Expeditionskader: „Es gibt mehr als Plastikklettern“
Der Berg-Nachwuchs? Die eine hat mit 16 Jahren mit ihrem großen Bruder die Hasse-Brandler an der Großen Zinne geklettert und später die Comici mit dem kleinen Bruder; im Sportklettern war bereits so manche 8a fällig. Der andere klettert El Niño am El Capitan oder Odyssee an der Fleischbank im Wilden Kaiser.
Die Nachwuchs-Trainer? Ein Whoʼs who der Szene. In Deutschland waren oder sind es noch Toni Lamprecht, Chris Semmel, David Göttler oder Dörte Pietron. In Österreich helfen etwa Much Mayr, Lisi Steurer oder Matthias Wurzer als Mentoren beim Leistungssprung. Es ist jedenfalls längst auch bei den Alpenvereinen angekommen, dass man die Nachwuchsförderung nicht einfach dem Zufall oder der Eigeninitiative einiger durch Familienbande am Berg sozialisierter Individualisten überlassen möchte.
Neben eher punktuellen, projektbezogenen Fördermaßnahmen gibt es mittlerweile in allen deutschsprachigen Alpenvereinen mehrjährige Nachwuchsprogramme für besonders engagierte Jungalpinisten – mit vielsagenden Schnittmengen bei der Namensgebung. In Österreich heißt es „Junge Alpinisten TEAM“, in Südtirol ist es das „Alpinist Team“, in der Schweiz wiederum das „Expeditionsteam“ und beim Deutschen Alpenverein, aus dem oben genannte Beispiele stammen, der „DAV-Expedkader“.
Gerade Letzterer, der auf sogenannten „Trainingsexpeditionen“ als Vorgänger aufbaute, hat sich inzwischen zu einem Markennamen entwickelt. Dörte Pietron, Bergführerin und Trainerin des Expedkaders, sagt beispielsweise: „Der Name Expedkader hat einen hohen Marketingwert. Aber er wurde immer wieder diskutiert.“
Denn die Kernfragen, egal, bei welchem Verein, sind ja stets die gleichen: Wie viel Kadergedanke – dem Begriff wohnt etwas Elitäres, ja Hierarchisches inne – sollte eine Bergsteiger-Ausbildung beinhalten? Wie stark sollte der Expeditionsfokus sein, und vor allem: wie ausgeprägt das Leistungsstreben? Fasziniert doch der Alpinismus eben durch seine Eigenheit, weit mehr zu sein als nur reine Körperertüchtigung.
So ging es den Gründungsvätern der einzelnen Juniorenteams weniger um die reine Steigerung der Wettkampfhärte von besonders vielversprechenden Athleten als darum, den Alpinismus als Kernaufgabe und geradezu sinnstiftendes Element der Alpenvereine speziell unter jungen Erwachsenen zu fördern.
Und schon als der Französische Berg- und Kletterverband FFME dafür Ende der 1980er sein heute zu den Équipes Nationales D’alpinisme ausgewachsenes junges Alpinistenteam ins Leben rief, war klar, dass Alpinismus zwar sportliche Elemente enthält, aber eben keine „compétition“, kein Wettstreit im olympischen Sinne, keine reine Jagd nach Etappenzielen sein soll.
Das war auch so, als der Deutsche Alpenverein Ende der 1990er-Jahre eine wohl durch den Sportkletterboom verstärkte Abenteuermüdigkeit bei deutschen Nachwuchsbergsteigern diagnostizierte und als Weckruf im Jahr 2000 den ersten und durchaus auch leistungsorientierten Expedkader aus der Taufe hob.
So war es 2009, als der Schweizer Alpenclub mit dem ähnlich konzipierten „Expeditionsteam“ nachzog, welches durchaus im Verdacht stand, Abbilder des nationalen Vorzeige-Extremisten Ueli Steck ausbilden, ja angeblich geradezu heranzüchten zu wollen. Und es war erst recht so, als sich der Südtiroler Alpenverein (AVS) vor kurzem entschloss, sich an das TEAM-Konzept der „Jungen Alpinisten“ beim Österreichischen Alpenverein anzulehnen (wobei das TEAM bewusst großgeschrieben wird) und im Frühjahr 2022 das erste Südtiroler „Team“ als neue Aktion innerhalb des übergeordneten Förderprogramms „Projekt Alpinist“ für Nachwuchsbergsteiger starten ließ.
