Bergwandern ist kein Spaziergang
Zahlreiche Bergwanderunfälle
Wandern ist sehr beliebt und hat grundsätzlich einen hohen gesundheitlichen Nutzen. Allerdings birgt die sportliche Aktivität in den Bergen auch Risiken. In der Schweiz beispielsweise ist Wandern respektive Bergwandern die Sportart mit den meisten tödlichen Unfällen. Hinzu kommen jährlich viele tausende Personen, die sich beim Wandern oder Bergwandern verletzen. Unfallhergang (z. B. Sturz/Absturz) wie auch demographische Merkmale der verunfallten Person (z. B. Geschlecht, Alter, Wohnland) sind in der Schweiz wie auch in anderen Alpenländern gut dokumentiert. Andere detailliertere Informationen zum Unfall sind hingegen kaum vorhanden. So sind beispielsweise die Ursachen, das heißt wieso eine Person gestolpert oder ausgerutscht ist, in den meisten Fällen nicht bekannt. Entsprechend schwierig ist es, von den vorhandenen Daten wirkungsvolle Präventionsmassnahmen für die Praxis abzuleiten.
Systemdenken in der Prävention
Die grosse Herausforderung in der Unfallprävention besteht darin, dass ein Unfall meist nicht durch einen einzigen Faktor, sondern vielmehr durch mehrere Faktoren bedingt ist, die sich zusätzlich gegenseitig beeinflussen können. Oftmals sind Unfälle sogar von Faktoren beeinflusst, die nichts mit dem unmittelbaren Unfallgeschehen zu tun haben, wie beispielsweise Gesetze oder Werbung. In der modernen Unfallforschung werden Unfälle heute als System-Phänomen betrachtet. Dies bedeutet, dass das „System“, in dem sich ein Unfall ereignet (in unserem Fall das System „Bergwandern“), als Ganzes betrachtet wird. Die Entstehung eines Unfalls wird nicht mehr als linearer Prozess (z. B. Verkettung von ungünstigen Ereignissen) angesehen, sondern vielmehr als Produkt eines komplexen Netzwerks von interagierenden Einflussfaktoren. Einflussfaktoren können bei einer ungünstigen Ausprägung zu Risikofaktoren werden (z. B. mangelnde Fitness oder fehlende Ausrüstung). Andererseits gibt es Einflussfaktoren, die bei einer günstigen Ausprägung eine protektive Wirkung haben (z. B. das passende Schuhwerk für die gewählte Tour). Und dann gibt es noch solche, die den Einfluss anderer Faktoren verstärken oder vermindern. Wir müssen uns bei Bergwanderunfällen also mit einem komplexen und dynamischen Zusammenspiel von Einflussfaktoren auseinandersetzen.
Die BFU-Bergwanderstudie (2018-2020)
Darstellung der Einflussfaktoren im System Bergwandern
In einem ersten Schritt wurden alle möglichen Einflussfaktoren im Bergwandern auf explorative Wei-se identifiziert und zusammengetragen. In einem zweiten Schritt ging es darum, die Vielzahl von Einflussfaktoren zu strukturieren und diese systematisch darzustellen. Der gewählte Systemansatz basiert auf Rasmussens AcciMap (1997). Entstanden ist die „PreviMAP“ als hierarchisches System mit sechs verschiedenen Ebenen. Die Einflussfaktoren wurden gruppiert und den verschiedenen Ebenen zugeordnet. In einem dritten Schritt wurde die PreviMAP in einer grösseren Expertengruppe konsolidiert. Dazu wurde 2018 eine Online-Befragung von 49 Expertinnen und Experten (Personen aus Bergrettung, Polizei, Alpenvereinen, Unfallforschung, Wanderleiterausbildung, Medizin und wei-teren Organisationen) aus beinahe dem gesamten Alpenraum (FR, DE, AT, CH, IT) durchgeführt.
Charakterisierung der Bergwanderinnen und Bergwanderer
Es wurden zwei Feldbefragungen auf Schweizer Bergwanderwegen (weiss-rot-weiss markiert) durch-geführt. Die Befragungen fanden im Sommer 2018 sowie im Sommer 2019 in 22 verschiedenen Wandergebieten in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz statt. Insgesamt konnten über 4000 Bergwanderinnen und Bergwanderer befragt werden.
