Kein gewöhnlicher Einsatz
von Michael Renner, Markus Leitner, Werner Mährlein & Rudi Fendt
Der Samstag am 27. Juli 2019 begann genauso, wie man sich ein Wochenende im Sommer wünscht: Sonnig und warm. An Tagen wie diesen, mitten in der Hochsaison, ist man als Angehöriger der Bergwacht entweder selbst am Berg oder man nimmt sich nicht viel vor, denn man wartet auf das Klingeln des Funkweckers.
An diesem Tag meldete sich die Leitstelle bereits um 08:07 Uhr. Diese frühen Einsätze sind meist die schlimmen, denn erschöpft oder blockiert ist man in der Regel erst später am Tag. „Abgestürzte Person am Watzmann (2.713 Meter) zwischen Mittelund Südspitze“, lautet die Meldung. Kein genaues Lagebild für den Einsatzleiter, wie so oft, wenn Menschen in Extremsituationen den Notruf wählen müssen.
Heute ist unser Einsatzleiter Sepp. Einer, der sich auskennt in den Bergen und regelmäßig Zeit in den Westalpen verbringt. Von der Leitstelle erfährt er, dass eine Frau etwa 50 Meter abgestürzt sein soll und man vom Schlimmsten ausgehen muss. Mit uns – der Bergwacht Ramsau – wurde die Bergwacht Berchtesgaden, der Kriseninterventionsdienst der Bergwacht Region Chiemgau und der Rettungshubschrauber Christoph 14 aus Traunstein alarmiert.
In einem ersten Überflug mit Christoph 14 kann die Unfallstelle nicht lokalisiert werden. Bereits jetzt sind Teile des Watzmann in Nebel gehüllt und ein Anflug ist nur noch unterhalb des Grates möglich. Der Hubschrauber beginnt Bergretter abzusetzen und muss dies bei jedem Anflug weiter unten tun, da die Wolkendecke kontinuierlich absinkt. Es dauert. Alles dauert länger. Um 09:10 Uhr erreichen Kameraden der Bergwacht Berchtesgaden die Verunfallte. Sie müssen sich vom Grat abseilen und funken ein erstes Lagebild von der Einsatzstelle: Die 22-Jährige ist schwer verletzt und bewusstlos, aber sie lebt. Drei Ersthelfer sind vor Ort, zwei sind Bergretter in der Oberpfalz, der dritte ist Rettungsassistent. Zwei Angehörige der Verunfallten mussten den Absturz mitansehen und stehen unter Schock. Man mag sich ihr Entsetzen gar nicht vorstellen.
Christian sitzt unten in unserer Einsatzzentrale. Er ist heute unsere Spinne im Netz, hält die Fäden zusammen. Um 09:24 Uhr alarmiert er nochmal alle Einsatzkräfte der Bergwacht Ramsau. „Einsatz dringend“, steht in der SMS. Christian wurde gerade operiert und ist deshalb nicht einsatzbereit. Dass er heute nicht mit hinauf kann, nagt gewaltig an ihm, doch als „Einsatzleiter Tal“, also als Organisator und verlängerter Arm für den Einsatzleiter am Berg, hat er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.
Nach und nach treffen weitere Kräfte und Werner, unser Bergwacht-Arzt, an der Einsatzstelle ein. Werner übernimmt die medizinische Versorgung der jungen Frau, die inzwischen in einem kleinen Zelt liegt, um sie vor der Witterung zu schützen. Wir sind froh, dass er da ist, denn nun können wir uns alle um den Transport kümmern, während wir die Patientin in guten Händen wissen.
Doch wie weiter vorgehen? Möglichst schnell Richtung Watzmannkar, vielleicht die Wiederroute im Nebel finden, runter unter die Wolkendecke oder hoch zum Grat und bis zum Watzmannhaus? Das Team um unseren Einsatzleiter Sepp entscheidet sich für die zweite Möglichkeit, weil sie hier die Gefahr durch Steinschlag ausschließt, das Gelände bekannt ist, einige Sicherungspunkte bereits vorhanden sind und nachkommenden Kräften entgegengegangen wird. Ein Schrägaufzug soll gebaut werden, aber das Material wird noch zu Fuß zur Einsatzstelle getragen – vor allem die Gebirgstrage ist noch unterwegs.
Der Hubschrauber der Landespolizei Bayern, Edelweiß 2, fliegt inzwischen weitere Bergretter und Material auf den Watzmann, kann diese aber nur noch am Watzmannhaus absetzen. Dichte Wolken verhindern einen Anflug am Grat. Der Flug dahin ist kurz, da wir von Kühroint und nicht mehr vom Tal aus den Watzmann anfliegen. Die kleine Alm am Fuße der Watzmannfrau nutzen wir immer wieder als Zwischenlandeplatz, um Zeit und Kerosin zu sparen, da so die Flugstrecken kürzer sind.
So machten wir es auch am 27. Juli 2019: Ein Tankanhänger der Bergwacht mit 1.000 Litern Kerosin steht vor Ort und wird zur Betankung der Maschinen genutzt. Hätten wir ihn nicht, müssten die Maschinen zum Flughafen nach Salzburg fliegen und stünden dadurch jedes Mal etwa 45 Minuten nicht zur Verfügung. Gerade heute wäre das ein Spiel gegen die Zeit – brauchen wir doch jede Menge Personal und Material an der Einsatzstelle.
Immer wieder meldet die Einsatzstelle Lücken in der Wolkendecke, doch die Zeitfenster sind nicht länger als Minuten. Ein direkter Abtransport mit dem Helikopter würde uns alle, aber vor allem die junge Frau, erlösen. Pirol 240, ein Hubschrauber der Bundespolizei aus Oberschleißheim, steht nur dafür auf Kühroint bereit. Doch die Lücken in der Wolkendecke sind nicht stabil, ein Anflug ist einfach nicht möglich.
Um 10:50 Uhr meldet der Einsatzleiter, dass der Schrägaufzug von der Einsatzstelle hoch zum Grat aufgebaut wird, um die Verunfallte heraufzuziehen. Die junge Frau liegt inzwischen in der Trage, bereit für den langen Transport über den Grat hinunter zum Watzmannhaus. Quälend lange kommt uns alles vor.
Irgendwann gegen 12:00 Uhr heißt es, alle Personen sind von der Einsatzstelle hoch zum Grat gezogen worden. In der Zwischenzeit wurden Seilversicherungen von der Einsatzstelle bis vor zum Hocheck aufgebaut. Unmengen Material sind im Spiel: Seile, Karabiner, Bohrhaken, Bohrmaschinen, Akkus. Die Frauen und Männer an der Einsatzstelle sind nun schon mehrere Stunden mit vollem Körpereinsatz vor Ort.
Christian denkt langsam über eine Anschlussversorgung mit Getränken und Müsliriegel nach. Eigentlich lapidar, doch Energie ist heute ungemein wichtig. Niemand kann sagen, wie weit die Patientin transportiert werden muss, bis uns der Himmel ein paar Minuten gnädig gestimmt sein wird. Irgendwer muss weitere Seile und ein wenig Verpflegung hochtragen – wieder eine SMS: „Einsatz dringend“.
Unser Arzt meldet sich: Der Zustand der Patientin verschlechtert sich. Er braucht ein Medikament, um dem entgegenzuwirken und er braucht es schnell. Eine Ampulle der Arznei hat er bei sich – er wird es ihr gleich verabreichen. Die Wolken hängen weiter unerbittlich am Watzmann – weder ein Abtransport der jungen Frau noch ein Transport des Medikaments zum Grat sind mit dem Helikopter möglich. Die Leitstelle meldet, dass das benötigte Mittel im Krankenhaus Berchtesgaden vorrätig sei. Wir holen es mit dem Polizeihubschrauber Edelweiß 2 ab und fliegen es zum Watzmannhaus. Zwei Ampullen bleiben im Hubschrauber, um das Medikament am Grat abzusetzen, falls die Wolkendecke irgendwo für einen kurzen Moment aufreißt. Christian, unser Einsatzleiter Tal, hat es inzwischen geschafft, auf der Strecke vom Watzmannhaus bis zum Hocheck in regelmäßigen Abständen Bergwachtmänner und -frauen aufzustellen, die das Medikament in einer Art Staffellauf nach oben transportieren sollen. Auf einer Länge von 2.300 Meter müssen sie 700 Höhenmeter in alpinem Gelände überwinden. Einen Steig gibt es nur ganz unten, doch es geht erstaunlich schnell. Einer nach dem anderen läuft so schnell wie möglich nach oben, um die Ampullen zu übergeben, bis sie schließlich bei der Patientin ankommen. Unsere Zuversicht steigt, doch das Wetter ändert sich immer noch nicht.
