Jorg Verhoeven: Über Klettern & psychische Probleme
Die Frage scheint profan, aber an dieser Stelle angemessen: Wie geht es dir heute, Jorg?
Im Grunde geht es mir gut. Ich habe im vergangenen Jahr angefangen, mir selbst das Leben schwer zu machen. Inzwischen habe ich die Geister, die ich rief, ganz gut im Griff. Das hat lange gedauert, und ich werde sie nie ganz loswerden, aber ich habe mich mit ihnen arrangiert. Das war ein wichtiger Schritt, denn jetzt kann ich weitermachen.
Konkret nachgefragt: Du leidest an Depressionen, richtig?
Mein Therapeut sagt, es handle sich um „Anpassungsstörungen“ – sie entstehen, wenn man mit einer bestimmten Lebenssituation nicht umgehen kann. Das kann zu Schizophrenie, Angstzuständen oder Depressionen führen, wie es bei mir der Fall ist. Ich habe durch Tod und Konflikte Menschen verloren, die sehr wichtig für mich waren. Damit kam ich nicht zurecht. Zu akzeptieren, dass ich gegenüber Entwicklungen machtlos bin, war extrem schwierig.
Kannst du beschreiben, wie sich die Krankheit bei dir ausgewirkt hat?
Ich war überrascht, dass man sie so physisch spürt. Ich habe immer gedacht, Depressionen, da geht es dir halt schlecht, du fühlst dich traurig. Es hat mich schockiert, wie der ganze Körper mitgenommen wird. Du steckst in einer Endlosschleife, in der du immer weiter runterrutschst, bis nichts mehr passiert. Ich habe in meiner Wohnung keinen Balkon, deshalb habe ich ein Portaledge aus dem Fenster gehängt. Darin habe ich tagelang gelegen, ohne irgendetwas zu tun, komplett apathisch, nicht mehr funktionsfähig. Es ist extrem schwierig, da wieder rauszukommen, obwohl ich ein gutes Umfeld habe. An Klettern war gar nicht zu denken, zum ersten Mal in meinem Leben.
War dir schon damals, vor etwa anderthalb Jahren, bewusst, dass du Depressionen hast?
Man kriegt das selbst gar nicht so mit. Irgendwann hat man es rational verstanden. Ich habe mich sozusagen selbst von außen beobachtet. Gleichzeitig war ich in einem Zustand, der so weit weg war von allem, was ich kannte, dass ich nichts dagegen unternehmen konnte. Das ist, als würde man immer wieder in Löcher fallen, für Tage bis Wochen. Heute sind diese Löcher weniger tief – und ich merke erst jetzt, in welchen Abgründen ich davor steckte.
Am 21. Mai 2021 klettert Jorg die Route „Total Brutal“ (8b+) im Zillertal solo. Die Route ist stark überhängend; würde man am Ausstieg stürzen, fiele man auf eine stark befahrene Straße. Noch am selben Tag veröffentlicht Jorg auf seinem Instagram-Account ein Video seiner Begehung. Dieses unterlegt er mit der Prélude in E-Minor, Opus 28, Nummer 4, von Frédéric Chopin. Sie trägt den Titel „Suffocation“, Erstickung.
Dazu schreibt er: @jorgverhoeven, 21. Mai 2021
Heute bin ich „Total Brutal“ (8b+) als Highball geklettert. In den sozialen Medien werden in der Regel die schönen und glücklichen Momente dargestellt, aber das ist nicht alles, was es gibt. Das bin ich, in diesem Moment, vollkommen aus der Balance, unzufrieden mit mir, meinen Entscheidungen und Taten. Das bin ich, darum kämpfend, mich lebendig zu fühlen, am Leben zu bleiben, einen Platz zu finden, an dem ich diese ständig nagenden Emotionen teilen kann, ohne Menschen zu verletzen, außer möglicherweise mich selbst. Ich bin nicht stolz auf das, was ich heute bin. Das Einzige, was ich tun kann, ist, an mir selbst zu arbeiten, um so zu sein, wie ich sein will. So, wie einige glauben, dass ich sei.
Du hast deine Erkrankung mit einem Instagram-Post auf spektakuläre Weise öffentlich gemacht …
Ja, vielleicht war das ein Fehler. Die ganze Situation war damals neu für mich und ich habe versucht, den Knoten aus Emotionen zu zerschlagen, in dem ich verstrickt war. Und sie damit loszuwerden. Gleichzeitig wollte ich mich wieder selbst spüren, und der Highball in „Total Brutal“ – ich sehe das nicht als Solo-Klettern – war ein Mittel dafür.
