bergundsteigen #128 cover
Magazin Abo
bergundsteigen 120 Albert Wenk: Bergsportausrüstung Entwicklung
30. Jan 2023 - 16 min Lesezeit

Was wir von Albert Wenk über die Entwicklung der Bergsport-Ausrüstung lernen können

Wenn man Albert Wenk in seinem Haus im kleinen Schweizer Dorf Hendschiken auf den letzten Urlaub anspricht, wird seine Begeisterung für das Klettern schnell deutlich. Bei dem rüstigen und schlanken Mann ist kaum zu erahnen, dass er die Siebzig-Jahre-Marke schon überschritten hat. Albert hält sich mit Radfahren fit und klettert regelmäßig in der Kletterhalle. Seit 2004 fährt er jedes Jahr für zwei bis drei Wochen mit den Brüdern Remy nach Kalymnos. Bei Kaffee und Schokoküchli hat bergundsteigen-Redakteurin Alex Schweikart dem ehemaligen Produktentwickler bei der Firma Mammut ein paar brennende Fragen gestellt.

Erinnerst du dich an deine erste Klettertour?

Ich begann mit ungefähr 16 Jahren in der Ostschweiz (Alpstein) zu klettern, die Berge haben mich immer fasziniert. So bin ich zur Jugendorganisation des SAC St. Gallen gekommen. Mit einem um die Brust gebundenen Seil, in schweren Lederstiefeln und ohne Helm kletterten wir den fünften Kreuzberg am Alpstein. Ich war dann beinahe jedes Wochenende im Clubhaus der SACSektion St. Gallen beim Klettern. So lernte ich auch den Bruder von Trudi, meiner jetzigen Frau, kennen. Ausbildung hatten wir keine, man wurde mitgenommen.

Die Hauptanweisung der Erfahrenen war: Du darfst nicht stürzen!

Die Sicherung bestand hauptsächlich aus Schlaghaken aus Stahl. Auf der Eiger-Lauper-Route trugen wir Baumwollcordhosen und hatten Zehn-Zacken-Steigeisen. Bei meinem Kollegen waren am Ende alle Zacken nach oben gebogen, da hat es keine Normen gegeben. Wir hatten einfach Vertrauen.

Du warst nicht immer in der Outdoor- Industrie tätig, oder?

Nein, ich bin gelernter Textilfachmann. Ich habe zudem eine kaufmännische Ausbildung gemacht in einer kleinen Weberei. Die Textilfachschule in Wattwil habe ich dann noch angehängt. Angefangen habe ich in einer Firma in Herisau, die weltweit Stoffe vertrieben hat, Vorhänge, Kleider und so was. Ich war Einkäufer. Dann war ich in einer Firma, die Garne für Textilprodukte hergestellt hat.

In der Abendschule habe ich mich als Verkäufer weiterbilden lassen und mich schließlich 1973 bei Mammut beworben, damals noch „Arova Lenzburg“. Sie haben Seile gefertigt für die Landwirtschaft und Industrie. Aber sie hatten auch schon zwei dynamische Bergsportseile im Programm: Dynamic und Dynaflex. Angefangen habe ich dann als Verkaufsleiter Schweiz in der Sportabteilung. Arova Lenzburg machte damals 20 Prozent Eisenwaren, 30 Prozent Sportartikel und der Rest war Industrie.

Portrait Albert Wenk
Albert Wenk im Portrait.

Wie sah dein Job aus?

Arova Lenzburg war der Vertrieb für viele Marken in der Schweiz: Salewa, Stubai, Charlet Moser, Clog Hardware, Galibier Lederschuhe, Fritzmeier Hexcel Ski mit Aluminium-Wabenkern. Die waren superleicht und haben damals schon 1200 Franken ohne Bindung gekostet, das lief gut in St. Moritz. Wir hatten auch Handballtornetze und Hockeytornetze. Wir waren im Prinzip ein Gemischtwarenladen! Mich hat aber nur der Bergsport interessiert. So bekam ich den Job als Produktmanager für Bergsport.

Plötzlich hattest du freie Hand? Ich konnte bestimmen, was wir ins Programm nehmen und anbieten. Ich habe 1978 die ersten Kataloge aufgelegt. Das war großartig, ich pickte mir nur die Rosinen heraus. Ferdinand Petzl hatte damals Stirnlampen mit Kippschalter und Akku hinten am Kopf entwickelt, nachdem ein Kollege von ihm in der Dunkelheit abgestürzt war. Wir übernahmen die Vertretung in der Schweiz, die Stirnlampe, den Petzl Shunt und eine Seilrolle. Selbst machten wir Seile und hatten die eigene Weberei: Bandschlingen, Schlauchband und so Zeug produzierten wir. Klettergurte entwickelten wir auch.

