bergundsteigen #128 cover
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24. Mai 2022 - 20 min Lesezeit

Doppelzäsur: Was lernt ein Bergführer aus zwei Unfällen?

Zwei Unfälle mit Folgen. Ein Gespräch über die Risiken im Leben eines Bergführers und wie man damit umgehen kann.

Christian „Hechei“ Hechenberger hat sich seine Träume erfüllt. Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern im Angesicht des Wilden Kaisers, arbeitet als Bergführer mit zwei guten Freunden in der kleinen, aber feinen Alpinschule „Rock & Roll“ und verbringt viel Zeit am Berg bei der Realisierung anspruchsvoller Projekte in Fels und Eis. Bei einer Skitour im Februar 2020 hat Hechei einen Lawinenunfall am Großen Rettenstein in den Kitzbüheler Alpen (siehe grüner Kasten), bei dem er und sein Gast schwer verletzt werden. Natürlich stellen sich nach so einem einschneidenden Ereignis für jeden Bergsteiger und erst recht für jeden Bergführer Fragen: Wie konnte das passieren? Was habe ich falsch gemacht? Wie kann ich einen solchen Unfall in Zukunft verhindern?

Recht schnell wurde klar, dass er nichts „falsch“ gemacht hat, auch ein im Ermittlungsverfahren beigezogener gerichtlicher Sachverständiger bestätigte das. Trotzdem blieb die Erkenntnis, dass, obwohl eigentlich nichts gegen die Tour sprach, er mit seinem Gast sehr leicht hätte sterben können. In jedem Fall war der Unfall Anlass für ihn, seinen Zugang zur Führungstätigkeit im Winter nochmals kritisch zu hinterfragen und diese Gedanken auch in Form eines Interviews für bergundsteigen zu veröffentlichen.

Gerade als wir für Anfang Dezember 2020 einen Gesprächstermin vereinbaren wollten, verunfallte Hechei bei einer Klettertour am Fleischbank-Nordgrat im Wilden Kaiser. Da er im III. Schwierigkeitsgrad seilfrei unterwegs war – nichts Ungewöhnliches für einen Bergführer, der die Tour schon viele Male gegangen ist –, stürzte er, sich mehrmals überschlagend, etwa 100 Meter über steiles Felsgelände ab und blieb am Wandfuß mit schwersten Verletzungen liegen (Abb. 4).

Nachdem am Anfang nicht klar war, ob er den Absturz überleben wird, und schon gar nicht, ob er überhaupt wieder bergsteigen und klettern gehen kann, kämpfte er sich Schritt für Schritt zurück und war entgegen aller Erwartungen schon im Sommer wieder bei klassischen Klettertouren mit Gästen unterwegs. Da Christian nach wie vor motiviert war, unser ursprüngliches Thema zu besprechen, haben wir uns ziemlich genau ein Jahr nach seinem Absturz zum Interview getroffen.

Lawinenunfall in der Ostrinne am Großen Rettenstein – Auszug aus dem alpinpolizeilichen Bericht

Autor: Martin Hautz, damaliger Leiter der Alpinen Einsatzgruppe Kitzbühel

Die Ostrinne auf den Gr. Rettenstein mit der Unfalllawine. Eingezeichnet die vermutlichen Standorte von Bergführer Christian Hechenberger und seinem Kunden (gelb) sowie der beiden Tourengeher vor ihnen. Diese stiegen mit den Fellen weiter Richtung Gipfel, während Christian und sein Kunde die Skier auf den Rucksack montiert hatten und zu Fuß hochgestapft waren. (Foto: Alpinpolizei, Vorlage: P. Plattner, analyse:berg)