Du hast eine Kamera und ein Smartphone aufgestellt und dich bei der Begehung aus zwei Perspektiven selbst gefilmt. Hattest du schon vorher die Absicht, das Video zu veröffentlichen?
Ja, auf jeden Fall. Damals haben ein paar gute Freunde gewusst, was mit mir los ist, die meisten Leute nicht. Ich bin in der Kletterhalle rumgelaufen wie ein Geist. Natürlich sprechen dich viele an, und irgendwann wollte ich einfach nichts mehr erzählen. Gleichzeitig tat es mir leid, meine Freunde und Bekannte nicht teilhaben zu lassen, das war wie ein Vertrauensbruch. Ich habe also eine Form gesucht, in der ich äußern kann:
„Leute, mir geht’s nicht gut, lasst mich in Ruhe, ich arbeite dran.“
Jorg Verhoeven
Dann war das eine Art Hilfeschrei?
Nein, ich war zu diesem Zeitpunkt noch nicht offen für Hilfe. Erst kurz danach habe ich eine Therapie begonnen. Ich wusste einfach nicht, wohin mit meinen Gefühlen. Für mich hat das gut funktioniert. Alle haben gewusst, okay, dem Jorg geht es nicht gut. Und ich war meine Emotionen vorübergehend los. Aber für die Menschen, die nahe an mir dran sind, war es ein Schock. Sie konnten das nicht einordnen: War das jetzt ein Suizidversuch, will er einfach Dampf ablassen? Das war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst.
@jorgverhoeven, 30. Mai 2021
(…) Es geht mir jetzt viel besser als vorher, und ich baue mein Leben wieder auf, anstatt es zu zerstören. Es gibt viele Menschen, die mir dabei helfen, und ich bin dankbar für alle Nachrichten, die ich erhalten habe. (…) Ironischerweise habe ich über schlechte Entscheidungen geschrieben, denn die Begehung von „Total Brutal“ war eine davon; andere wurden gefährdet und geliebte Menschen verletzt. Das zeigt, wie sehr ich überfordert war, wovon ich mich langsam erhole. Die Zukunft sieht im Moment nicht allzu rosig aus, aber ich gebe alles, um auf bessere Tage hinzuarbeiten und zu akzeptieren, dass die Dinge sind, wie sie sind, dass ich damit leben und das Beste daraus machen muss. Klettern hilft in solchen Momenten immer, und ich tue mein Bestes, um aus meiner Wackelpuddingform herauszukommen.
Es gab viele Reaktionen auf deinen Post. Viele Menschen haben sich Zeit genommen, sich Gedanken gemacht, dich aufgemuntert, dich kritisiert. Wie bist du damit umgegangen?
Ich habe zunächst gar nicht realisiert, dass der Post so viele Reaktionen bekam. Viele haben nur registriert, dass ich irgendeine Tour solo geklettert bin und kommentierten dann „voll geil“ oder „super gemacht“. Dass mein Tun gefährlich ist und dass ich auch andere in Gefahr bringen könnte, darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Das war eigentlich das größte Problem. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt. So sehr, dass ich außer Acht gelassen habe, was für eine Wirkung der Post auf meine Familie und mein enges Umfeld haben könnte. Ich habe ihn dann gelöscht, weil mir klar wurde, das geht in eine falsche Richtung. Das ist nicht das, was ich bezwecken wollte.
Wie blickst du heute auf den Alleingang, die Veröffentlichung, deine Selbstzensur zurück?
Es tut weh, dass ich damit Menschen in Schwierigkeiten gebracht und Freundschaften gefährdet habe. Das hört auch nicht auf, es ist Teil meines Lebens geworden. Irgendwie muss ich damit zurechtkommen.
War die Wahl des Mediums Instagram ein Teil des Problems?