Wie habt ihr Gurte entwickelt?

Wir waren eine Näherei bei Mammut. Wir waren absolut keine Bergsport-Spezialisten. Mit einem Arzt, der ein bisschen geklettert ist, wurde der erste Gurt entwickelt. Klettergurte waren noch nicht sehr „in“, musst du wissen. Es gab den Cassin-Komplettgurt – zum Hängen eine Katastrophe. Ich habe dann angefangen, Hängeversuche in Gurten zu machen, und mit diesem Wissen einen Komplettgurt entwickelt und eine Sitz-Brustgurt-Kombination.

Innovativ: Die ersten „Klettergürtel“ von Albert Wenk. Als Fotomodell links im Bild Albert Wenk. Katalog Arova-Mammut 1987.
Innovativ: Die ersten „Klettergürtel“ von Albert Wenk. Als Fotomodell links im Bild Albert Wenk. Katalog Arova-Mammut 1987.

Wolfgang Güllich machte mich mit dem australischen Spitzenkletterer Kim Carrigan bekannt, der 1986 für sechs Monate in die Schweiz kam, um mir bei der Entwicklung von Klettergurten zu helfen. Als Teil der Abmachung erhielt er für jeden Verkauf einen halben Schweizer Franken Lizenzgebühr. Am Ende bekam er eine Stelle als Exportmanager und blieb vier oder fünf Jahre, bevor er nach Australien zurückkehrte.

Ging bei der Entwicklung auch mal etwas schief?

Unser Nylongarn kam aus der Schweiz, aus Emmenbrücke. Wir hatten einen speziellen Typ Nylongarn, der auf unseren Wunsch hin nicht 100 Prozent verstreckt war, sondern nur etwa 80 Prozent. So hatten wir einen Vorteil in der Dynamik. Meine Idee war, ein Express-Schlingenband aus diesem Material zu weben. Langsam gezogen konnten wir eine 12-Zentimeter-Exe auf 30 Zentimeter dehnen! Ich dachte: Super, jetzt haben wir die Lösung für eine dynamische Schlinge! In der Sturzanlage dann die Ernüchterung: Die Schlinge konnte sich gar nicht so schnell dehnen, wie ein Sturz in der Praxis vonstattengeht. Sie ist einfach gerissen (lacht).

Das zeigte mir mal wieder, dass dynamische, realistische Tests unabdingbar sind, absolut notwendig!

Wie kamst du denn auf immer neue Produkte?

Ich hatte damals schon Kontakt zu Yves und Claude Remy, zu Caspar Ochsner und seiner Frau Ruth, zu Jürg von Känel, Hans Peter Sigrist und Hans Howald. Sie waren meine Fühler in der Szene, hatten Ideen und Wünsche. Gleichzeitig habe ich Bergführeraspiranten-Kurse begleitet. Ich habe schnell begriffen: Nicht meine Meinung zählte, sondern die vom Markt. Der Mammut-Katalog wurde unser Sprachrohr nach außen, es gab ja kein Internet. Jeder Katalog hatte eine gute Lektüre zu bieten, ein Thema, von dem ich glaubte, dass es einen wichtigen zukünftigen Aspekt des Kletterns beinhalten würde. Wir thematisierten viele bunte Facetten, angefangen 1983 mit dem Training von John Bachar über die Doppelseile von Kim Carrigan bis hin zu den neuesten Routen der Remy Brüder – denen wir Haken sponserten.

Dir wird die Entwicklung der ersten Stretch-Hose zum Klettern zugeschrieben, die zum Vorläufer der Softshell-Stoffe wurde?