Es gibt mehr als nur Plastikklettern. Es gibt das Abenteuer.
Bei Stefan Steinegger vom Bergsport-Referat des AVS ist die Erinnerung also noch sehr frisch, welche Überlegungen dazu führten, nämlich „jungen Kletterern durch die Förderung neue Perspektiven zu zeigen“. Das Ziel sei dabei, eine gewisse Ethik und Philosophie zu vermitteln. Oder wie Steinegger es plakativer ausdrückt: „Es gibt mehr als nur Plastikklettern. Es gibt das Abenteuer.“
Schon alleine wegen des dem Alpinismus inhärenten ganzheitlichen Ansatzes und der Anforderungen im Gelände sind die Gemeinsamkeiten der einzelnen Programme größer als die Unterschiede: Sämtliche deutschsprachigen Alpenvereine setzen auf Auswahlverfahren mit Bewerbungen und Sichtungscamps sowie eine Abschlussaktion, meist eine größere Expedition. Überall umfasst die Ausbildung dazwischen in den auf zwei bis drei Jahre verteilten Lehrgängen nicht nur das komplette Spektrum des Bergsteigens, von Eis-, Mixed- und Alpinklettern über Skihochtouren bis Bigwallklettern, sondern auch Seminare, um das dem Abenteuer per Definition innewohnende Risiko zu minimieren.
Diese reichen von eher klassischen Lehrinhalten wie Lawinenkursen oder Grundlagen der Bergrettung bis hin zu Fragen des Mentaltrainings, der Sponsorenakquise und der Expeditionsfinanzierung. Denn trotz der teils beträchtlichen materiellen Unterstützung – Expedkader-Leiter Philipp Abels spricht etwa von einem „Betrag im guten fünfstelligen Bereich“, von dem jeder Nachwuchsbergsteiger des DAV durch Ausrüstung, Expeditionszuschuss und die Lehrgänge bei den hochkarätigen Mentoren profitiere – ist die Ausbildung für die Jungbergsteiger in der Regel ein Zuschussgeschäft.
Beim SAC müssen die Teilnehmer beispielsweise selbst die Geldgeber für die Abschlussexpedition suchen; beim ÖAV und AVS sind Unterkünfte und Reisekosten selbst zu bezahlen. Laut dem Südtiroler Steinegger soll das durchaus dazu anregen, mal besonders kostengünstig am Berg zu biwakieren.
Wer sich ein wenig mit den Verantwortlichen unterhält, stellt bald fest: Der häufig am Tropf von Sponsoren lebende Alpinismus ist mit seiner für viele altmodisch anmutenden Ethik und Philosophie nicht nur im unromantischen Medien- und Marketingzeitalter der Moderne angekommen; er lässt sich gerade bei den im öffentlichen Diskurs stehenden Vereinen nicht einfach von gesellschaftlichen Fragen entkoppeln.
Der Südtiroler Alpenverein etwa stellt aufgrund der klubinternen Klimadiskussion, aber auch durch die von Corona erwirkte Unsicherheit bei Auslandsfahrten jede größere Unternehmung auf den Prüfstand. Und damit erst recht die Übersee-Expeditionen. „Wenn wir wo hinfliegen, dann muss das gerechtfertigt sein“, sagt Steinegger und verweist auf die fantastischen Möglichkeiten für Bergsteiger in seiner Heimat Südtirol.
Eine ähnliche Nachdenklichkeit ist bei Geschlechterfragen festzustellen – die je nach Ausrichtung der Kader ganz unterschiedlich beantwortet werden. So setzen der AVS und ÖAV auf gemischte Teams aus Männern und Frauen. Die Vertreter beider Vereine bezeichnen dies als ganz bewusste Entscheidung. „Ich glaube, die Zukunft ist, gemeinsam unterwegs zu sein. Ich bin überzeugt, dass sich beide Geschlechter ergänzen“, findet Steinegger.