Das haben viele Menschen so gesehen, aber ich glaube nicht. Ich hatte anfangs meine Probleme damit, soziale Medien zu nutzen. Instagram ist eine „Schau mal, wie lässig mein Leben ist!“-Plattform. Meine Absicht war, auch die Zeiten zu zeigen, in denen es mir nicht gut geht. Ich habe auf den Post viele Direktnachrichten erhalten: Unterstützung, Rat, Hilfe, aber auch Nachrichten von Leuten, die mit ähnlichen Problemen kämpfen und froh sind, dass jemand offen darüber spricht. Nachdem ich die akute Phase der Krankheit hinter mir hatte, habe ich weiterhin gepostet, wie es mir geht. Mir hat das gutgetan. Sobald man etwas niederschreibt, lastet es nicht mehr auf der Seele. Und es hilft, vielleicht auf eine schräge Art und Weise, auch anderen Menschen.
Die Ehrlichkeit und Offenheit, mit der du deine Posts geschrieben hast, ist entwaffnend und berührend zugleich. Obgleich du über Schwäche sprichst, scheint dahinter eine große Stärke zu liegen.
Ich habe kein Problem damit, mich verletzlich zu zeigen. Ich habe gewusst, dass viele Menschen mit ähnlichen Situationen kämpfen – aber ich war überrascht, wie viele es wirklich sind. Ich denke, man muss sich nicht schämen für Fehler, die man gemacht hat.
Ich habe kein Problem damit, mich verletzlich zu zeigen.
Jorg Verhoeven
Glaubst du, dass sich gesellschaftliche Entwicklungen in den sozialen Medien spiegeln?
Social Media spiegelt nicht die Wirklichkeit wider, sondern verzerrt sie. Man sollte die Posts wie einen Roman lesen. Mir ist es wichtig, dass Social Media meine Welt zeigt. Wenn man es schafft, sein Leben so darzustellen, wie es wirklich ist, dann kann es interessant sein. Aber natürlich gibt es auch Teile meines Lebens, über die ich nicht spreche. Wir leben ja in der Realität eines postheroischen Zeitalters; auch wenn die klassische Heldensaga in Krisen- und Kriegszeiten wieder Konjunktur erfährt.
@jorgverhoeven, 10. Juni 2021
Ich versuche, nicht zu fallen, sondern wieder aufzustehen, doch mir ist kalt und ich fühle mich einsam, obwohl ich viele Freunde habe, die sich um mich kümmern. Ich bemühe mich sehr, glücklich zu sein, so wie es alle von mir erwarten, aber das ist leichter gesagt als getan. Ich weiß, dass meine letzten Beiträge deprimierend waren, und ich weiß, dass die meisten es vorziehen, einfach nur Kletteraktionen zu sehen. Trotzdem habe ich mich entschieden, auch das Schlimmste von mir zu posten, und nicht nur das Beste.
Wie schlägt sich das in den sozialen Medien nieder?
Ich habe die heroische Rolle von Leistungssportlern, besonders im Alpinismus, immer in Frage gestellt. Das Besteigen eines Berges, das Klettern einer schwierigen Route, der Gewinn eines Wettkampfes haben für mich nichts Heroisches. Indem ich meine eigenen Ängste thematisiert habe, konnte ich Menschen dazu ermutigen, sich selbst zu äußern.
So wie ich die Szene beobachte, bist du damit aber eine Ausnahme …
Leider, ja. …
denn auch wenn inzwischen mehr Athleten in den sozialen Medien über ihre Zweifel und Nöte berichten, tun sie das innerhalb ihrer Komfortzone. So kommt das Heldenhafte durch die Hintertür wieder hereinspaziert.
Das stimmt, so nach dem Motto: Ich habe Schwächen, so wie ihr, aber ich habe alles unter Kontrolle.
@jorgverhoeven, 13. August 2021
Langsam hellen sich die Tage auf. Ich habe aufgehört, gegen mich selbst anzukämpfen. Ich akzeptiere die Dinge, wie sie sind, und versuche, das Schöne darin zu sehen, nicht nur die dunklen Seiten. Es ist unglaublich, was ein Umdenken bewirken kann. Ich werde weiter daran arbeiten, mich wieder aufzurichten. Das bedeutet auch, gesünder mit Risiken umzugehen (im Grunde keine, bis ich stabiler bin), keinen Alkohol (ich habe gespürt, was er anrichten kann, wenn ich instabil bin) und weiterhin Dinge zu finden, die vertraut und sicher sind, die mir Freude bereiten. Es ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, aber er bedeutet mir viel. Und ich bin so dankbar für all die Hilfe, die ich von Menschen um mich herum bekommen habe (und immer noch bekomme).
