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Der Eisbär als Ikone der Klimakrise.
26. Mai 2023 - 16 min Lesezeit

Bergsteigen in Zeiten der Klimakrise: Prof. Georg Kaser im Interview

Der Sprung ins kalte Wasser oder die Erklärung, warum die Frage nach sich verändernden Bedingungen für das Bergsteigen durch den Klimawandel am Ende keine wichtige sein wird.

Herr Kaser, Sie sind selbst viel in den Bergen unterwegs, haben bereits zur Zeit Ihres Studiums in Innsbruck viele Berge bestiegen. Was hat sich im Laufe der Jahre verändert?

Im Wesentlichen würde ich sagen, ich habe vor allem mich selbst verändert. Wenn ich aber eine Änderung über die Zeit festmachen müsste, dann würde ich sagen, alles ist viel besser, leichter und schneller erreichbar geworden – durch Straßen, das eigene Auto und Seilbahnen. Natürlich sehe ich eine deutliche Veränderung in der Vergletscherung, vor allem bei jenen Gletschern, die ich selber gut kenne und wissenschaftlich untersucht habe.

Hier haben wir diese kontinuierliche Veränderung vermessen und dokumentiert. Markant ist es, wenn man einen Gletscher irgendwann komplett aus der Messung nehmen muss, weil er per Definition schlicht kein Gletscher mehr ist. Das ist uns mit dem Weißbrunnferner im Ultental so gegangen. Ich lebe selbst in einem Bergdorf, muss also nicht mehr ständig in die Berge gehen.

Prof. Georg Kaser

Portrait Georg Kaser
Foto: Peter Neuner

1953 in Meran geboren, studierte Meteorologie, Geophysik und Geographie an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Er ist einer der international renommiertesten Klimaforscher und war zwischen 2003 und 2022 zweimal Leit-Autor und dann zweimal Review Editor in Berichten des Weltklimarates IPCC. Georg Kaser ist wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und derzeit Vizepräsident für Natur- und technische Wissenschaften des Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung in Österreich, FWF. Zusätzlich war er Co-Koordinator des wissenschaftlichen Beirates für den Österreichischen Klimarat der Bürger*innen und berät diverse Gremien in Sachen Klimawandel.

Aber ich nehme schon ein erhöhtes Gefahrenpotential vor allem aufgrund des Gletscherrückganges, aber auch aufgrund des Schmelzens des Permafrosts – seit 2003 ist davon bei uns nicht mehr viel übrig – wahr. Wo früher Eis oder Firn war, findet man heute instabiles Moränengelände oder einen brüchigen Felsgrat. Generell sind unsere Berge ja nicht die Stabilsten.

Im Rahmen von Forschungsarbeiten waren Sie schon früh – in den 1970er-Jahren – am Hintereisferner in den Ötztaler Alpen tätig. Auch wenn Sie sich dann im Zuge Ihrer Habilitation mit tropischen Gletschern befasst haben, sind Sie in den letzten Jahren wieder ins Rofental zurückgekehrt. Den Hintereisferner müssen Sie ja praktisch wie Ihre Westentasche kennen. Wie hat sich der Gletscher in den letzten 30 Jahren verändert?

Der Hintereisferner hat sich massiv verändert. Messstation auf dem Eis, die ich für meine Doktorarbeit in den 70er-Jahren benutzt habe, stehen heute 50 bis 100 Meter tiefer. Die Gletscherzunge ist um einige Kilometer zurückgegangen. Damals war der Hintereisferner ein stolzer, ein mächtiger Gletscher. Jetzt ist er nur mehr ein Abglanz davon.

Ein Negativrekord wurde heuer dort oben jedenfalls schon eindeutig gebrochen: Der Tag, an dem die Massenbilanz des Hintereisferners ins Negative rückt (Anm.: wenn alle Masse abgeschmolzen ist, die in der kalten Jahreszeit hinzugekommen war), war heuer bereits am 22. Juni erreicht. Zum Vergleich: Im Rekordjahr 2003 ist dieser Tag Ende Juli – also fünf bis sechs Wochen später. Auch damals begann es mit einem schneearmen Winter gefolgt von einem trockenen, warmen Frühling und Frühsommer, aber der Gletscher war damals noch „gesünder“.

