steigern“, so Paal.
Doch das funktioniert nur so lange, wie die Energiespeicher des Körpers vorhanden sind. „Glykogen ist das Stichwort: Ist der Zucker in den Speiseresten im Darm sowie in den Muskeln und in der Leber aufgebraucht, ist kein Zittern mehr möglich“, erklärt Paal. Haben wir es dann noch nicht ins Warme geschafft, fängt unser Körper an, nach Wichtigkeit zu sortieren. „Die Blutzufuhr in Randgebieten des Körpers wird gedrosselt und der Blutkreislauf im Körperkern zentralisiert“, so Paal, „um die lebenswichtigen Organe so lang wie möglich zu versorgen.“
Das bremst den wärmenden Blutstrom in der Peripherie, Blutplättchen und Blutkörperchen lagern sich aneinander, machen das Blut zäher, bis die Durchblutung der Extremitäten ganz stoppt. Es folgt, was jeder schon einmal erlebt hat: Finger und Zehen fühlen sich kalt an und schmerzen, sobald sie wieder auftauen.
Niemand ist tot, solange er nicht warm und tot ist.
Falls immer noch keine wärmenden Gegenmaßnahmen getroffen werden (können), was spätestens jetzt dringend angebracht wäre, verfährt der Körper weiter nach diesem Prinzip. Die Durchblutung wird auch im Körperkern reduziert, Atmung und Kreislauf verlangsamen sich und setzen bei weiter sinkender Kerntemperatur schließlich aus, der Mensch verliert das Bewusstsein. Dieser Prozess der Unterkühlung fördert zwar die Gefahr einer lokalen Erfrierung, ist aber ein wirksamer Selbstschutz des Körpers, um die lebenswichtigen Organe vor Sauerstoffmangel zu schützen.
„Es gibt immer wieder Fälle, in denen leblose, schwer unterkühlte Personen sogar nach mehrstündigem Herzkreislaufstillstand erfolgreich wiederbelebt werden“, sagt Paal. Erst vor Kurzem hätten Ärzte ein zweijähriges Kind, das ins Wasser gefallen war, mit einer Körperkerntemperatur von 11,8 °C wiederbeleben können. „Das ist ein Weltrekord, und das ohne neurologische Folgeschäden“, so Paal. Seit den 1970er-Jahren gilt in der Medizin das Prinzip: „Niemand ist tot, solange er nicht warm und tot ist.“
„Meine bis anhin längste Nacht verbrachte ich mit 19 Jahren am Salbit Westgrat. Im späten Oktober 1986 geriet ich mit einem Kletter-Kollegen in einen Schneesturm und musste biwakieren. Reinhold Messner schrieb in einem Buch, Erfrieren sei ein schöner Tod – ich habe diese Nacht aber als absolut schrecklich empfunden. Meine Zähne klapperten die ganze Nacht durch. Am nächsten Tag war der Schneesturm vorüber. Wir kletterten die Route fertig und stiegen ins Tal ab. Danach konnte ich über eine Woche lang nur noch Getränke oder Joghurt zu mir nehmen, weil meine Zähne dermaßen schmerzten vom „auf die Zähne beißen“ und klappern.
Kurios war es dagegen am Dhaulagiri (8167 m). Kniehoher Schnee machte den Aufstieg zum Lager 2 sehr anstrengend, und ein fürchterlicher Wind kühlte meinen Körper aus, ohne dass ich es bemerkte. Auf die Hypothermie reagierte mein Körper mit einem Aufheizen. Ich fühlte mich plötzlich wie in einer 90 °C heißen Sauna und wusste, dass mich ein weiterer Aufstieg in große Probleme bringen würde. Nach all der Schinderei stieg ich zurück ins Lager 1. Die härteste Kälte erlebte ich auf dem Weg zum Südpol. Gegen die katabatischen Winde und minus 40 °C helfen (nebst Spezialkleidern, Spezialschuhen und Schutzmasken) Mantras und dauernde Gebete, um sich mit der Kälte quasi zu versöhnen. Man muss die Kälte lieben lernen, damit man sie aushält.“
3. Unterkühlung als Lebensretter
Es klingt paradox, aber so gesehen hat eine Unterkühlung auch ihre positiven Seiten. In einer Studie zum Lawinenunfall schreiben Paal und seine Kollegen über die Hypothermie: „Einerseits droht der Erfrierungstod, andererseits geben Fälle Hoffnung.“ So könne die Unterkühlung für Lawinenverschüttete mit Atemhöhle lebensrettend sein. Durch den Mangel an Sauerstoff und dem wieder eingeatmeten Kohlenstoffdioxid verlieren die Verschütteten das Bewusstsein, das Kältezittern stoppt und der Körper kühlt schneller aus.