Das ist doch ein Paradoxon, oder nicht?
Ich glaube, viele Athleten, oder sagen wir Social-Media-Promis, vergessen, dass sie nicht besser oder schlechter sind als diejenigen, die ihre Beiträge konsumieren. Damit verlieren sie ihre Authentizität. Weil sie ein Bild von sich vermitteln wollen, das nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Social Media könnte sehr viel lässiger und gesünder sein, als es jetzt ist. Wie die Entwicklung weitergeht, bestimmt die junge Generation. Aber wir älteren Akteure müssen eine Vorbildrolle einnehmen und uns genau überlegen, was wir bewirken.
Wie sollte man diese Rolle ausfüllen?
Zunächst einmal muss man ehrlich sein. Man muss nicht immer einen guten Tag haben, schön und erfolgreich sein – oder fest daran arbeiten, dass man schön und erfolgreich wird.
Du sprichst allerdings auch davon, dass du an dir „arbeiten“ willst …
Ja, aber ich sage auch, es ist okay, dass es mir schlecht geht. Es wird dauern, bis die Situation besser wird, und das passt auch. Man kann da nichts erzwingen. Wenn es nicht geht, dann geht’s nicht. Wenn die Leute schreiben würden, was sie fühlen, statt das, von dem sie glauben, dass ihre Follower es lesen wollen, wären wir einen Schritt weiter.
Die Frage ist, geht es beim Posten um den Inhalt oder um die Person, die postet?
Man darf nicht vergessen, dass Social Media auch ein Marketingtool sein kann. Oder eben ein Medium, um über Persönliches zu berichten. Ich habe beides gemacht, aber das ist schwierig zu kombinieren.
Die Philosophin Juliane Marie Schreiber sagt, wir lebten „in einer Zeit des Glücksdiktats“, in der „positives Denken eine neue Bürgerpflicht“ zu sein scheine. Spürst du als in der Öffentlichkeit stehender Athlet solchen Zwang?
Jedes Mal, wenn ich etwas Ehrliches schreibe, bekomme ich gute Resonanz. Die Leute, die meinen Kanälen folgen, folgen mir nicht, weil ich gut klettern kann. Sondern weil ich sie anspreche. Deswegen versuche ich, das so weiterzuführen. Ich muss meine Äußerungen nicht aus beruflichen Gründen sachlich halten. Ich möchte die Phasen zeigen, in denen es mir schlecht geht, ebenso wie die negativen Seiten meiner Persönlichkeit.
@jorgverhoeven, 9. Oktober 2021
Heute jährt sich der Todestag von Hayden Kennedy zum vierten Mal. Obwohl ich ihn kaum kannte, hat mich sein Selbstmord schockiert. Zusammen mit dem Tod zweier enger Freunde, David Lama und Hansjörg Auer, stand er oft im Mittelpunkt eines inneren Dialogs. Mir ging es nicht gut, und ich habe mich eine Zeitlang von Instagram ferngehalten … Ich vermisse es sehr, nach draußen zu gehen.
Es tut weh zu sehen, wie die sonnigen Tage vergehen, ohne dass ich draußen bin und gute Zeiten mit Freunden genieße. Ich vermisse meine Projekte und die Leidenschaft, mit der ich um Erfolg oder Misserfolg kämpfte. Ich vermisse die Motivation, die ich früher hatte, und die wie eine Flamme brannte … Und ich vermisse die Genugtuung, nach einem langen Tag am Fels müde zu sein und die Magie des Lebens zu spüren, für das ich mich entschieden habe.
Mein Energielevel ist auf dem Nullpunkt und ich komme kaum noch raus. Mein Portaledge, das Fitnessstudio und die Natur in der Nähe sind in diesen Tagen dankbare Orte. Ich tue mein Bestes, um die Hilfe zu bekommen, die ich brauche, professionelle Hilfe, aber ich bitte auch Freunde um ihre Energie und Liebe. Eines Tages … eines Tages werde ich zurück sein, und es wird wunderbar sein.
Damit übernimmst du auch eine große Verantwortung.
Ja, bewusst, denn wenn jeder nur noch über das Gute und Schönste schreibt, wird Social Media zu einer toxischen Umgebung. Wenn man nur noch perfekte Rolemodels zu sehen bekommt, zweifelt man schnell an seinem eigenen Leben. Dabei ficht doch jeder seine Kämpfe aus, auch in unserer Bergsteigerwelt. Obwohl es da bei vielen so leicht und spielerisch aussieht.
Irgendwann kippt die Show ins Lächerliche.
Jorg Verhoeven
Befürchtest du, dass die Generation Z einen größeren Druck verspüren wird, vermeintlichen Vorbildern nachzueifern?
Ich kann mir fast nicht vorstellen, dass das geschieht. Irgendwann kippt die Show ins Lächerliche. Viele Accounts sind so voller Fakes, mehr geht gar nicht. Und das merken die Menschen natürlich. Ich glaube eher, dass die Tendenz in die andere Richtung gehen wird. Dass sich mehr Menschen trauen werden zu zeigen, ich habe gerade einen Durchhänger. Und dann merken, dass das gar nicht so schlimm ist.
Können die sozialen Medien in diesem Sinne sogar Gutes bewirken?
Auch wenn es einem zunächst komisch vorkommt, persönliche Nachrichten von Menschen zu erhalten, die man nicht kennt und nie kennenlernen wird, waren in meinem Fall einige dabei, die mir weitergeholfen haben. So entsteht ein Geben und Nehmen. Tatsächlich hat sich mein Verhältnis zu den Menschen, die mir auf Instagram folgen, geändert. Ich bin weniger Darsteller, sondern mehr Geschichtenerzähler, der Reaktionen empfängt und daraufhin ein Gespräch eingeht. Das überrascht meine Follower oft. Ich finde, das ist eine gesunde Art, mit Social Media umzugehen.
@jorgverhoeven, 25. Oktober 2021
Kurztrip nach Arco: zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder am Fels. Ich habe eine neue Linie im „Hotel Olivo“ geklettert und sie „Hopeless Romantics“ genannt, fünf Sterne, 8c. Was wichtiger ist, ich habe wieder ein Lächeln in mein Gesicht gezaubert. Ich blicke den Menschen wieder in die Augen, statt auf den Boden zu starren. Ja, das Leben ist ein Kampf, aber ich zwinge mich, positiv zu sein und das Beste daraus zu machen.
Das Leben ist zu schön, um es in ständiger Depression und Verzweiflung zu leben, die Menschen um mich herum so sehr zu belasten. Ich habe beschlossen, dass es wieder aufwärts geht, und im Moment bin ich auf der Gewinnerseite. Das Klettern spielt dabei eine große Rolle. Es gibt mir Motivation, Beschäftigung und einen Sinn. Es ist das Einzige, das mich nie im Stich gelassen hat.
Bessere Tage stehen vor der Tür.
Du bereust es demnach nicht, einen derart tiefen Blick in deine Seele zugelassen zu haben?
Lustigerweise nicht. Es ist für mich okay, und ich würde das wieder genauso machen. Indem ich von mir erzählt habe, habe ich auch viel über mich gelernt. Das nehme ich positiv mit.
Social Media ist nicht das richtige Leben.
Jorg Verhoeven
Sollten wir alle damit beginnen, das Konzept der Perfektion zu dekonstruieren?
Es ist naheliegend, auf Social Media nur die schönen Seiten zu zeigen. Die Struktur des Mediums bringt zahlreiche Einschränkungen mit sich – ich kann auch auf die Posts, die von etwas Negativem berichten, nur mit einem Herzchen reagieren. Das ist per se seltsam. Aber Social Media ist nicht das richtige Leben. Mein Rat wäre, sich gut zu überlegen, was man mit Social Media überhaupt bezwecken will. Und das Ganze nicht zu ernst zu nehmen.
Jorg Verhoeven. Der niederländische Wahl-Innsbrucker Jorg Verhoeven, 37, ist einer der besten Allroundkletterer seiner Generation. Mit „Korrida“ im slowenischen Misja Pec flashte er bereits 2006 eine Route im Schwierigkeitsgrad 8c. Zwei Jahre später gewann er den Weltcup in der Disziplin Lead. Er bouldert auf höchstem Niveau und konnte mit „The Nose“ und „Dihedral Wall“ (beide 5.14) zwei ikonische El-Capitan-Routen frei klettern. Mit seinem Freund und Seilpartner David Lama (1990–2019) erlebte Jorg zahlreiche alpine Abenteuer – „Fuzzys“ tödlicher Unfall geht ihm bis heute nahe.