Als Wissenschaftler an der Uni Innsbruck führten Sie glaziologische Forschungsprojekte in alle Welt – wie verändern sich die Gletscher alpenweit und wie weltweit?

Bei meinen Forschungsprojekten ging es immer darum, Prozesse im Austausch zwischen Gletscheroberfläche und Atmosphäre zu untersuchen, nicht um Langzeitbeobachtungen. Aber natürlich wissen wir von Monitoringsystemen und Satellitenbildern, dass die Gletscher, bis auf ganz wenige Ausnahmen mit bekannter Ursache, weltweit stark ihre Masse verlieren. Ihr Rückgang trägt jährlich mit mehr als 1 mm zum Meeresspiegelanstieg bei.

Georg Kaser Bergsteiger Baltorogletscher Juni 1982
Georg Kaser als Bergsteiger am Baltorogletscher, Karakorum, Juni 1982. Fotos: Archiv Kaser

Vor zehn Jahren betrug der jährliche Meeresspiegelanstieg in Summe 3 mm, heute bereits 4,4 mm. Dieser Betrag stammt zu ungefähr gleichen Teilen von der thermischen Ausdehnung des Ozeanwassers, von den Eisschilden der Pole und eben von den abschmelzenden Gletschern. Vor allem die großen Gletscher in Alaska, der kanadischen Arktis und in Patagonien tragen durch ihre jetzt rasch voranschreitende Schmelze massiv zum Meeresspiegelanstieg bei.

Warum werden im Zuge des Klimawandels immer wieder die Gletscher als Versinnbildlichung herangezogen? Wären die Alpen ohne Gletscher eine so dramatische Vorstellung?

Die Gletscher haben in der Tat eine starke Signalwirkung, denn der globale Trend des Rückgangs kann nur durch den menschgemachten Klimawandel erklärt werden. Unsere Gletscher in den Alpen haben schon vor über 50 Jahren ihre „Erinnerung“ an das Ende der Kleinen Eiszeit verloren, ihr jetziges Schrumpfen ist alleine dem menschgemachten Klimawandel zuzuschreiben. Die großen Gletscher der Arktis, in Patagonien und auch im Himalaya sind gerade dabei ihre letzte „Erinnerung“ an das Ende der Kleinen Eiszeit endgültig zu verlieren.

Die Gletscher haben in der Tat eine starke Signalwirkung, denn der globale Trend des Rückgangs kann nur durch den menschgemachten Klimawandel erklärt werden.

Das „Messgerät Gletscher“ kann uns – rechnet man die zeitliche Verzögerung des Abschmelzens mit ein – sehr viel über den aktuellen Klimawandel sagen. Wenn bei uns in den Ostalpen die Gletscher verschwinden, beeinflusst das die Wasserverfügbarkeit in den Tälern und im Vorland nur sehr gering. Die Gewässer werden im Frühling und Sommer, wie auch das Grundwasser, hauptsächlich von der Winterschneedecke gespeist, der Gletscherabfluss spielt nur kleinräumig eine Rolle. Eher kann es dazu kommen, dass durch das freiwerdende lose Material z. B. Geschiebesperren bei Kraftwerkszuleitungen verlegt werden. Dass Wanderwege gesperrt oder alternativ geführt werden müssen bzw. Zustiege bis zum Gletscher schlicht viel mühsamer werden, sehen wir jetzt schon.

Der Rückgang unserer Gletscher berührt uns eher emotional. In den Mulden werden aber schöne Seen entstehen, von unten her wird es grüner – und durch die aufkommende Vegetation auch wieder stabiler, spezielle Pflanzen werden allerdings verloren gehen, was auch ohne Gletscherrückgang bereits zu beobachten ist.

Ob man also die Alpen auch ohne Gletscher schön findet, ist Geschmackssache. Die rasche Veränderung ist aber etwas, das den Menschen unter die Haut geht.

Neben dem Gletscherrückgang spricht alle Welt vom Permafrost. Sein Auftauen macht nicht nur in der Tundra Probleme, sondern auch in den Alpen, was das Observatorium am Sonnblick schon mehr als deutlich zu spüren bekommen hat. Gibt es Aufzeichnungen, die belegen, dass Felsstürze in den letzten Jahren häufiger auftreten?

Der Permafrost hatte – und ich sage hier bewusst hatte, denn seit 2003 haben wir in den Ost- und Südalpen den meisten verloren – in den Alpen eine festigende Funktion. Wir sehen heute verzögerte Folgeerscheinungen. Ohne den Kitt des Permafrostes bricht der ganze Berge ja nicht gleich in sich zusammen, aber er verliert an Festigkeit. Wenn dann z. B. Wasser in Ritzen eindringt und fallweise gefriert, können Felsmassen leichter wegbrechen.

Wird Bergsport durch den Klimawandel, durch Steinschlag, Gletscherbrüche oder schlicht durch das Wetter gefährlicher? Oder in mancherlei Hinsicht vielleicht auch einfacher? Oder sollten wir nicht von Bergsport sprechen, sondern allgemein vom Leben und Wirtschaften in den Bergen?

Dass eine drastische Häufung von Steinschlagereignissen auftritt, kann ich so nicht sagen – dazu kenne ich keine Aufzeichnungen. In Summe steigt das Gefahrenpotential durch den Klimawandel wenigstens vorübergehend sicher an. Unter anderem nehmen Starkniederschlagsereignisse zu und dadurch auch Murenabgänge. Was wir schon deutlich beobachten können, ist, dass in niederen Lagen auch mitten im Winter immer öfter Regen fällt, was dann zu bisher unüblichem Steinschlag, Hangrutschungen und Muren führt.

Zunehmend extreme Wetterbedingungen sind eine immer größere Herausforderung beim Bergsteigen. Allerdings sind die Wettervoraussagen viel besser geworden und Gewitterwarnungen sollte man ernst nehmen. Gewitterzellen haben heute sehr oft viel mehr Wasser und Energie in sich, entwickeln sich größer und bleiben länger an einem Ort, wodurch es punktuell – Beispiel Stubaital Ende Juli 2022 – zu massiven Vermurungen kommen kann.

Dass Gewitterzellen oder auch Hitzewetterlagen zunehmend länger „stehen“ bleiben, hat mit der unterschiedlich raschen Erwärmung zwischen der Arktis und den mittleren Breiten zu tun. In der Arktis ist es bereits um vier bis sechs Grad wärmer geworden, in den mittleren Breiten aber im Mittel erst um ein bis eineinhalb Grad. Das heißt, der Temperaturgradient ist kleiner geworden und damit verliert die Antriebsfeder für die Westwinde ihre Kraft. Gleichzeitig sind aber mehr Wasser und mehr Energie in der Atmosphäre.

Man kann heute mit Sicherheit sagen, Extremwetterereignisse sind häufiger und stärker geworden und werden mit zunehmender Klimaerwärmung noch häufiger und stärker.

Das Zusammenspiel von verstärkten vertikalen und abgeschwächten horizontalen Effekten nimmt also aktuell eine unglückselige Entwicklung. Man kann heute mit Sicherheit sagen, Extremwetterereignisse sind häufiger und stärker geworden und werden mit zunehmender Klimaerwärmung noch häufiger und stärker. Dass im Zusammenspiel von Extremwetter und viel lockerem Material, Frostwechsel und der immer größer werdenden Zahl von Menschen, die aktuell in den Bergen unterwegs sind, immer wieder Probleme auftreten, ist vorprogrammiert.

Sie waren bereits zweimal Leit-Autor des IPCC-Berichtes des Weltklimarates der Vereinten Nationen, im jüngsten, sechsten Bericht, waren Sie Review Editor. Sind Sie es nicht schon längst müde, Fragen wie oben zum Thema Bergsport zu beantworten?

Nein, ich bin es nicht leid, über jene Themen zu sprechen, die die Leute unmittelbar berühren. Wenn ich sie dort abholen und auf die dringlichere, größere Problematik aufmerksam machen kann, ist das gut. Egal, ob es sich um Südtiroler Obstbauern handelt, die auf mich zukommen und wissen wollen, wie sie sich auf zunehmende Wasserarmut vorbereiten sollen, oder um Bergsteiger, die Bedenken ob des steigenden Gefahrenpotentials haben.

Pasterze am Großglockner schrumpft bedrohlich
Fieberthermometer der Alpen: Lange werden uns die Gletscher, wie hier im Bild die Pasterze am Großglockner, nicht mehr erhalten bleiben. Foto: Peter Würth

Ich versuche dann immer, die Aufmerksamkeit auf die großen Probleme ins Bewusstsein zu rücken – z. B. das Eindringen von Salzwasser ins Etsch- und Podelta aufgrund der großen Trockenheit als das ernährungstechnisch auch für Südtirol weit größere Problem als den Ausfall einer Obsternte in Südtirol zu sehen. Da geht es dann um Anpassungsmaßnahmen auch über den eigenen Tellerrand hinaus.

Der Natur mehr Platz zurückgeben, Auwälder als Rückhaltebereiche zu schaffen, die Wasserspeicherkraft der Böden zu fördern, das wären Ansätze, die die Wasserproblematik positiv beeinflussen könnten bzw. von Städten zur Milderung der Auswirkungen des zunehmenden Klimawandels auch eingefordert werden müssten.

Im Gespräch mit anderen Personen kommt immer wieder die Frage, was denn nun so dramatisch an ein paar Grad mehr sein kann, bzw. dass es so schlimm schon nicht werden wird. Können Sie uns in einfachen Worten erläutern, warum 1 Grad globaler Temperaturanstieg schon viel ist, 2 Grad vielleicht noch zu bewältigen wären und warum alles darüber fatal wäre?

Wir haben hier ein grundlegendes Kommunikationsproblem: 1 Grad mehr in Innsbruck oder auf der Franz-Senn-Hütte spielt keine Rolle. Bei langanhaltenden Hitzeereignissen kann die Temperatur dann auch um bis zu 5 Grad höher liegen. Das verursacht dann durchaus Probleme, aber man kann sich wehren und davor schützen.

Aber davon reden wir nicht, wenn wir den Anstieg der global gemittelten Oberflächentemperatur der Erde beobachten. Dieser ist der Ausdruck des Anstiegs des Energieinhaltes im Klimasystem. Von 1971 bis 2018 hat die zunehmende Konzentration von Treibhausgasen den energetischen Zustand des Klimasystems um 100 000 000 000 000 000 000 (1×1020) kWh angehoben.

Das sind gigantische Energiemengen, die allerdings derzeit zu 89 Prozent von den Ozeanen aufgenommen werden, vier Prozent der Energie geht in das Schmelzen der Kontinentaleismassen, sechs Prozent in die Landoberfläche und nur ein Prozent in die Atmosphäre.

Ohne die große Wärmeaufnahme der Ozeane hätten wir heute schon eine um 36 Grad wärmere Welt erzeugt.

Mit dem bisherigen Anstieg der globalen Mitteltemperatur um 1,1 Grad erleben wir bereits sozusagen schleichende Veränderungen wie den Anstieg des Meeresspiegels und das Wandern von Vegetationszonen in höhere Breiten und größere Höhen. Zudem erleben wir bereits eine massive Häufung und Verstärkung von Extremereignissen. Neben den atmosphärischen Veränderungen verändern sich auch die Ozeanströmungen.

Strahlungsmessgeräten an der Eiswand des Northern Ice Field, Kibo, Kilimandscharo
Georg Kaser bei der Installation von Strahlungsmessgeräten an der Eiswand des Northern Ice Field, Kibo, Kilimandscharo. Fotos: Archiv Kaser

Dass der Golfstrom beispielsweise langsamer wird, wissen wir mittlerweile mit Sicherheit. Würden wir dem Klimasystem jetzt noch einmal 50 Prozent mehr Energie zuführen – das würde dem Pariser Klimaabkommen mit 1,5 Grad entsprechen –, dann würde sich alles, was wir jetzt schon an Extremereignissen und schleichenden Veränderungen sehen, deutlich verstärken. Anpassungen werden immer schwieriger und teurer und irgendwann unmöglich werden. Schon heute verlieren 200 bis 300 Millionen Menschen jährlich vorübergehend oder für immer ihre Lebensgrundlage.