Genau darin liege die Chance: Mit sinkender Körperkerntemperatur nimmt der Sauerstoffbedarf des Körpers ab, was die Überlebenschance theoretisch sogar erhöht. Voraussetzung ist allerdings, dass die Atemwege frei sind. „In den meisten Fällen sind die Atemwege verlegt, deswegen erstickt der Lawinenverschüttete lange bevor die Unterkühlung ‚wirksam‘ werden kann“, erklärt Paal.
Ein anderes Kälte-Paradoxon hilft dagegen garantiert nicht gegen Hypothermie: Immer wieder entkleiden sich unterkühlte Höhenbergsteiger, weil sie kurz vor dem Verlust des Bewusstseins ein plötzliches Hitzegefühl spüren. „Das Phänomen ist bekannt, aber wenig untersucht“, sagt Paal. „In der Höhe kommen Faktoren wie Sauerstoffmangel dazu. Auch Alkohol oder die Einnahme von bewusstseinsverändernden Medikamenten können zu dem vermeintlichen Hitzegefühl führen.“
4. Äußere und innere Risikofaktoren
Tiefe Temperaturen sind der Hauptgrund für Wärmeverluste. Allerdings sind Wind und Feuchtigkeit entscheidende Nebenfaktoren: Viele Polarforscher berichten von relativ leicht zu ertragender, trockener Kälte, während sich feuchte Luft deutlich kälter anfühlt. Und der allseits bekannte Windchill-Effekt kann selbst bei leichten Plusgraden Unterkühlung und Erfrierungen verursachen. So entsprechen beispielsweise -9 °C bei einer Windgeschwindigkeit von knapp 50 km/h gefühlt einer Temperatur von etwa -32 °C.
„Besonders in alpinen Regionen, wo viele Gipfel exponiert und dem Wind ausgesetzt sind, können Wärmeverluste groß sein“, sagt Brodmann. Isoliert aufragende Berge sind deswegen bei gleicher Höhe oft kälter als geschlossene Gebirgsmassive oder Hochplateaus. Ganz entscheidend ist natürlich auch, ob wir gerade an Land, im Wasser oder in der Luft unterwegs sind. Beispielsweise kühlt ein voll bekleideter, in einer Lawine verschütteter Körper laut Paal um „nur“ 0,1 °C pro Stunde ab, weil dicke Bekleidung und Schnee relativ gut isolieren. Im Wasser hingegen, das ein sehr guter Wärmeleiter, aber ein schlechter Isolator ist, verliert der Mensch bis zu 1 °C alle zwei Minuten. Genau deshalb braucht es auch im Hochsommer einen Neoprenanzug beim Canyoning.
„Bei meinem ersten Versuch am Lhotse (8516 m) war es vor allem die Kälte, die uns hat umdrehen lassen. Kälte ist aber oft relativ, und an diesem Tag war es sicher nicht außergewöhnlich kalt, sondern ich nur schon so platt von der vorherigen Besteigung des Dhaulagiri. Daraus habe ich gelernt, nicht nur auf das Thermometer zu schauen, sondern auch auf das innere Gefühl zu hören. Kurios war es an meinem ersten 8000er, dem Gasherbrum II.
Im Aufstieg wurden meine Zehen ziemlich kalt. Aber ich hatte Glück, und als wir am Gipfel ankamen, ging die Sonne auf. Es war windstill und relativ „warm“. Deshalb zog ich – auf über 8000 Metern – meine Schuhe aus und massierte meine Zehen, bis sie wieder warm waren. Als Tipp empfehle ich, immer die Schuhe so gut wie möglich vorzuwärmen. Ich stecke immer zwei 0,5-l-Nalgene-Flaschen mit heißem Wasser in die Schuhe. An den Händen habe ich oft diese kleinen Heatpacks an meinem Puls, so werden meine Finger nicht so schnell kalt.“
Ein weiterer Risikofaktor ist kalte, trockene Luft und der damit einhergehende Flüssigkeitsverlust: Da kalte Luft oft trocken ist, wird sie beim Einatmen mit Feuchtigkeit angereichert. Besonders beim Höhenbergsteigen verliert der Körper dadurch viel Flüssigkeit über die ausgeatmete Luft. Der Wassergehalt des Blutes und damit die Fließgeschwindigkeit des Blutes sinken, sodass ein erhöhtes Risiko für Erfrierungen und Unterkühlung besteht.
Obwohl alle Menschen Warmblüter sind, hängt das Ausmaß einer Unterkühlung durchaus auch von der individuellen Verfassung ab. Neben den fürs Muskelzittern notwendigen Glukosereserven gilt das besonders für die Fettreserven. Zwar produzieren durchtrainierte Personen mit ihren Muskeln Wärme, Fett aber isoliert und schützt den Körper schon vorher vor Auskühlung. Durchschnittlich liegt die Fettschicht eines Menschen bei fünf bis sechs Millimetern, gelegentlich auch bei acht. Beim berühmten „Seehund-Mann“ – einem Isländer, der 1984 nach einem Schiffbruch sechs Stunden durch den Nordatlantik an Land schwomm – maß die Fettschicht sogar 14 Millimeter.
Bis zu einem gewissen Grad lässt sich Kälteresistenz sogar trainieren. So kann der Körper durch lang anhaltende Kälteaufenthalte eine niedrigere Körperkerntemperatur tolerieren. „Aber das funktioniert nur innerhalb der genetischen Möglichkeiten eines Individuums“, so Dr. Paal.
Das merkt man im Winter: Unsere Kälteresistenz ist am Anfang des Winters schlechter als am Ende des Winters.
5. Erste Hilfe bei Unterkühlung
Für das Erkennen einer Unterkühlung gibt es eine einfache Faustregel: Eine Person, die in der Kälte ist und zittert, ist nicht sofort gefährdet. Dieselbe Person, die immer noch in der Kälte ist und aufhört zu zittern, ist in Lebensgefahr. Etwas komplizierter ist es, die korrekten Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
„Aufwärmen ist das oberste Gebot bei Unterkühlungen. Aber das geht draußen bei einer erwachsenen Person selten“, so Brodmann. Das Wichtigste sei daher, eine unterkühlte Person vor weiterer Auskühlung zu schützen und an einen windgeschützten, trockenen Ort zu bringen. Dort sollte eine Rettungsdecke oder ein Biwaksack, notfalls ein Seil oder ein Rucksack auf den Boden ausgelegt werden. „Die Kälte kommt von unten – daran wird oft nicht gedacht“, sagt Brodmann.
Bei einer milden Unterkühlung ist Bewegung noch erlaubt: „Muskelaktivität, zum Beispiel durch Schneeschaufeln, produziert viel Wärme“, empfiehlt Brodmann. Bei einer schweren Unterkühlung (Grad II) besteht potenziell Lebensgefahr. Hier muss die professionelle Rettung umgehend alarmiert werden. Aktive und passive Bewegung sind unbedingt zu vermeiden, da sie den sogenannten Bergungstod, auch Afterdrop genannt, herbeiführen könnte. „Beim Afterdrop kommt es zu einer Vermischung des kalten Schalenblutes mit dem warmen Kernblut, was zu einem Herzstillstand führen kann“, erläutert Paal.
Besonders bei unterkühlten Bergsteigern, die aus Gletscherspalten oder aus dem Schnee gerettet werden, wird immer wieder eine Verschlechterung beobachtet, die bis zum Herzstillstand führen kann. Die unterkühlte Person muss deswegen bewegungsarm und gut isoliert abtransportiert werden. Rettungshubschrauber sind daher oft mit beheizten Matratzen und warmen Innenräumen ausgerüstet, alternativ auch mit Bubble-Wrap-Verpackungsfolien, die sehr gut isolieren.
Ist keine Rettung möglich, können Ersthelfer einen Wärmebeutel auf den Rumpf platzieren und, falls genügend Isolationsmaterial vorhanden ist, eine Hibler-Wärmepackung anwenden. Wenn die Person noch schlucken kann, dürfen auch warme Getränke verabreicht werden – keinesfalls jedoch Alkohol, der die Gefäße erweitert und den Wärmeverlust verstärkt.
Im dritten und vierten Grad einer Hypothermie ist die unterkühlte Person in der Regel bewusstlos. Sie sollte, möglichst bewegungsarm, in die stabile Seitenlage gebracht werden. Die Gefahr eines Bergungstodes ist höher als im zweiten Stadium. „Für Laien ist außerdem wichtig zu wissen, dass die Lebenszeichen so minimal sein können, dass Puls und Atmung erst nach einer Minute erkennbar sind“, sagt Paal. Tritt ein Herzstillstand ein, so muss mit Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen werden. Bei einem schwierigen Abtransport können diese über mehrere Stunden notwendig sein. Denn ein Mensch mit einem durch Kälte ausgelösten Herzstillstand kann einen recht langen Zeitraum unbeschadet überleben, bis er erfolgreich im Krankenhaus wiedererwärmt wird. Das ist allerdings nur möglich, wenn nach Eintreten des Herzstillstandes eine kontinuierliche Wiederbelebung aus Herzdruckmassage und Beatmung durchgeführt wurde.
6. Erfrierungen
Während Unterkühlungen stets den ganzen Körper betreffen, sind Erfrierungen örtlich begrenzte Kälteschäden. Unterkühlungen steigern das Risiko von Erfrierungen, je nach Exposition kann man sich aber auch ohne Unterkühlung eine leichte Erfrierung holen. Typisch sind sogenannte Frostbeulen an Wangen oder Nasenspitze.
Sind die Extremitäten länger der Kälte ausgesetzt, kommt es aufgrund der Zentralisierung zu einer schlechteren Durchblutung der peripheren Gefäße. Gleichzeitig bilden sich Eiskristalle im Gewebe, die die Zellen schädigen. „Eis hat vier Prozent mehr Volumen als Wasser“, sagt Dr. Paal. „Deswegen platzen die Zellen, wenn sie gefrieren.“
Nach der Wiedererwärmung tritt eine verstärkte Wiederdurchblutung und Entzündungsreaktion auf: die Haut ist rot, das Gewebe prall gespannt und schmerzhaft. Je nach Schweregrad kann sich im Verlauf totes Gewebe durch Blasenbildung ablösen, teilweise kann es zum kompletten Absterben der Gliedmaßen kommen. Wie die Unterkühlung werden auch Erfrierungen nach dem Grad ihrer Schwere klassifiziert, von Erfrierungen ersten bis dritten Grades.
Gefährlich ist, dass man den eigentlichen Zeitpunkt der Erfrierung in den Bergen oft nicht spürt: Das Temperaturempfinden wird ausgeschaltet und die Erfrierungsprozesse sind schwer wahrzunehmen. Auch das Ausmaß sowie die bleibenden Schäden sind oft erst nach Tagen oder gar Wochen beurteilbar und die Heilung kann Monate dauern.
Generell gilt: Schmerzen beim Auftauen sind ein gutes Zeichen, weil Gewebeschädigung die Nerven nicht zerstört hat. Wenn der Schmerz bei gleich bleibender Kälte in den Extremitäten nachlässt, sollten Bergsteiger alarmiert sein: „Das ist immer ein Zeichen für geschädigte Nervenfasern, die ihre Funktion eingestellt haben“, so Paal.
In den Alpen sind tiefe Erfrierungen selten. „In Österreich wurden von 2005 bis 2016 nur 31 Erfrierungsfälle im nationalen Unfallregister des Kuratoriums für Alpine Sicherheit dokumentiert“, sagt Paal. Dieselbe Tendenz herrscht in der Schweiz: „Meist handelt es sich um Erfrierungen des ersten Grades. Aber durch die viel bessere Ausrüstung und Aufklärung sind die Fälle selten – und oft nur eine Begleiterscheinung anderer schwerer Bergverletzungen“, erklärt Brodmann.
Trotzdem sollten Unterkühlung und Erfrierungen in den Alpen nicht unterschätzt werden. Erst diesen Sommer habe sich ein 29-jähriger Bergsteiger unterhalb der Mittellegihütte verstiegen. Wegen eines Wetterumschwungs war die Evakuierung per Hubschrauber erst am nächsten Tag möglich: Mit einer leichten Unterkühlung und leichten Erfrierungen an allen Zehen kam der Mann glimpflich davon, wenige Stunden nach der Rettung konnte er das Spital verlassen und zehn Tage später waren auch die Gefühlstörungen an seinen Zehen verschwunden. Ohne Flugrettung wäre die Geschichte aber wohl anders ausgegangen.
„Am Likhu Chuli 1 (6719 m) in Nepal musste ich mit einem meiner besten Freunde, Thomas Senf, knapp unter dem Ausstieg aus der Nordwand biwakieren. Geschlafen haben wir kaum, weil es uns bei ca. -30 °C bis auf die Knochen gefroren hat. Zum Glück war es nahezu windstill, sonst hätten wir das wohl kaum überlebt. Am nächsten Morgen spürte Thomas seine Zehen nicht mehr. Ich selbst hatte wenig Gefühl in den Fingern, aber es war erträglich. Wir waren genötigt, die Flucht nach oben anzutreten. Für einen Rückzug über die Wand hatten wir nicht genug Material dabei, da wir im Alpinstil unterwegs waren.
Und ja, die Kälte dort im Winterhalbjahr hatten wir unterschätzt. 300 Meter unter dem Gipfel biwakierten wir erneut, diesmal im Zelt. Thomas’ gesamter Zustand war erschütternd, aber er ermutigte mich, weiter aufzusteigen. So ist mir die erste und bisher einzige Besteigung des Berges gelungen, aber es war nur halb so schön wie mit einem guten Freund. Später haben wir beide Wochen gebraucht, um uns von den Erfrierungen 2. Grades zu erholen. Kurios finde ich, dass ich friere, wenn ich im Sommer in einem Gebirgssee mit 20 °C Wassertemperatur schwimme. Das verstehe ich bis heute nicht. Als Tipp kann ich nur raten: Der Kopf entscheidet, wie kalt dir ist. Wenn du im Kopf bereit bist zu frieren, dann hältst du viel aus. Neben der richtigen Bekleidung hilft mir, dass ich den ganzen Winter über in die Sauna gehe und anschließend eiskalt dusche.“
Die Faktoren, die zu einer Erfrierung führen, sind dieselben wie bei der Unterkühlung: tiefe Temperaturen, Feuchtigkeit und Wind genauso wie Erschöpfung oder unzureichende Kleidung. Auch eine hohe Luftfeuchtigkeit begünstigt Erfrierungen: Die Feuchtigkeit kondensiert an der exponierten Haut und entzieht dem Körper zusätzliche Wärme. Zudem sind durch Erfrierungen vorgeschädigte Körperteile besonders empfindlich und neigen bei erneutem Kältereiz leichter zu Kälteschäden.
An den oft betroffenen Zehen gilt: Zu enges Material, etwa die Kombination von engen Bergschuhen und zu straffen Steigeisen-Riemen, kann die Blutzirkulation vermindern und die Gefahr einer Erfrierung begünstigen. „Weltbekannte Bergsteiger haben sich durch den Einsatz enger, neuer Schuhe Erfrierungen an den Zehen geholt“, so Paal. Leichte Erfrierungen an Händen und Füßen können am eigenen oder fremden Körper unter den Achseln oder zwischen den Oberschenkeln aufgetaut werden. Niemals mit Schnee einreiben – auch keinen Alkohol trinken. Sind die Extremitäten innerhalb von zehn Minuten wieder gut durchblutet und keine Gefühlsstörungen vorhanden, kann die Tour womöglich fortgesetzt werden.
Erfrierungen des schwersten Grades mit nekroti- schem (d. h. abgestorbenen) Gewebe mehrere Wochen nach dem Erfrierungsunfall. Eine chirurgische Amputation an der „Demarkationsfurche“ ist unausweichlich. Von drittgradigen Erfrierungen sind vorwiegend jene Körperstellen betroffen, die neben Kälteeinfluss auch einer längerfristigen Druckeinwirkung (bei Zehen durch enge Schuhe oder Steigen in Frontalzackentechnik) oder einer starken Windeinwirkung (Nase oder Ohren) ausgesetzt sind.
Bei schweren Erfrierungen muss umgehend umgedreht werden. In der Regel ist es sinnvoll, die Gliedmaßen erst dann aufzutauen, wenn man bis zur Hütte oder ins Basislager abgestiegen ist, da ein erneutes Einfrieren den Schaden verstärkt. Mittlere und schwere Erfrierungen sollte man wie eine Wunde behandeln: steril einpacken, falls vorhanden, Antibiotika geben. „Außerdem warm und hoch lagern, damit die Extremitäten wieder durchblutet werden“, rät Paal.
An einem geschützten Ort sollten die Extremitäten in 40 bis 42 °C heißes Wasser mit jodhaltiger Desinfektionslösung gelegt werden, jedoch nicht länger als 30 bis 40 Minuten, da sonst Keime durch die aufgeweichte Haut eindringen könnten. Extremitäten nicht massieren, stattdessen Spannungsblasen nur steril verbinden und ebenfalls hoch lagern. Eventuell Schmerzmittel oder Antibiotika verabreichen. Aspirin fördert die Durchblutung. Die Diagnose, die Behandlung sowie die Zeit nach dem Auftauen sollte immer ärztlich betreut werden. Und generell gilt: Eine Unterkühlung unter 32 °C ist immer lebensbedrohlich, eine lokale Erfrierung zu Beginn nie. Deswegen hat die Behandlung der Unterkühlung absolute Priorität.
7. Tipps und Tricks zur Vorbeugung
Um Unterkühlungen und Erfrierungen zu vermeiden, spielt die richtige Bekleidung naturgemäß eine herausragende Rolle. Jenseits des Zwiebelprinzips helfen auch noch weniger bekannte Tricks:
- Speziell beim Bergsteigen in größeren Höhen ist das Atmen unter einer Schutzmaske oder einem Buff sinnvoll, da so die Atemluft befeuchtet wird, was den Wärmeverlust über die Atmung reduziert. Zudem reduziert es den bekannten Höhenhusten, der durch die geschädigten Schleimhäute bei trockener und kalter Luft entsteht.
- Wer auf Skitour häufig mit kalten Händen zu kämpfen hat, sollte hin und wieder die „Langlaufhaltung“ der Arme unterbrechen oder die Stöcke kürzer stellen, damit die Hände besser mit Blut versorgt werden.
- Permanente „Greifübungen“ mit den Zehen regen auf Skitour die Durchblutung der Füße an.
- Steigeisen mit Kipphebelbindung engen weniger ein als solche mit Riemenverschluss.
- Und bei Eispickeln kann es sich bei längerer „Spazierstocktechnik“ lohnen, den metallenen Pickelkopf und -schaft mit etwas Schlauchband zu isolieren.
8. Kälte ist auch gut für unseren Körper
Trotz aller Gefahren ist nicht alles an Kälte schlecht für unseren Körper. Nach Sportverletzungen helfen Eispacks, Schwellungen im Zaum zu halten. Viele Leistungssportler baden nach dem Wettkampf in Eiswasser oder besuchen Kältekammern, um die Durchblutung der Muskeln zu fördern und schneller zu regenerieren. Kälte wird auch in der Medizin bei der Behandlung von Rheumaerkrankungen oder bei chronischen Schmerzen eingesetzt. Zu Beginn der 1980er- Jahre wurden in Japan die ersten Kältekammern entwickelt. „Der Patient bleibt einige Minuten in einem minus 110 °C kalten Raum“, erklärt der Sport-Physiotherapeut Gernot Fuchs, der am Klinikum Neuwittelbach eine Kältekammer betreut. „In der Kälte vermehren sich die Kälterezeptoren und die Schmerzrezeptoren werden blockiert.“ Wie bei einer Unterkühlung ziehen sich die Gefäße zusammen. Wenn der Patient nach maximal drei Minuten aus der Kammer kommt, öffnen sich die Gefäße wieder.
Man muss die Kälte lieben lernen, damit man sie aushält.
Evelyne Binsack
„Das Wärme-Kälte-Spiel fördert den Stoffwechsel: Die Gefäße werden stärker durchblutet und der Körper wird stärker versorgt“, sagt Fuchs. So könne er mit schmerzgeplagten Patienten arbeiten: Wenn der Schmerz kurzzeitig nicht da ist, können Gelenke wieder bewegt und mobilisiert werden. Einmal, so Fuchs, war auch ein Bergsteiger bei ihm. Über vier Wochen wollte er sich in der Kältekammer für die trockene Kälte am höchsten Berg der Erde vorbereiten. Nach solch einer akribischen Vorbereitung könnte man diesem Mann höchstens noch den Sinnspruch der Schweizer Extrem-Bergsteigerin Evelyne Binsack mit auf den Weg geben: „Man muss die Kälte lieben lernen, damit man sie aushält.“