Mit einer Maschine fliegen die Angehörigen der jungen Frau vom Watzmannhaus ins Tal. Unser Kriseninterventionsdienst (KID) hat sie oben am Watzmann in Empfang genommen und kümmert sich jetzt um sie. Erst bei uns in der Wache, dann in einem Raum, gleich nebenan, im Rathaus.
Um 14:00 Uhr ist das Wetter noch immer unverändert. Es wird absehbar, auch der Abstieg vom Hocheck bis zum Watzmannhaus muss für den Patiententransport vorbereitet werden. Der gesamte Einsatzleitbereich Königssee wird alarmiert. Weitere Kräfte aus Berchtesgaden und Marktschellenberg melden sich über Funk und erhalten ihre Einsatzaufträge. Edelweiß 8, der inzwischen Edelweiß 2 abgelöst hat, fliegt nun Personal und Material zum Watzmannhau und in unserem Tankanhänger auf Kühroint sind nur noch 250 Liter Kerosin. Ein weiterer Tankanhänger der Bergwacht Traunstein wird angefordert, doch für die Strecke bis zum Landeplatz wird er mindestens eine Stunde brauchen, bis er vor Ort ist.
Um 15:06 Uhr kommt die Trage mit der jungen Frau endlich am Hocheck an. Der Weg über den teils nadelscharfen Grat hat Kraft gekostet, aber vor allem Zeit. Ein vielversprechendes Wolkenfenster öffnet sich und die Maschine der Bundespolizei startet ihre Turbinen. Doch kurz nachdem unser Einsatzleiter freie Sicht zur Watzmannfrau und zum Hohen Göll meldet, schließt sich auch dieses Mal die Wolkendecke wieder viel zu schnell. Pirol 240 geht erneut unverrichteter Dinge auf Kühroint zur Landung. Wir beobachten, wie sich aus Süden langsam ein Gewitter nähert. Was machen wir mit den vielen Einsatzkräften und unserer Patientin oben am Watzmann, wenn es anfängt zu stürmen? Sie sind bereits im Abstieg und haben die kleine Schutzhütte am Hocheck hinter sich gelassen. Wir müssen schneller sein!
Die Trage mit der Verunfallten bewegt sich langsam über das Hocheck talwärts. Um 16:29 Uhr melden unsere Kräfte am Berg: „Optimale Sicht zum Watzmannhaus“. Diesmal startet Edelweiß 8. Wieder ein Versuch, aber dieses Mal kann der Helikopter die Patientin und unseren Arzt im Doppelwinsch aufnehmen. Wir können es nicht fassen. Für die junge Frau geht es weiter mit dem Hubschrauber in eine Fachklinik nach Salzburg. Die ganze Anspannung fällt von uns ab. Zurück am Berg bleiben neben jeder Menge Material etwa 40 Bergretter und Bergretterinnen aus Berchtesgaden, Marktschellenberg, Traunstein, Grassau und natürlich der Ramsau. Es wird noch zwei weitere Stunden dauern, bis alle Kräfte durch die Maschine der Landespolizei Bayern vom Watzmannhaus nach Kühroint ausgeflogen werden können.
Als alle in Sicherheit sind, bricht das Gewitter über unseren Landeplatz auf Kühroint herein. Die Besatzung von Edelweiß 8 wird die Nacht in einer Pension in der Ramsau verbringen. Gegen 20:00 Uhr sind endlich alle Einsatzkräfte von Kühroint im Tal angekommen und unser von langer Hand geplantes Bereitschaftsgrillen wird zum ersehnten Abendessen für erschöpfte Retter, von denen einige fast 12 Stunden im Einsatz waren.
Unser KID begleitet die Angehörigen ins Krankenhaus und bleibt auch in den kommenden Wochen ein Ansprechpartner für die Familie ´bei Fragen und Problemen. Uns ist es wichtig, den Betroffenen bei den drängendsten Fragen zu helfen, damit sie aus dieser Ausnahmesituation herausfinden können.
Nochmals Rudi Fendt: „Wir haben an diesem Tag unser Möglichstes getan und wünschen der Verunfallten und ihrer Familie weiterhin ganz viel Glück – es wäre für uns alle die Krönung, wenn langfristig alles gut ausgeht!“ ■