Es vergeht kein Tag ohne Meldungen von Überschwemmungen, Dürren und Hitzewellen mit vielen Opfern irgendwo auf der Erde. Gleichzeitig wissen wir, das 1,5-Grad-Ziel ist kaum mehr einzuhalten. Wir müssen vermutlich auf eine 2-Grad-Begrenzung hoffen. Das würde die vom Menschen bereits heute angehäufte Energie verdoppeln. Große Regionen der Erde werden dann für den Menschen unbewohnbar sein.

Seit rund 15 Jahren spricht man in der Klimawandelforschung von sogenannten Kipppunkten. Welches sind die wichtigsten und was passiert, wenn wir diese erreichen? Haben wir einige davon schon erreicht?

Es gibt Subsysteme im Klimasystem, die sich ab einer gewissen Veränderung verselbständigen können. Dazu gehört beispielsweise das Grönländische Inlandeis: Seit ein paar Jahren beobachten wir in den höchsten Regionen Schmelze und im Sommer 2021 sogar Regen. Je niedriger das „Gipfeleis“ wird, umso wärmer wird seine Umgebung (ca. 0,6°C pro 100 m) und desto mehr Eis schmilzt.

Da das Grönländische Inlandeis nicht auf Bergen sitzt, könnte auch eine Abkühlung auf vorindustrielle Werte das Eis dann nicht mehr wachsen lassen. Im Grönländischen Eisschild stecken mehr als 6 Meter Meeresspiegelanstieg. Weitere potentielle Kippelemente sind die Westantarktis, der Amazonas Regenwald, der Golfstrom und auch Korallenriffe.

Besprechung vor dem Aufbruch zum Kibo.
Besprechung mit dem Bergführer Joel Siao, Moshi, vor dem Aufbruch zum Kibo. Fotos: Archiv Kaser

Vor allem aber geht vom Permafrost in den nördlichen Breiten eine große Gefahr für das Klima aus. Dort sind große Mengen von Kohlenstoff im Boden gebunden, die durch das Auftauen in Form von Methan und CO2 in die Atmosphäre gelangen. Das würde den Klimawandel enorm beschleunigen. Aktuell sind die Anstiege von globaler Mitteltemperatur an der Erdoberfläche und CO2- Gehalt in der Atmosphäre noch gleichlaufend.

Wenn aber eines oder mehrere dieser Subsysteme kippen, dann werden wir eine exponentielle Kurve haben, das Klimasystem der Erde wird dann auch als Ganzes thermodynamisch kippen. Das wäre dann wohl das Ende der Kulturgeschichte der Menschheit. Von diesen potentiellen Kipppunkten kommen zunehmend alarmierende Beobachtungen.

Es gibt Subsysteme im Klimasystem, die sich ab einer gewissen Veränderung verselbständigen können. Das wäre dann wohl das Ende der Kulturgeschichte der Menschheit.

Wir gehen davon aus, dass sie bei 1,5 Grad gerade noch zu halten wären. Jedes Zehntel Grad mehr könnte aber schon zu viel sein. Wir befinden uns in einer extrem dramatischen Situation. Die Frage, ob man in Zukunft noch Bergsteigen wird können wird sich dann wohl nicht mehr stellen.

Die Datenlage ist also erschlagend und wie Sie selbst schon einmal formuliert haben, selbst die kritischsten Journalisten haben aufgehört, Gegendarstellungen zu suchen. Warum wollen die meisten Menschen von den „Weltuntergangsszenarien“ nichts hören? Was läuft schief in der Kommunikation?

Ein Problem, das Sie mit Ihrer Frage anschneiden, war lange Zeit getragen von guten Qualitätsjournalisten, die – ich gehe davon aus, dass Sie „kritisch“ im konstruktiven Sinne meinen – einige Zeit gebraucht haben, bis sie gemerkt haben, dass im Prozess des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnens alle kritischen Fragen schon gestellt wurden. Sie haben dann verstanden, dass bei konsolidierten wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie sie z. B. den IPCC-Berichten zugrunde liegen, keine Notwendigkeit mehr für meist fragwürdige Gegendarstellungen besteht.

Insgesamt hat sich die Kommunikation über den Klimawandel v. a. seit dem Herbst 2018 sehr zum Positiven geändert. Mit dem Hitze- und Dürresommer 2018 im nördlichen Mitteleuropa, dem Erscheinen des IPCC-Spezialberichts zu +1,5°C und dem Auftreten von Greta Thunberg vor dem Schwedischen Parlament in Stockholm war das Thema dann auch medial mitten in der Europäischen Gesellschaft angekommen.

Auch heute vergeht kaum ein Tag, an dem trotz Pandemie und Krieg in der Ukraine nicht irgendeine Klimawandelmeldung in den Medien zu finden ist, auch wenn derzeit nicht auf Seite 1. Die Frage ist aber, wie wir ins Handeln kommen. Vieles ist schon in Bewegung, selbst von Seiten der Wirtschaft. Aber die ganz großen Dinge sind immer noch nicht in Bewegung.

Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als einen grundlegenden Wandel der Gesellschaft herbeizuführen und dafür werden viele „Heilige Kühe“ geschlachtet werden müssen.

Interessant finde ich aber, wie sehr der tragische Unfall auf der Marmolata (Anm.: Gletscherbruch am 3. Juli 2022 mit 11 Toten) den Menschen in Italien, Deutschland und Österreich unter die Haut gegangen ist. Ein Eisbruch ist sicher nicht das Schlimmste, was wir vom Klimawandel zu erwarten haben, aber dennoch hat das Ereignis aufgrund der emotionalen Bindung zum Bergsteigen zu großer Irritation geführt. Die Verbindung zum Klimawandel war plötzlich für alle eindeutig. Eine Hitzewelle irgendwo anders, sogar jene in Norditalien, berührt die Menschen bei weitem nicht so stark.

Ötztaler Alpen
Ötztaler Alpen. Mit der Veränderung des Antlitzes der Alpen können wir leben. Kippt aber das globale Klimasystem, brauchen wir uns über die Gletscher keine Gedanken mehr zu machen. Fotos: Michael Pech

Es gibt eben auch soziale Kipppunkte – die emotionale Wirkung des Unglücks auf der Marmolata könnte vielleicht regional ein solcher sein. Ereignisse, die eine allgemeine Bewusstseinsänderung herbeiführen – auch z. B. dass das eigene Auto zu teuer wird und öffentliche Verkehrsmittel eine praktikable Alternative darstellen –, könnten soziale Kipppunkte sein und zur Rettung in letzter Sekunde beitragen.

Greta Thunberg sagte am UN-Klimagipfel 2019: „Change is coming, whether you like it or not.“ Keiner von uns kann oder will sich vorstellen, wie unsere Welt, unsere Gesellschaft in 30 bis 40 Jahren aussehen wird. Wir wollen keine Veränderung, aber sie hat bereits begonnen – mit oder ohne uns. Können wir unsere Zukunft noch aktiv gestalten?

Wenn es uns gelingen würde, das Steuer in den nächsten 10 bis 15 Jahren gänzlich herumzureißen, dann könnten wir eine klimaneutrale, sozial gerechte, ökologisch gesunde und ressourcenschonende Welt schaffen – eine Welt, die viel schöner wäre als die jetzige. Unsere heutige Gesellschaft ist überdreht und krank, modernes Sklaventum und Ausbeutung sind vorherrschend und nichts hält mehr zusammen.

Wir wehren uns vor dem Sprung in einen kühlen Bergsee, aber wenn wir den Sprung wagen, ist es fantastisch.

Herr Kaser, Sie werden jetzt ein paar Tage Urlaub nehmen? Gehen Sie in die Berge?

Wir sehnen uns nach Meer, aber im August ans Meer zu fahren, ist keine so schöne Vorstellung. Ich denke, wir werden einfach zu Hause bleiben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Erschienen in der
Ausgabe #121 (Winter 22-23)

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