Ein einheimischer 36-jähriger (inzwischen 38) österreichischer Berg- und Skiführer war im Winter 2019/20 fast täglich beruflich in den Kitzbüheler Alpen auf Skitouren und beim Freeriden unterwegs. In der Zeit vom 5. bis 7. Februar 2020 war er im Nahbereich des Großen Rettenstein und konnte sich so einen Überblick über die Verhältnisse in der Ostrinne verschaffen, die er schon öfter gemacht hatte. Nach der Einholung des Tiroler und Salzburger Lawinenlageberichts am 7.2.2020 – für den 8.2. wurde die Gefahrenstufe 1 bis 2.300 m und die Stufe 2 oberhalb von 2.300 m ausgegeben – und einer detaillierten Tourenplanung traf er sich mit seinem Kunden am Samstag, den 8.2. um 08:20 Uhr an der Talstation der Wagstättbahn in Jochberg. Von dort fuhren sie mit den Liftanlagen bis zum sogenannten „2000er“, wo sie den gesicherten Pistenbereich verließen und zum Schöntaljoch aufstiegen. Vom Schöntaljoch querten sie weit nach Nordwesten und gelangten so in die markante Ostrinne, in der sie die erste Spur anlegten und in Spitzkehren Richtung Gipfel aufstiegen.

Auf ca. 2.115 m verstauten sie die Ski am Rucksack und stiegen/stapften zu Fuß weiter (Abb. 1). Hier kamen ihnen ein 44-jähriger und ein 39-jähriger Österreicher – beide ohne formale alpinistische Qualifikation und befreundet – in der Aufstiegsspur nach und überholten sie. Während der 44-Jährige nun als Erster den immer steiler werdenden Hang mit Ski und in Spitzkehren hinaufspurte und ihm sein 39-jähriger Freund in einem sich immer vergrößernden Abstand in dessen Spur ebenfalls mit Ski folgte, stiegen/stapften der Bergführer und sein Klient ca. in Falllinie in der Rinnenmitte bis etwa 15 m oberhalb des sogenannten „großen Steins“ (ca. 2.285 m) in einer gemeinsamen Stapfspur auf.

Auf dieser Höhe blieben beide gegen 12:00 Uhr im ca. 47° steilen Hang in einem vertikalen Abstand von ca. 2–7 m stehen, da der Bergführer ein Foto von seinem Kunden machte, als es plötzlich zu einem Lawinenabgang kam (Abb. 1). Der Bergführer und sein Kunde konnten ihre Lawinen-Airbags auslösen, wurden von den Schneemassen erfasst und ca. 340 m weit mitgerissen. Beide kamen oberflächlich (sichtbar) verschüttet und schwer verletzt auf gleicher Höhe zu liegen (Abb. 2). Eine umfassende Dokumentation des Unfalls am Großen Rettenstein findet sich in analyse:berg, Winter 2020/21, S. 68–78. Das Fachmagazin vom Österreichischen Kuratorium für Alpine Sicherheit erscheint zwei Mal jährlich und beschäftigt sich mit der Aufarbeitung von alpinen Unfällen. Es ist im Abo erhältlich.

Ursprünglich wollten wir eigentlich nur über deinen Lawinenunfall sprechen, den du im Februar 2020 hattest. Der Unfall hat dich ja insofern nachhaltig beschäftigt, dass er Anlass war, deine Arbeit als Berg- und Skiführer bzw. deine Herangehensweise kritisch zu hinterfragen. Was waren deine Schlüsse, die du gezogen hast?

Bereits bei der Einvernahme durch die Alpinpolizei bestätigte sich mein erster Eindruck, keine groben Fehler gemacht und alles getan zu haben, um einen Unfall zu vermeiden. Ich war bereits in den Vortagen im Gebiet unterwegs, kenne das Ziel sehr gut und auch das Wetter hat gepasst. Die Schnee- und Lawinensituation war mit Lawinengefahrenstufe mäßig (2) ab 2.300 m und gering (1) unterhalb von 2.300 m recht günstig, v. a. auch deshalb, da es keine Gefahrenzeichen im Gelände gab. Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass der Große Rettenstein 2.366 m hoch ist. Auch ein gerichtlich bestellter Sachverständiger kam zum Ergebnis, dass meine Vorgehensweise äußerst sorgfältig war und mir fachlich gesehen nichts vorzuwerfen war.