Joanna Kornacki, Leiterin des ÖAV-Projekts Junge Alpinisten, sagt: „Wir trennen schon deshalb sicher nicht in Frauen und Männer, weil bei uns die Leistung nicht im Vordergrund steht.“ Sowohl Steinegger als auch Kornacki ist es viel wichtiger, Eigenständigkeit, Teamgedanken und persönliche Entwicklung der bergbegeisterten jungen Menschen zu fördern als Kaderschmiede zu sein. Laut Kornacki gehe es auch nicht darum, die Teilnehmer*innen auf die Bergführerausbildung vorzubereiten.
Dörte Pietron meint dagegen: „Wenn eine Gruppe gemischt ist, verfallen alle in das Rollenbild, dass die Männer vorsteigen.“ Das habe auch mit ihrer Beobachtung zu tun, dass Frauen „eher ermutigt werden müssen, während man Jungs eher bremsen muss“. Die Expedkader-Trainerin war beim DAV in den auch dort bis 2011 gemischten Kadern die einzige weibliche Teilnehmerin – und setzte sich schließlich für einen eigenen Expedkader für Frauen ein. „Der Unterschied war einfach zu groß für eine möglichst homogene Gruppe.“ Schließlich sei ja schon immer auch das Ziel gewesen, Spitzenalpinismus zu fördern.
Auch beim SAC, wo man sich laut dem Fachleiter Leistungsbergsteigen Silvan Schüpbach „sehr am Ideal des DAV“ orientierte und dem Leistungsgedanken ebenfalls etwas mehr Platz einräumt, gibt es ein eigenes Frauenteam. Das sei allerdings weniger dem Leistungsgefälle als einer ganz pragmatischen Überlegung geschuldet. „Lapidar gesagt, wussten wir nicht, was besser ist“, so Schüpbach, „also haben wir entschieden: Wir trennen sie mal. Die Verantwortungsdiffusion ist bei zwölf Leuten einfach noch schwieriger.“
Klar ist allerdings: In beiden Ländern rekrutieren sich auffällig viele Bergführerinnen – und hier liegt die Betonung auf „innen“ – aus den Expeditionsteams. Schüpbach schätzt den Wert gar auf rund 80 Prozent. Selbst in Deutschland und der Schweiz heißt dies aber nicht, dass sich in einem Expedkader oder -team die besten Bergsteiger eines Landes versammeln. Für Pietron war auch immer klar, „dass ein Kader kein Wettkampfniveau haben kann. Das ist viel zu gefährlich.“ Es gehe aber darum, die Grundlagen für eine Laufbahn als Topalpinist zu schaffen. Sie persönlich findet den Expedkader auch „gar nicht so leistungsorientiert“.
Auch Schüpbach sagt: „Wenn es jemanden interessiert, eine gewisse Überschreitung solo in Rekordzeit zu machen, ist er nicht der Richtige.“ Erfahrungsgemäß gebe es sowohl bei Männern und Frauen je zwei Teilnehmer, die weit über dem Durchschnitt liegen. „Da muss man dann klären, dass sie ihre Ambitionen zurückstecken müssen.“ Generell sind ihm die Teilnehmer aber „sogar eher etwas zu brav als zu wild“.
Neben all den übergeordneten Zielen wie der Förderung des Alpinismus, der Verbesserung der persönlichen Stärken und der Schulung des Teamgedanken, neben all den kleineren und größeren finanziellen Anreizen, den kleineren und größeren Abenteuern und dem Bewusst-Werden „Ich kann das“ hatte Dörte Pietron als hochrangiges Talent durch den Expedkader einst aber noch einen ganz simplen, aber relativ wichtigen Nutzen: „Es gab für mich damals in Heidelberg ganz wenige Kletterpartner. Mit dem Kader konnte ich mein Netzwerk erweitern.“ Im Anschluss findet sich eine Übersichtstabelle mit den wichtigsten Infos zu den Programmen: