Schlecht gelaufen? 4 Ansichten über das Scheitern am Berg
1. Tamara Lunger: „Bin ich die Königin des Scheiterns?“
„Auf den ersten Blick bin ich wohl die Königin des Scheiterns. Gemessen an den Gipfelerfolgen ist die Bilanz meiner Achttausender-Besteigungen nicht umwerfend. Doch meine persönliche Bewertung ist eine andere. Scheitern ist kein Wort, das ich gerne verwende. Man scheitert nicht. Man lernt dazu. Scheitern steht zu sehr für die Gedankenwelt eines oberflächlichen Schneller-Höher-Weiter.
Ich suche am Berg aber mehr. Ich will mich selbst spüren. Intensiv. So sehr, wie ich es nur in diesen Extremsituationen kann. Ich habe am Nanga Parbat und am K2 bewusst den Winter für die Besteigung gewählt, weil ich das maximal intensive Erlebnis gesucht habe. Die Erfolgschancen lagen bei fünf bis zehn Prozent. Das war mir egal. Ich war auf keinem der beiden Gipfel. Aber ich habe eine Menge über mich gelernt.
Zum Beispiel, wie wichtig Intuition ist – nicht nur am Berg, auch sonst im Leben. Ich versuche, sie permanent zu trainieren. Ich gehe dabei eine innige Partnerschaft mit mir selbst ein. Beim Höhenbergsteigen kann das lebensrettend sein. Ein Scheitern wäre es für mich gewesen, wenn ich am Nanga Parbat oder am K2 ums Leben gekommen wäre.
Doch ich hatte die Klarheit, meiner Intuition zu folgen. Das ist für mich kein Scheitern. Im Gegenteil. Die Intuition hat mich dazu gebracht, in den jeweiligen Situationen das Richtige zu tun. Trotzdem begannen nach den Erlebnissen am K2 für mich die schwierigsten zwei Jahre meines Lebens. Ich brauchte eine Pause – von den hohen Bergen, von den Expeditionen. Ich hatte Panikattacken, weinte. Gleichzeitig wuchs der Druck von außen.
Ständig kamen Fragen: ‚Wann gehst du wieder auf einen Gipfel?‘ Die Welt hat ein Image von Tamara kreiert. Sie will mich auf dem Gipfel sehen. Ich war mir lange hundertprozentig sicher, ich würde das Bergsteigen für mich allein machen. Nun erkannte ich, dass ich mich zu sehr mit diesem Image von außen identifiziert hatte, dass ich es zu meinem eigenen gemacht hatte.
Ich fand es schlimm, dass die Tamara, die nicht auf den Berg geht, nicht der Mensch ist, den die anderen Menschen sehen wollen. Ich musste mir selbst erst mal bewusst werden, wer ich bin und wohin ich will. Das war ein mühsamer Prozess. Ich hatte immer ein alpinistisches Ziel. Jetzt standen da Fragezeichen. Kann das Bergsteigen meine Zukunft sein? Ich dachte sogar darüber nach, unterzutauchen, mich aus den sozialen Medien zu löschen.
Heute weiß ich, das Leben ist kein geradliniger Aufstieg. Nur glücklich und erfolgreich zu sein, funktioniert nicht. Ich habe erkannt: Nach schlimmen Zeiten kommt wieder etwas Schönes. Die Krise hat mir die Augen geöffnet: Dafür, mir etwas Gutes zu tun. Dafür, meinen Körper nicht nur maximal zu fordern, ihn auch mal zu verwöhnen.
Dafür, auch meine weibliche Seite zu leben. Ich habe verstanden, dass ich meinen eigenen Weg gehen muss. Das hat mir geholfen, neue Motivation zu finden, die von innen kommt. Ich würde es niemals als Scheitern bezeichnen, wenn man den Mut hat, die Veränderungen, die ein Misserfolg oder eine Krise mit sich bringt, mit offenen Armen anzunehmen.“
2. Pauli Trenkwalder: „Scheitern ist völlig normal“
„Die Diskussionen ums Scheitern am Berg werden meiner Meinung nach zu hoch gehängt. Nicht selten wird im Alpinismus das Scheitern verklärt oder dramatisiert. Dabei ist es ein selbstverständlicher Teil der Entwicklung als Bergsteiger, Kletterin oder Skibergsteigerin – ganz egal, auf welchem Niveau man sich dabei bewegt.
Jeder, der in die Berge geht, hat ein Ziel. Ob wir es erreichen, hängt zum einen von äußeren Faktoren ab, wie dem Gelände, dem Wetter, den allgemeinen Verhältnissen der Route vor Ort. Zum anderen spielen individuelle Kompetenzen und Fähigkeiten eine Rolle: das persönliche Können, Fitness und Kondition, die mentale Entschlossenheit. Scheitern ist eine individuelle Bewertung.
Selbst wenn ich den Gipfel nicht erreiche, den ich als Ziel gewählt habe, kann das Resümee positiv sein, wenn es mir vorrangig darum geht, einen schönen Tag in der Natur zu haben. Erst wenn die persönlichen Bewertungsmechanismen ein Ergebnis auswerfen wie: „Ich habe mein Ziel nicht erreicht, deshalb fühle ich mich schlecht!“, kommt es zu einem Gefühl des Scheiterns. Ein Scheitern ist also eng mit der individuellen Persönlichkeit verbunden.
Entscheidend ist, wie ich solche Situationen handhabe. So gesehen ist es ein Resilienz-Thema. Wie gehe ich mit dem Gefühl, gescheitert zu sein, um? Die einen ziehen daraus neue Motivation und sehen eine Herausforderung. Für andere stellen nicht erreichte Zielen eine Bedrohung dar. Sie sehen ihr Selbstbild in Gefahr. Eine innere Haltung der Akzeptanz zu entwickeln oder zu kultivieren, macht Sinn. Denn Ziele nicht zu erreichen – und damit das Scheitern – gehört zum Bergsteigen nun einmal dazu.“
3. Nadine Wallner: „Scheitern ist menschlich“
„Scheitern … das klingt für mich so negativ. So endgültig. Ich denke lieber positiv. Ich sage lieber: ‚Es hat bislang nicht funktioniert.‘ Natürlich gibt es trotzdem so etwas wie ein Scheitern. Aber man sollte differenzieren. Ich sehe verschiedene Stadien des Scheiterns. Ein Beispiel: Wenn ich mich schwer verletze und meine sportlichen Ziele (vorerst) nicht erreichen kann, ist es immer eine Frage, wie ich der Situation emotional entgegentrete.
Ob ich die Kraft habe, es wieder zu probieren. Oder etwas anderes zu versuchen, was mir Auftrieb gibt und mich vorwärtsbringt. Scheitern ist immer auch mit Veränderungen verbunden. Beim Klettern ist das Scheitern omnipräsent. Wenn man am Limit klettert, scheitert man ständig. Man probiert, bis es funktioniert. Zumindest bei mir ist das so. Ich bin immer sehr motiviert.
Natürlich gibt es auch Durchhänger. Da tut ein gesundes, zwischenmenschliches Umfeld gut. Sich dann mit Dingen außerhalb des Sports zu beschäftigen, bringt die Leichtigkeit zurück. Man wächst mit jedem Scheitern. Ich lerne in solchen Phasen viel mehr, als wenn etwas gleich funktioniert. Das motiviert mich. Ganz wichtig ist dabei Geduld.
Und dass man nicht aufgibt, dass man flexibel bleibt und neue Situationen positiv annimmt. In unserer Leistungsgesellschaft und im Leistungssport zählen in erster Linie Erfolge. Sehr deutlich wird das auf Social Media. Doch wir sind alle Menschen. Jeder hat seine Grenzen. Wir können nicht 365 Tage im Jahr perfekt funktionieren. Scheitern ist menschlich. Wir können versuchen, das Beste draus zu machen.“
4. Brette Harrington: „Kein Erfolg ohne Misserfolge“
„Bei unseren Projekten bewegen wir Bergsteiger uns oft auf einem schmalen Grat zwischen Scheitern und Erfolg. Ein Test der körperlichen und der mentalen Stärke, bei dem es viel zu lernen gibt – und die Möglichkeit zu wachsen. Wenn ich beim Klettern nie stürze, kann ich daraus nichts lernen. Wenn ich jedoch scheitere, kann ich aus meinen Fehlern lernen und vielleicht sogar Erfolg haben. Ein Beispiel: 2016 versuchte ich, die Route „El Corazón“ am El Capitan frei zu klettern.
Bis zum achten Tag war ich erfolgreich, aber am neunten Tag wurde ich zu müde und beendete die Kletterei mit Hilfsmitteln, also nicht frei. Trotz meiner bisher größten Anstrengungen beim Klettern hatte ich das ultimative Ziel nicht erreicht. Fünf Jahre später kehrte ich mit verfeinerter Taktik zurück. Mir gelang es, die Route zu meistern.
Mein ursprünglicher Misserfolg führte schließlich zum Erfolg. Neue Herausforderungen bergen immer auch Risiken. Eine Fehlkalkulation kann schwerwiegende Folgen haben. Im Dezember 2020 stiegen ein Partner und ich in eine noch nicht bestiegene Wand in den kanadischen Rockies ein. Wir waren darauf vorbereitet, drei Nächte draußen zu verbringen. In der zweiten Nacht zog ein Sturm auf. Überall um uns herum schossen kleine Lawinen herab.
Am nächsten Tag zwang uns der Sturm zum Rückzug. Wir haben zwar unser Ziel verfehlt, waren aber in unserer Entscheidungsfindung erfolgreich. Hätten wir versucht weiterzugehen, wären wir möglicherweise in eine sehr gefährliche Situation geraten, aus der wir uns nicht mehr hätten zurückziehen können. Scheitern kann also sowohl positiv als auch negativ sein. Die reinste Form des Spiels mit dem Scheitern ist das Free-Solo-Klettern.
Es ist unbestreitbar, dass die Folgen eines Scheiterns gefährlich sind. In meinen Augen ist es eher eine Kunst als ein Sport. Es geht dabei nicht darum, mich selbst bis zum Äußersten auszureizen. Ich will mich im Rahmen meiner Fähigkeiten auf einem kontrollierbaren Niveau bewegen. Für mich geht es dabei darum, mich selbst zu erforschen, meiner Intuition, mir selbst zu vertrauen. Bisweilen scheitern auch Lebensträume.
Mein Partner Marc-André Leclerc ist 2018 zusammen mit Ryan Johnson bei einem Lawinenabgang ums Leben gekommen. Ihre Entscheidungen, die zu dem Unglück geführt haben, lassen sich im Nachhinein nicht rekonstruieren. Diese eine Fehleinschätzung brachte jeden aus ihrem Umfeld auf eine Bahn der Trauer, des Verlustes und des Lernens. Nachdem ich Marc in den Bergen verloren hatte, war das Klettern das Einzige, was mich von der Traurigkeit über seine Abwesenheit ablenken konnte.“