Mehr als ein fachlicher Fehler hat mich aber die Frage beschäftigt: Warum habe ich den Großen Rettenstein als Ziel ausgesucht? Ich hätte ja auch woanders hingehen können. Die Antwort war recht einfach: Ich wollte meinem Gast etwas bieten und habe daher ein Ziel gewählt, das nicht alltäglich ist und auch aus alpinistischer Sicht eine gewisse Bedeutung hat – zumindest in den Kitzbüheler Alpen. Und nach dem Aspekt „dem Gast etwas bieten“, wollte ich auch meinem Ego als Bergführer etwas bieten! Ein Umstand, der vielleicht manchmal unterschätzt wird bzw. den auch ich unterschätzt habe.

Im Nachhinein und mit dem Wissen, das ich jetzt habe, hätte ich die Alarmglocken hören können. Wir sind in Spitzkehren den bis zu 47° steilen Hang aufgestiegen, für mich ziemlich locker, als mir mein Gast sagt: „Ich schaffe es mit den Skiern nicht mehr!“ An diesem Punkt hätte ich umkehren können, wir wären abgefahren und hätten uns noch einen schönen Tag im Skigebiet gemacht. So habe ich aber entschieden, die Skier auf den Rucksack zu schnallen und die letzten 200 Höhenmeter bis zum Gipfel zu stapfen. Für mich war das aus heutiger Sicht der Knackpunkt!

Christian „Hechei“ Hechenberger hatte Glück im Unglück und überlebte zwei schwere Unfälle. Foto: Nick Rieder.

Für die Zukunft habe ich mir beim Führen vorgenommen, solche Schlüsselstellen noch besser wahrzunehmen, um Entscheidungen zu hinterfragen oder auch einmal eine Tour abzubrechen. Eine wichtige Lehre ist für mich auch: Beim Bergführen geht es in erster Linie um einen schönen Tag und nicht um ein extremes Ziel! Eine schöne gemeinsame Zeit ist wesentlich wichtiger als ein exklusives Ziel! Ich kann natürlich auch ein cooles Ziel angehen, wenn nichts dagegenspricht, sollte mir aber immer die Frage stellen, ob es das sein muss und ob es das auch wert ist?

Als Bergführer muss man sich einfach bewusst sein, dass manche Ziele auch höheres Risiko bedeuten, und dann einschätzen können, ob das auch noch für die Gäste passt. Wenn man aber das Feedback bekommt, dass es eh schon mehr als reicht, sollte man als Guide auch einmal den Schritt machen umzukehren. Es war und ist für mich als Bergführer ein Lernprozess, zu sehen und zu akzeptieren, dass es nicht immer noch höher, extremer, steiler … sein muss, sondern einfach ein guter Tag das Ziel ist. Natürlich habe ich auch Gäste, die explizit Höhenmeter, Steilheit und Schwierigkeit verlangen, aber für mich ist es heute so: Will ich das überhaupt (noch)?

Du bist ja als Bergführer auch in langen und schwierigen Routen im Fels unterwegs. Wie siehst du das Risiko beim Klettern im Vergleich zum Tourengehen?

Im Sommer bzw. beim Klettern ist das bestimmt leichter als im Winter. Wenn jemand die „Comici“ an der Großen-Zinne-Nordwand gehen möchte, dann hat er eine Vorstellung, und das kann ich dann machen oder nicht. Ich kann noch eine Vorbereitungstour mit meinem Gast machen und dann entscheiden, ob wir gehen. Ich kenne die Tour, kenne die Schwierigkeiten, schätze das Wetter ein und weiß, worauf ich mich einlasse.

Und wenn ich eine Tour nicht kenne, kann ich mir sehr gute Informationen holen und sie mit ähnlich schwierigen Routen vergleichen. Die Gäste haben ein klares Ziel und bestimmen damit auch ein Stück weit ihr Risiko. Das lässt sich für mich viel besser planen und auch das Umkehren fällt leichter, da die Entscheidungspunkte viel eindeutiger sind. Das Risiko ist wesentlich transparenter als bei einer Skitour. Denn beim Tourengehen und Variantenfahren im Winter entscheide meistens ich über das Ziel und das Risiko.

Hier gibt es vielfach keine so klar formulierten Abfahrtswünsche seitens der Gäste, sondern in erster Linie meinen Anspruch bzw. meine Unterstellung, was dem Gast gefällt oder nicht und was von mir erwartet wird. Dazu kommt noch, dass ich für eine schwere Kaisertour oder eine Dolomitenwand wesentlich mehr Honorar verlangen kann, weil eine Nordwand oder eine alpine 7er-Tour einfach mehr wert ist als eine 0815-Skitour in den Kitzbüheler Alpen. Erst durch meinen Unfall wurde mir so richtig klar, dass das Risiko beim Klettern eigentlich viel geringer ist als beim Tourengehen. Jetzt weiß ich auch, warum ich gerne schwere Klettertouren führe! Kollegen fragen manchmal: Warum tust du dir das an? Aber im Vergleich zum Winterthema ist das Klettern viel „griffiger“ und leichter einzuschätzen!

Als Bergführer weiß man natürlich, dass es Unfälle am Berg gibt. Doch wie siehst du die Sache mit dem Risiko als jemand, der so unmittelbar betroffen war bzw. ist? Wie sollte man deiner Meinung nach als hauptberuflich tätiger Bergführer in Sachen Risiko unterwegs sein?

Insgesamt ist das Risiko am Berg unglaublich schwer zu fassen, weil man einfach zu oft nicht weiß, wie knapp es war, und das v. a. im Winter. Im Jahr 2020 hatte ich ja mit meinem Lawinenunfall und dem Absturz drei Geburtstage zu feiern – wie viele Geburtstage es aber tatsächlich in all den Jahren sind, weiß ich nicht. Rückblickend habe ich mir als Bergführer immer sehr gut überlegt, was ich mit meinen Gästen machen kann, dabei hatte ich mich selbst aber nicht so auf der Rechnung – meine Einstellung war: Ich funktioniere ja ohnedies!

Nur bei sehr anspruchsvollen Touren habe ich mir manchmal die Frage gestellt: Kann ich das auch bzw. will ich das auch? In Zukunft werde ich mich selbst jedenfalls viel mehr einbeziehen und dabei mein eigenes Ego beim Führen hintanstellen. Wenn sich dann schwere Touren ergeben, ist das natürlich spannend und darf auch so sein, schwere Touren sind aber nicht das Ziel oder Selbstzweck. Ein hohes Risiko sehe ich aber nicht nur bei den offensichtlich schweren Touren, sondern auch bei den oft überlaufenen Zielen der Alpendrei- und -viertausender.

Mit unbekannten und mitunter überforderten Leuten auf Fels- und Firngraten oder in steilen Flanken unterwegs zu sein, ist sicher ein Bereich, den ich nicht aktiv forcieren werde. Unter Kollegen scherzen wir immer wieder, dass es unser Ziel im Sommer ist, keine Steigeisen anzuziehen, und das hat auch in Sachen Risiko einiges für sich. Überhaupt deshalb, da ich im Sommer sehr viele Möglichkeiten sehe, mit geringem Risiko und einem hohen Genussfaktor für Gast und Führer unterwegs zu sein.

Klar gibt es Kollegen, die mich dafür anprangern, dass ich mir beim Führen nur die „Rosinen“ aussuche, und für viele Bergführer wird das in ihrem Arbeitsumfeld auch gar nicht möglich sein, dass sie gewisse Touren ablehnen. Aber ich muss es nicht machen und jeder Bergführer sollte sich sein Berufsfeld so gestalten, dass es für ihn passt! Das meine ich inhaltlich und auch risikotechnisch. Ich fühle mich richtig privilegiert, dass ich mir die schönen Touren (Sommer wie Winter) aussuchen kann, und dabei mit Gästen zu gehen, die ich mag.

Im Winter sehe ich es mit dem Risiko so, dass ich mit meinen Gästen zwar immer eine latente Gefahr schlummern habe, diese aber insofern beeinflussen kann, als dass ich einfach etwas zurückhaltender unterwegs sein werde – v. a. dann, wenn von meinen Gästen überhaupt nichts anderes gefordert wird. Spannend wird es dann, wenn man aus dem eigenen Anspruch heraus und im Willen, seinen liebgewordenen Gästen ein Maximum zu bieten, Ziele sucht, die dann im Risiko wieder eher hoch sind und zusätzlich auch noch das eigene Bergführerego befriedigen.

Gibt es so was wie ein „Bergführerego“?

Es gibt natürlich den Moment unter Kollegen, wo es darum geht, wer steiler gefahren ist oder die anspruchsvollere Tour gemacht hat. „Mehr“ gemacht zu haben als die anderen, ist hier auch ein gewisser Ansporn und meiner Meinung nach nicht von vornherein gleich schlecht. Es ist auch Ausdruck einer professionellen Arbeitsauffassung im Sinne einer gewissen Leistungsbereitschaft. So gesehen kann die Qualität der Arbeit schon ein Stück weit auch an der Quantität der Höhenmeter oder der Schwierigkeit festgemacht werden und vielleicht drückt sich darin auch das „Bergführerego“ aus. Ich habe immer probiert, eine gute Leistung abzuliefern, aber seit meinen Unfällen versuche ich noch viel bewusster, mich auf die Gruppe einzulassen und möglichst immer ein Lachen im Gesicht meiner Gäste zu sehen. Damit glaube ich, noch besser als mit Schwierigkeit und reiner Leistung Stammkunden zu finden, und als Berufsbergführer ist das schließlich auch der Schlüssel für den Erfolg und die Zukunft.

Abb. 4: Die gelbe Linie zeigt die Sturzbahn von Christian am Nordgrat der Fleischbank im Wilden Kaiser. Der Absturz ereignete sich am 8.12.2020 relativ am Beginn der Route. Der meistgewählte Anstieg führt an dieser Stelle durch einen Einstiegskamin, den Christian und seine Begleiter links über ähnlich schwierige Platten umgingen. Dort verlor er den Halt und stürzte bis zum Wandfuß. Foto: Alpinpolizei

Wie kommunizierst du das Risiko an deine Gäste?

Bei einer Skitour stelle ich mich nicht hin und erkläre meinen Gästen die Eckpfeiler meiner Risikobeurteilung oder alle Aspekte meiner Tourenplanung – außer meine Gäste wollen es wissen. Ich checke das Risiko und gebe meinen Gästen dann entsprechende Anweisungen (z. B. Spurfahren, Abstände einhalten …).

Ich sehe das nicht unbedingt als notwendig an, dass man das Risiko immer auch kommuniziert. Gerade bei der Führungsarbeit ist es Aufgabe des Bergführers, das Thema Risiko professionell abzudecken. Es ist nicht zuletzt auch ein Grund für einen Gast, einen Bergführer zu nehmen, dass er sich eben nicht mit den Risiken auseinandersetzen will oder kann. Die Entscheidung in einer kritischen Situation auf den Gast zu übertragen, funktioniert ja ohnedies nicht und ist nicht zielführend!

Was, glaubst du, schätzt ein Gast an einem Bergführer bzw. einer Bergführerin am meisten?

Authentizität! Obwohl es natürlich vom Gast abhängig ist, was er/sie besonders schätzt. Wenn jemand unbedingt einen Gipfel oder ein Ziel erreichen möchte, dann schätzt er es wahrscheinlich am meisten, wenn dieses Ziel erfüllt wird. Die meisten meiner Gäste aber schätzen die Beziehung, die wir zueinander haben. Ob ich mit meiner Frau, mit Freunden oder mit Gästen in die Berge gehe, macht für mich keinen Unterschied!

Ich versuche immer, das Beste aus dem Tag zu machen, das ist mein Anspruch. Bei der Arbeit bin ich aber immer bereit, mit meinen Gästen eine Beziehung aufzubauen, und ich glaube, dass sie das auch schätzen. Mit meinem Gast, mit dem ich den Lawinenunfall am Großen Rettenstein hatte, verbindet mich auch heute noch eine gute Beziehung und es war nie ein Thema, dass er mir die Schuld an dem Unfall gegeben hat. Obwohl er damals schwer verletzt wurde, haben wir schon wieder gemeinsame Touren geplant, und das gibt mir wiederum das Gefühl, dass ich im Umgang mit meinen Gästen etwas richtig gemacht habe.

Es muss daher neben den harten Fakten und den zu erbringenden Leistungen auch noch eine Beziehungsebene geben. Nach meinem Unfall im Dezember 2020 konnte ich im vergangenen Sommer einem Stammgast nicht die Touren bieten, die wir in der Vergangenheit gegangen sind. Beispielsweise sind wir die Rosengarten-Ostwand und ähnliche Touren geklettert. Heuer war ich mit ihm auf der Karlsbader Hütte und da sind wir Touren geklettert, die allesamt wesentlich weniger anspruchsvoll waren. Am Ende sagte er mir, dass die Tage in den Lienzer Dolomiten für ihn ebenso erfüllend waren wie die schwierigen Touren in den Jahren davor.

So gesehen habe ich in der Vergangenheit bestimmt auch das eigene Ego bei meinen Führungstouren erfüllt. Es war für mich einfach so motivierend, schwere Routen zu gehen und mit diesen Routen auch mein Geld zu verdienen. Einen Beruf zu haben, der das zulässt, ist einfach das Höchste für jemanden, dessen große Leidenschaft das Klettern ist. Heute bin ich mir sicher, dass schöne Tage am Berg und eine gute Zeit wichtiger sind als schwierige Touren!

Stehen eigentlich deine beiden Unfälle 2020 für dich in irgendeiner Verbindung?

Für mich sind das zwei komplett voneinander unabhängige Ereignisse. Aus dem Lawinenunfall habe ich keine Erkenntnis gewonnen, die den Absturz hätte verhindern können. Aktuell ist der Absturz an der Fleischbank natürlich präsenter, weil auch die Folgen schwerwiegender waren. Obwohl ich die beiden Unfälle als getrennt sehe, gibt es aber auch Schnittmengen. Eine Überschneidung ist, dass ich hinsichtlich des Ziels nichts Unmögliches gemacht habe und es keine „handwerklichen“ Fehler gegeben hat. Eine wichtige Parallele für mich ist, dass ich mich hinterher da wie dort gefragt habe, ob es ausgerechnet dieses Ziel hat sein müssen, da ich ja auch 1.000 andere Möglichkeiten gehabt hätte.

Andererseits hätte mir der Unfall auch schon zehn Jahre früher oder erst in zehn Jahren passieren können. Klar habe ich mich gefragt, ob es nicht gescheiter gewesen wäre, an diesem 8. Dezember ein anderes Ziel zu wählen: Im Nachhinein sicherlich, obwohl ich schon sehr oft viel schwierigere Touren gemacht habe! In den vergangenen Monaten konnte ich viel darüber nachdenken, was ich am Berg schon alles erlebt und wie oft ich vielleicht schon Glück gehabt habe – v. a. beim engagierten Soloklettern war das Risiko sicher sehr hoch.

Ein Schlüsselerlebnis dabei war eine Solotour am Schleierwasserfall, wo ich mir schon in der Tour Gedanken gemacht habe, was ich sonst noch solo klettern könnte. Anstatt mich zu konzentrieren, war ich im Kopf schon ganz woanders. Und da ist mir schlagartig bewusst geworden, dass ich das lassen sollte, und ich habe an dieser Entscheidung auch bis heute festgehalten.

Christian Hechenberger wenige Wochen vor seinem schweren Unfall im Wilden Kaiser in der Route „Sportherz“ 8+ an der Ostwand der Karlspitze. Foto: Michael Meisl

Hast du dir jemals die Frage nach dem Sinn des Bergsteigens gestellt und was dir wichtig ist in deinem Leben?

Ich persönlich habe mir nicht die Frage nach dem Sinn gestellt, das haben v. a. andere getan, besonders aus dem Bekanntenkreis. Da sagten schon viele: „Jetzt wird er es wohl einmal lassen!“ Aber aus dem Kreis der Bergsteiger hat das niemand gesagt! Meine Kollegen und Freunde wären wohl aus allen Wolken gefallen, wenn ich aufgehört hätte. Es war vorher meine Leidenschaft und ist es auch weiter, ich liebe das Klettern und Bergsteigen und lebe weiter meinen Traum. Ich „muss“ in die Berge, weil ich sonst nicht ich bin! Den Sinn des Bergsteigens würde ich daher nicht hinterfragen, sondern mir eher die Frage stellen:

Was kann ich anders machen? Bei meinem Lawinenunfall habe ich dazu auch einige Antworten gefunden. Bei meinem Kletterunfall tue ich mich schon schwerer, denn das Einzige, was mir einfällt, wäre das Daheimbleiben, wobei ich mir mittlerweile öfter die Frage stelle: „Muss das heute sein?“ Meine Agenda an Wunschzielen ist mittlerweile auch viel kleiner geworden. Es treibt mich nicht mehr so zu den sehr anspruchsvollen Zielen, was sicher auch daran liegt, dass ich in meiner Familie viel mehr angekommen bin. Ich habe es zwar davor auch schon sehr geschätzt, dass es uns als Familie gut geht, aber die Erkenntnis, dass mich meine Kinder und meine Frau jetzt brauchen, ist schon noch einmal viel bewusster und bestimmender. Mein Leben wird sicher ein gutes Stück weit von den Bergen bestimmt, aber der hohe Stellenwert der Familie ist im Angesicht des totalen Verlustes heute viel präsenter.

Ich werde daher auch in Zukunft meinen Leidenschaften am Berg nachgehen, möchte aber noch mehr darauf achten, dass es im Einklang mit Familie und Freunden passiert. Es geht nämlich nicht nur um mich und um meine Bedürfnisse, sondern um alle Bereiche in meinem Leben. Ich möchte mein Leben im Großen und Ganzen schon so weiterführen, aber vielleicht hin und wieder mit etwas Distanz von außen darauf schauen, ob es auch wirklich passt. Insgesamt ist ja mein Leben total aufgegangen – ich habe meinen Traumberuf, eine tolle Familie und gute Freunde – und dieses traumhafte Leben hätte ich mit vermeintlich kleinen Ereignissen beinahe verloren. In diesem Sinn kann ich heute mein eigenes Ego viel besser hintanstellen.

Heute habe ich auf das Ganze sicher einen anderen Blickwinkel – die Perspektive hat sich geändert! Beispielsweise habe ich mich beim Eisklettern in den vergangenen zehn Jahren voll ausgelebt und da war mir die Leistung extrem wichtig, da fiel es mir wirklich schwer, mich mit etwas zufriedenzugeben. Jetzt bin ich dankbar, dass ich es überhaupt wieder körperlich und mental schaffe und ich mit meinen Freunden in Eisfällen unterwegs sein kann, die ich vor zwei Jahren noch als lächerlich abgetan hätte. Und das Spannendste dabei ist, jetzt zu sehen, dass auch „normale Touren“ echt Freude machen und erfüllend sind. Die Vergangenheit kann man nicht ändern und daher geht es darum, aus dem Erlebten viele positive Aspekte herauszuholen und möglichst viel von dem umzusetzen, was ich mir vorgenommen habe.

Glaubst du, dass es in der Ausbildung Möglichkeiten gibt, Bergführer auf diese Herausforderungen vorzubereiten?

In meiner Bergführerausbildung spielten Softskills eine untergeordnete Rolle, da ging es in erster Linie um technisches Können, alpinistische Fähigkeiten und Führungsmethoden. Ich fände es sehr wichtig, wenn in der Bergführerausbildung hier vielleicht mehr gemacht werden könnte. Es geht in unserem Beruf ja nicht nur um die reine Technik, sondern im Berufsleben spielen auch andere Sachen eine große Rolle. „Hard Facts“ sind essenziell, aber die Persönlichkeitsebene sollte einen höheren Stellenwert haben. Das ist zwar schwierig, v. a. im bestehenden Ausbildungssetting, wo Leistungsparameter bestimmend sind. Zu lernen, wie man auf die Persönlichkeit der Gäste eingeht und dabei seine eigene Persönlichkeit berücksichtigt, wäre aber sicher ein Gewinn.

„Beziehungen mit unbekannten Menschen aufzubauen ist ein großer Teil unseres Berufs, der nicht vernachlässigt werden sollte. Es muss ja kein Patentrezept geben, aber vielleicht ist auch das, was ich erlebt habe, für den einen oder anderen ein Denkanstoß.”

Erschienen in der
Ausgabe #118 (Frühling 22)

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