Es war eine Idee, die es beim Klettern noch nicht gab: Zwei-Wege-Stretchgewebe. Ich arbeitete in der Produktentwicklung und hatte die Idee, Schoeller-Gewebe mit Lycra®-Fasern zu kombinieren, um schnell trocknendes, dehnbares und leichtes Material für Hosen zu erhalten. Die Einführung der Kletterhose „Chamonix“ im Jahr 1983 war ein großer Erfolg. Wir haben sie zu Abertausenden verkauft. Andere Stretch-Hosen, die wir getestet hatten, waren am Ende des Tages zehn Zentimeter länger. Ich stellte auch die ersten Nylonbandschlingen mit einem abgestuften Regenbogen-Farbschema her und fand eine Möglichkeit, das Muster eines Seils auf halber Strecke zu ändern, aber die gleichen farbigen Fäden zu verwenden. Damit war das „Duodess“-Seil geboren, bei dem die beiden Seilhälften klar erkennbar sind.

Du hast auch die ersten profillosen Kletterschuhe eingekauft?

Kim Carrigan war damals in der WG von Wolfgang Güllich, Norbert Sandner, Jerry Moffat und Kurt Albert zu Besuch. Es wurde ein Film von ihnen gedreht, in dem sie mit den deutschen Hanwag-Kletterschuhen klettern sollten. Die WG hatte aber zwischenzeitlich die brandneuen und viel besseren Kletterschuhe von Boreal aus Spanien am Markt entdeckt und malte sie in den Hanwag-Farben an, um den Sponsor Hanwag für die Filmaufnahmen nicht zu vergrämen. Auch der Kletterstar John Bachar hat damals von der Kletterschuhmarke EB zu Boreal gewechselt.

Als ich das gehört hatte, habe ich sofort Kontakt aufgenommen und uns per Fax die Vertretung für die Schweiz gesichert. Im ersten Jahr haben wir 5000 Paar Boreal-Kletterschuhe verkauft! Die Gummiproduktion durfte ich nie sehen, es wurde ein Mordsgeheimnis darum gemacht und es gab jede Menge Räubergeschichten dazu: Die Schuhe würden aus alten Flugzeugreifen gemacht, die bei der Landung so heiß würden, dass daraus diese Gummimischung entstünde, die so sensationell ist. Der Gummi war leider später nie mehr so gut wie am Anfang. Ich denke, da waren zu Beginn einige verbotene Chemikalien im Spiel. Als wir dann nach Deutschland expandierten, haben wir Wolfgang Güllich 50 Pfennig (deutsche Mark) pro verkauftem Paar Schuhe bezahlt.

Boreal Fire, 1984 wohl der „beste Kletterschuh der Welt“. Ohne Übertreibung. Katalog Arova-Mammut 1984
Boreal Fire, 1984 wohl der „beste Kletterschuh der Welt“. Ohne Übertreibung. Katalog Arova-Mammut 1984

Du bist dann ins Qualitätsmanagement gewechselt, ein Beruf, den es damals noch gar nicht gab.

Ich wollte mich weiterbilden, weil ich merkte, dass wir ein Qualitätsmanagement brauchten. Wir hatten eine Weberei, ich hatte eineinhalb Jahre Zeit für die Zertifizierung nach ISO 9001. Es bringt eine enorme Sicherheit, wenn eine Überwachung der Produktion stattfindet. Ein Beispiel: Nach Filmaufnahmen mit Bruno Jelk (damaliger Zermatter Bergrettungschef), der von einem Helikopter der Air Zermatt von einer Bergbahn weggezogen werden sollte, ist ein HMS-Karabiner aus Italien gebrochen. Man hat dann erstmal Stahlkarabiner empfohlen und wir testeten Karabiner derselben Art, die gebrochen waren. Aber wir konnten nichts feststellen. Volker Krohn beim TÜV wollte dann während der Messung die feinen Veränderungen im Material messen. Es stellten sich dann enorme Schwankungen in der Elastizität der Karabiner heraus.

Also ein Qualitätsproblem?

Ja, auch. Aber die Air Zermatt hatte damals alle Karabiner in einer Schachtel, auch Viehtransporte mit verletzten Tieren wurden damit gemacht. Der Heli vibriert, da hat man sogenannte „Biegewechsel“. Wie beim Slacklinen; wenn man einen Alukarabiner eine Woche zum Slacklinen benutzt, bricht der Karabiner. Ich habe dann gesagt, dass sie zwischen Menschen und Tieren unterscheiden müssen und vor allem zur Personenrettung Stahlkarabiner verwenden sollten. Für den persönlichen Gebrauch ist Alu absolut sicher.

Die Qualitätsmanagementsysteme der Hersteller sind sehr wichtig, denn eine Zertifizierung ist keine Garantie für Konsistenz. Ich erinnere mich daran, wie eine schlechte Charge von Rocklands-Bolts in Kalymnos verwendet wurde und diese zu brechen begannen (2010/2011). Wir haben die Bolts damals dem Präsidenten der UIAA-Safety-Commission übergeben, aber es ist nie etwas passiert. Das war für mich ein Tiefpunkt der UIAA. Es kann sein, dass ein Produkt bei den Tests funktioniert hat, aber manche Probleme zeigen sich erst bei der Benutzung, wie bei den elastischen Bändern, die in den 2013 zurückgerufenen Klettersteigsets verwendet wurden.

Zur Person Albert Wenk

wurde am 4.9.1944 in Untertoggenburg/Flawil in der Schweiz geboren und wohnt inzwischen mit seiner Frau Trudi in Hendschiken bei Lenzburg. In den vierzig Jahren, in denen er in der Outdoor-Branche tätig war, hat er viele Veränderungen miterlebt. Die meiste Zeit davon war er bei Arova Lenzburg (aus dieser Firma entwickelte sich die Marke Mammut) in der Produktentwicklung, im Verkauf und im Marketing tätig. Nachdem er Mammut 2009 verlassen hatte, arbeitete er als Vertreter für die Schweiz bei DMM. Außerdem war er zehn Jahre lang der Schweizer Delegierte für die UIAA-Sicherheitskommission. Seit 2022 befindet er sich im Ruhestand und hat nun Zeit für Interviews.

Albert Wenk beim Klettern auf Kalymnos.
Albert Wenk beim Klettern auf Kalymnos.

Du hast dich auch in der UIAA engagiert?

Zehn Jahre lang war ich der Schweizer Delegierte der UIAA-Sicherheitskommission, die Sicherheitsstandards für Kletterausrüstung entwickelt und aufrechterhält. 2004 bin ich zurückgetreten.

Die Normen kommen ursprünglich also von der UIAA?

Ganz am Anfang gab es keine europäischen Normen für Bergsportartikel, die UIAA-Safety-Commission hat 1964 mit der Zertifizierung von dynamischen Bergseilen angefangen. Damals waren zwei Normstürze gefordert. 1970 hatte Pit Schubert, DAV-Delegierter in der UIAA-Safety-Commission, eng mit dem Seiltechniker von Mammut zusammengearbeitet. Die beiden haben dann eine Änderung der Norm von zwei auf drei Stürze vorangetrieben, später auf fünf. Als der damalige Schweizer Delegierte zum Präsidenten wurde, hat er mich als Nachfolger vorgeschlagen.

Pit Schubert war Vize, er war die treibende Kraft dafür, was als Nächstes bearbeitet werden sollte. Für die Seil-Norm wollten wir einen Scharfkanten-Test entwickeln, ein Sturz über eine Stahlkante mit einem Millimeter Radius sollte genügen. Die Geschwindigkeit beim Fall war jedoch auf allen Testanlagen unterschiedlich, so mussten wir das Vorhaben wieder aufgeben. Das war eine Niederlage und ein großer Fehler, denke ich. Denn allein die Bezeichnung „scharfkantenfest“ ist falsch, weil jedes Bergseil kann bei kritischen Bedingungen und einem harten Sturz über eine scharfe Kante reißen.

Und die EU hat dann einfach die UIAA-Normen übernommen?

Genau. Das CEN (Europäisches Kommitee für Normung) hat die UIAA-Sicherheitsstandards übernommen und jede Kletterausrüstung, die in Europa verkauft wird, muss diesen Standards entsprechen und das CE-Zeichen tragen. An EU-Sitzungen durfte ich aber nie teilnehmen als Schweizer und hatte kein Stimmrecht. Ich dachte: Da braucht es uns ja nicht mehr! Aber: Eine Abänderung der Normen ist auf EU-Ebene nicht unter ein bis zwei Jahren zu machen. Der große Vorteil der UIAA ist, dass eine Änderung einer bestehenden Norm schnell möglich ist. Arbeitsgruppen werden gebildet und innerhalb von einigen Sitzungstagen können Normen durch Abstimmungen verändert werden. Folglich wurden Normen seitens der UIAA teilweise angepasst und verschärft, zum Beispiel bei den Helmen.

Wie wurden die Normen überprüft?

Ganz früher gab es einzelne UIAA-Labore, in denen man sein Produkt zertifizieren musste. Aber lediglich einmal, dann durfte man das Label tragen (gegen Bezahlung). Eine Prozessüberwachung hat nie stattgefunden. Jeder Hersteller hatte das selbst in der Verantwortung. Ich habe vorangetrieben, dass Firmen die Normen mit einer ISO-9001-Zertifizierung kombinieren, das wurde dann durchgesetzt. Es bringt eine enorme Sicherheit, wenn eine Überwachung der Produktion stattfindet. Früher musste der Delegierte der UIAA diese Überwachung durchführen. Auch die Testlabors mussten vereinheitlicht werden. Als die EU die UIAA-Normen übernahm, gab es dann die sogenannten „Notified Bodies“ (also TÜV Austria usw.) und die sind nun auch für das Qualitätsmanagement zuständig. Es ist aber immer noch keine hundertprozentige Garantie. Prozessbeherrschung ist eine interne Angelegenheit der Firma.

Gibt es ein Produkt, das du gerne gesehen hättest in der Outdoorbranche?

Wir sind sicherheitstechnisch auf einem guten Standard mit den Bergsportprodukten, möchte ich sagen. Alles, was wir früher gemacht haben, war Horror: Helme, die gebrochen sind, Gurte, die ungenügend waren. Superleicht-Karabiner, bei denen der Schnapper nach einem harten Sturz wegen zu geringer Schnapper-offen-Festigkeit des Karabiners ausgehebelt wurde.

Die meisten Unfälle heutzutage sind Anwendungsprobleme.

Inwiefern?

Erfahrung gepaart mit Produktwissen ist Sicherheit. Erfahrung kannst du nicht kaufen, Produkte kannst du kaufen. Das Problem ist, dass viele Leute ein Produkt kaufen, weil geschrieben steht, es sei besser als dieses oder jenes. Die heutige Generation von Kletternden profitiert vom Zugriff auf viele Informationen, kann sie aber nicht immer einordnen. Jede und jeder kann mit 200 Kilometern pro Stunde in eine enge Kurve fahren. Das schafft aber das beste Auto nicht. Will sagen: Eine Fehlanwendung ist nie ausgeschlossen. Andererseits kann ich mit einem Produkt, das nicht optimal ist, trotzdem etwas machen, wenn ich erfahren bin.

Apropos Autofahren: Der Sicherheitsgurt war doch der Grund, warum es deutlich weniger Todesfälle im Straßenverkehr gab. Gab es so ein einzelnes, relevantes Produkt auch im Bergsport?

Eines der nützlichsten Produkte war schon der Helm, er war ein Meilenstein. Früher hat man Schildmützen getragen und dann Plastikschalen. Heute müssen Helme eine Norm erfüllen und eine gewisse Dynamik absorbieren, sie haben auch mehr Abstand zum Kopf als früher. Ueli Steck wurde damals bei seinem Soloversuch an der Annapurna von einem Stein getroffen und hatte nur eine Gehirnerschütterung, dank seines Helms hatte er – zumindest dieses Ereignis – überlebt.

Der Galibier Steinschlaghelm. Sehr bequem, aber ohne große Schutzwirkung. Katalog Arova-Mammut 1981.
Der Galibier Steinschlaghelm. Sehr bequem, aber ohne große Schutzwirkung. Katalog Arova-Mammut 1981.

Also nicht das Bergseil?

Sobald ein dynamisches Bergseil in den 1970er-Jahren oder später gefertigt wurde, war es gut. Sie halten jetzt zwar mehr Stürze, sind dünner, leichter, besser imprägniert, besser im Handling, aber ob sie tatsächlich so viel besser sind? Ich würde sagen: Nein. Wir benutzen immer noch Nylon und es gibt kein dynamisches Bergseil, das nicht an einer scharfen Kante reißen kann.

Was noch? Der nächste Meilenstein waren Klettergurte. Wenn du siehst, welche weiten Stürze Klettergurte heute bei gekonnter dynamischer Sicherungstechnik bequem auffangen – das ist großartig. Eine echte Veränderung brachte dann noch der erste Grigri, auch mit den Folgeprodukten für dünnere Seile. Das ist ein Gerät, welches problemlos funktioniert und – wenn man es beherrscht – absolut sicher ist. Als Peter Poppal (damals Ingenieur bei Petzl) mir bei einer UIAA- Sitzung das erste Grigri schenkte, diskutierten wir noch, ob man Sicherungsgeräte und Seile im Paket zertifizieren sollte, weil die Seile immer dünner wurden. Man entschied sich aber dagegen, da man im Bergsport nicht verlangen kann, dass eine Person nur ein vorgeschriebenes Seil zum dazu passenden Sicherungsgerät benützt.