Entwicklung von Präventionsmassnahmen im Bergwandern
Für die Entwicklung von konkreten Präventionsmassnahmen wurden 2019 zwei Workshops mit 22 Fachleuten aus der Schweiz durchgeführt. Dabei waren alle relevanten Organisationen vertreten, die bei der Unfallverhütung im Bergwandern in der Schweiz eine wichtige Rolle spielen.
Der ausführliche Bericht zur Studie steht in unserem Shop allen Interessierten kostenlos zur Verfügung: www.bfu.ch/de/services/bestellen-herunterladen
Bürgi F, Walter M, Derrer P, Niemann S, Brügger O. Bergwanderstudie. Ein Systemansatz in der Unfallprävention. Bern: Beratungsstelle für Unfallverhütung BFU; 2020. Forschung 2.380 DOI:10.13100/BFU.2.380.01.2020
Die BFU: Schweizerische Beratungsstelle für Unfallverhütung
Die BFU macht Menschen sicher. Als Kompetenzzentrum forscht und berät sie, damit in der Schweiz weniger folgenschwere Unfälle passieren – im Strassenverkehr, zu Hause, in der Freizeit und beim Sport. Für diese Aufgaben hat die BFU seit 1938 einen öffentlichen Auftrag.
PreviMAP – Systematische Darstellung von Einflussfaktoren
In der Experten-Befragung gingen die Meinungen bezüglich Einflussfaktoren und deren Relevanz im Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen sehr weit auseinander. Dies verdeutlicht, wie heterogen die Ursachen für Bergwanderunfälle sind. Die PreviMAP (Abb. 1) mit ihrer Vielzahl an Einflussfaktoren veranschaulicht, wie komplex und multifaktoriell das Unfallgeschehen beim Bergwandern sein kann. Die PreviMAP diente in der Bergwanderstudie als Grundlage für eine ganzheitliche und umfassende Betrachtung des „Systems Bergwandern“. Sie half, Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Faktoren besser zu verstehen. Zudem sollte sie dazu beitragen, dass auch nicht offensichtliche und nicht direkt am Unfallgeschehen beteiligte Faktoren bei der Entwicklung von Präventionsmassnahmen berücksichtigt werden.
Charakterisierung der Bergwanderinnen und Bergwanderer
Die Feldbefragungen haben gezeigt, dass ein Teil der Bergwanderinnen und Bergwanderer die Voraussetzungen, um in den Bergen zu wandern, nicht erfüllt: Ein Viertel der Befragten gab an, nur mittelmässig oder überhaupt nicht fit zu sein. 15 % sagten zudem von sich, sie seien nicht besonders trittsicher. Dennoch waren sie auf einem weiss-rot-weiss markierten Bergwanderweg unterwegs. Dass auf diesen Wegen exponierte Stellen mit Absturzgefahr vorkommen können, war mehr als einem Drittel der Befragten nicht bewusst. Zudem überschätzen sich viele Bergwanderinnen und Bergwanderer. Gemäss eigenen Angaben würde die Hälfte der Befragten versuchen, eine Stelle zu passieren, auch wenn sie oder ihre Begleitperson sich diese eher nicht zutrauen würden. Dennoch sind die meisten der Meinung, dass sie sich beim Wandern nicht besonders riskant verhalten. Wir haben also festgestellt, dass verschiedene Risikofaktoren bei den Wandernden vorkommen, teilweise sogar Kombinationen mehrerer Risikofaktoren. Wie die vorhandenen Risikofaktoren das Unfallrisiko aber tatsächlich beeinflussen, kann mit dieser Studie nicht beantwortet werden.
Mismatch reduzieren – ein möglicher Ansatz in der Prävention
Die Fachleute in den Workshops waren sich einig, dass es in der Prävention von Bergwanderunfällen nicht mehr nur darum gehen kann, einzelne Einflussfaktoren als Risikofaktoren zu identifizieren und diese isoliert zu betrachten. Vielmehr müssen wir uns die Kombinationen von Einflussfaktoren, die im Feld zu ungünstigen oder gefährlichen Konstellationen führen können, vor Augen führen. Diese scheinen oftmals Kombinationen von menschbezogenen (z. B. körperliche Verfassung, motorische Fertigkeiten, Kenntnisse, Planung, Schuhe) und umweltbezogenen (z. B. Gelände, Wetter oder Leistungsdenken) Einflussfaktoren zu sein. Das heisst, es kommt immer wieder zu Situationen, in denen Person und Weg nicht zusammenpassen. Dieses Nichtzusammenpassen der individuellen Voraussetzungen einer Person mit den Weganforderungen bezeichnen wir als „Mismatch“ (Abb. 2). Laut den Fachleuten scheint dieser Mismatch beim Bergwandern ein verbreitetes Phänomen zu sein, das das Risiko für Bergwanderunfälle erhöhen kann. Deshalb sollte das Ziel von künftigen Präventionsmassnahmen sein, den Mismatch zu reduzieren. Und zwar auf Seite des Menschen wie auch der Wege, nach dem Motto: Wandern mit kleinem Unfallrisiko können fast alle, wenn die Voraussetzungen zur Bewältigung der Anforderungen der gewählten Wege vorhanden sind.
Fazit
Unsere Studie zeigt, dass einige Bergwanderinnen und Bergwanderer die Voraussetzungen für die Begehung eines Bergwanderweges nicht erfüllen und sich der Gefahren im Gebirge nicht bewusst sind. Dadurch erhöht sich ihr Risiko. Kommt es zu einem Unfall, können die genauen Ursachen oft nicht restlos geklärt werden, zu viele Faktoren spielen mit. In der Prävention müssen wir aber trotzdem versuchen, einen Schritt weiterzukommen. Wir sollten Bergwanderinnen und Bergwanderer, die über keine spezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, so lenken, dass sie sich auf Wegen bewegen, auf denen ein Stolperer oder Ausrutscher nicht fatale Folgen hat. In dieser Hinsicht sind viele verschiedene Akteure in der Pflicht, ihren Beitrag zu mehr Sicherheit im „System Bergwandern“ zu leisten.
Die nächsten Schritte
Sensibilisierung
Damit wir den Mismatch in Zukunft reduzieren können, braucht es zuerst eine gründliche Aufklärung, dass fürs Bergwandern gewisse Voraussetzungen nötig sind. Bergwandern ist kein Spaziergang und nicht für jedermann geeignet. Alle Beteiligten sind aufgefordert, hier mitzuhelfen, sei es als Wanderleiter*in, als Gästeberater*in im Tourismus, als Arzt oder Ärztin, als Lehrperson oder als Kollegin und Freund*in. Auch die BFU hat ihre mehrjährige nationale Bergwanderkampagne darauf ausgerichtet, die Bevölkerung dafür zu sensibilisieren, dass man fürs Bergwandern fit, trittsicher und schwindelfrei sein muss (sicher-bergwandern.ch).
Bessere Information und innovative Hilfsmittel
Anschliessend braucht es Massnahmen, die es den Wandernden erleichtern, einen für sie passenden Weg auszuwählen. Einerseits müssen die Anforderungen eines Weges klar sein. Eine einheitliche und objektive Bewertung und Klassierung der Wanderwege wie auch eine verständliche Signalisation spielen dabei eine wichtige Rolle. Andererseits müssen die Wegnutzerinnen und Wegnutzer lernen, ihre Fähigkeiten in Bezug auf die Weganforderungen besser einzuschätzen. Dazu möchten wir in der Schweiz einen neuen und innovativen Weg beschreiten und vermehrt technologische Möglichkeiten nutzen. Gemeinsam mit verschiedenen Partnerorganisationen werden wir Web-Applikationen entwickeln, die helfen sollen, den Mismatch zu reduzieren: eine Weg-App für eine möglichst objektive Bewertung von Wanderwegen, eine Wanderer-App für die Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten und eine Matching-App, welche die anderen beiden Apps vereint und aufgrund der Selbsteinschätzung passende Wandervorschläge macht.
Besserer Zugang zu Unfalldaten
Langfristig wäre es auch sehr wichtig, sich bei der Konzeption von Präventionsmassnahmen auf bessere Unfalldaten und verlässliche Kontextinformationen stützen zu können. Präventionsorganisationen sollte der Zugang zu vorhandenen Datenbanken (z. B. jenen der Polizei) erleichtert werden, damit eine wirksame Prävention möglich wird.