Es gibt also nichts mehr zu tun?

Oh doch. Ein markanter Schritt in Richtung Sicherheit ist die Sicherungstechnik. Dank den Kletterhallen haben die Leute gelernt zu sichern. Vor zehn Jahren noch habe ich in Kalymnos haarsträubende Sachen gesehen. Heute merkt man, dass die Leute das Sichern gelernt haben. Das Einzige, was ich häufig sehe, ist fehlendes Bewusstsein für die Gefahr. Ein Beispiel: Eine Frau mit Helm, die eine andere Frau mit Helm gesichert hat, aber hinten ein Baby ohne Helm auf dem Rücken trug. Normales, logisches Überlegen sollte doch dazu führen, dass sie die Gefahr erkennt, oder?

Welche Entwicklung macht dir Sorgen?

Vielen Leuten hat man während Corona erzählt, wie schön eine Wanderung in den Bergen ist. Man muss ihnen aber auch sagen, dass es von einer Minute auf die andere ganz anders sein kann. Für mich gehört zur Sicherheit Praxiserfahrung verbunden mit den richtigen Produkten für das, was du gerade machst. Jemand, der gelegentlich klettert, braucht kein 8,5-Millimeter-Einfachseil, er wird sowieso Probleme haben, es bei einem Sturz zu halten.

Was wünschst du dem Klettersport für die Zukunft?

Jede und jeder kann sich Produktinformationen, Videos und alles Mögliche über das Internet besorgen. Da gibt es sensationelle Sachen. Ich lese in letzter Zeit aber auch falsche Informationen zu Produkten, etwa „ein Statikseil mit dynamischer Reserve“, das ist doch kontraproduktiv. Vielleicht wäre es nützlich, nicht nur die Normen zu überprüfen, sondern auch die Produktinformationen, die in die Welt gesetzt werden. Die Leute sollten nämlich die Produkte kaufen, die für ihre Zwecke am praktischsten sind. Dazu muss man sie aber ehrlich informieren.

Dein erstes, selbstentwickeltes Kletterprodukt?

In Flawil, wo ich aufgewachsen bin, gibt es die katholische Kirche mit einer großen Uhr. Die Zahlen waren schwere Kupferplatten mit Strichen und die Drei hat gefehlt. Ich habe zu meinem Kollegen von der Jugendmannschaft gesagt: „Komm, wir reparieren das.“ Man hätte Gerüste aufbauen müssen für die Reparatur. Unter einem Vorwand haben wir uns beim Messner den Schlüssel organisiert. Ich habe mir damals einen Sitzgurt aus Seil konstruiert, zwei Schlaufen um die Beine einen Brustgurt, vorne war ich angeseilt. Die Drei haben sie zu mir abgelassen. Ich konnte sie einstecken und anschrauben, die Uhr war in zehn Minuten repariert. Schlussendlich haben wir einen Rüffel bekommen, aber auch einen Gutschein für ein Abendessen.

Haben deine Produkte auch mal für Kontroversen gesorgt?

Mit Yves Remy haben wir einen Bohrhalter entwickelt, wo der Griff seitlich war. Das war besser für die Handgelenke beim händischen Bohrhakensetzen. Damals beim Eröffnen der ersten Grimselrouten – noch ohne Bohrmaschine – hat man im harten Granit 45 Minuten zum Setzen eines Bohrhakens gebraucht. Es gab so viele Gerüchte um die Remys. Man fragte: „Stimmt es, dass Claude und Yves eine Staublunge haben durch den Bohrstaub vom vielen Bohren? Und dass Mammut die Remys pro gesetztem Bohrhaken bezahlt?“ Sogar in Kletterführern stand das. Wer verzählt a solch an Saich?

Dein Tipp für ein langes, gesundes Kletterleben?

Man kann mit dem besten Material immer etwas falsch machen, die Leute müssen das akzeptieren! Ein Seil kann an einer Kante immer noch reißen, je dünner der Durchmesser, desto heikler. Und dass der Seildurchmesser mit dem Sicherungsgerät korrelieren muss, ist eigentlich auch logisch.

Vielen Dank, Albert!

Erschienen in der
Ausgabe #120 (Herbst 22)

bergundsteigen 120 Cover