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Südtiroler Stand (Illustration: Georg Sojer)
21. Sep 2022 - 9 min Lesezeit

Know-How: Wie funktioniert der „Südtiroler Stand“?

Der Südtiroler Standplatz wurde in den letzten Jahren zur „best practice“ beim alpinen Standplatzbau. Doch was genau versteht man unter einem Südtiroler Stand? Und worin liegen die Vorteile oder gibt es möglicherweise auch Nachteile? Chris Semmel hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt und auch bei den Erfindern nachgefragt.

Wer hat’s erfunden?

Die Namensgebung legt nahe, dass der Südtiroler Stand aus dem schönen Südtirol stammt. Doch ist das mit Namen ja nicht immer so, denn die Wiener heißen in Wien bekanntlich Frankfurter und umgekehrt. Also, wer hat den „Südtiroler Stand“ erfunden? Wir fragten nach bei einem Südtiroler, einem, der es wissen sollte, Erwin Steiner. Erwin ist Bergführer und langjähriger Ausbildungsleiter der Südtiroler Bergführerausbildung (siehe Interview mit Erwin Steiner).

Die Historie – Kräfteverteilung

Der Südtiroler Stand folgt den drei Prinzipien für alpine Standplätze. Der Wichtigkeit nach sortiert sind dies:

  1. Kräfte verteilen
  2. Kein Energie-Eintrag, sollte ein Punkt ausbrechen
  3. Schnell und übersichtlich auf- und abzubauen
Abb. 1: Bei der klassischen Ausgleichsverankerung kommt es zum Energie-Eintrag auf den zweiten Fixpunkt, sollte einer ausbrechen.

1. Die Kräfteverteilung

Das oberste Prinzip für alpine Stände ist die Kräfteverteilung. Denn ein Fixpunkt allein ist oft zu schwach, um den wirkenden Kräften (dem Sturzzug) zu trotzen. Zur Kräfteverteilung existieren mehrere Ansätze, welche sich historisch untergliedern lassen.

Früher wurde im Alpenraum die sogenannte „Ausgleichsverankerung“ praktiziert, auch als „Kräftedreieck“ bekannt. Dabei wurde eine Schlinge in die Fixpunkte gehängt, einer der beiden Stränge verdreht und somit die Kraft auf die Fixpunkte verteilt. Die Drehung der Schlinge verhinderte, dass beim Ausbruch einer der Punkte der Zentralpunktkarabiner aus der Schlinge rutschen konnte (Abb. 3).

Abb. 2: Mit Sackstich fixierte Kräfteverteilung. Früher auch als „Abseilstand“ bezeichnet. In den USA schon in den 1980ern üblich.

Auf den ersten Blick genial und bis in die 2000er Jahre im deutschsprachigen Raum Lehrmeinung. Das erste Mal mit Kritik an diesem System konfrontiert wurde ich bereits 1984 im Yosemite. Denn die Amerikaner dort benutzen dieses „Kräftedreieck“ nie. Dachte ich anfangs etwas überheblich, sie hätten das Prinzip noch nicht verstanden, wurde ich in einem Gespräch mit einem Yosemite-Local eines Besseren belehrt. Denn geschuldet der Tatsache, dass im Valley – wenn überhaupt – Anfang der 1980er nur rostige Nietkopfbohrhaken existierten und Fixpunkte meist mit Keilen und Cams selber gelegt werden mussten, war den Amerikanern damals schon bewusst, dass beim Ausbruch eines Punktes ein gefährlicher „Energie-Eintrag“ in das System droht.

Abb. 3: Die alte „Ausgleichsverankerung“, auch als „Kräftedreieck“ bezeichnet. Hier an drei Fixpunkten dargestellt.

2. Der Energie-Eintrag

Reißt einer der Fixpunkte aus, stürzt der Vorsteiger weiter und belastet mit der gesamten Sturzenergie den zweiten, verbleibenden Fixpunkt. Aber nicht nur der Vorsteiger, auch der Sichernde stürzt mit seiner Selbstsicherung nun in den verbleibenden Punkt. Es sind zwei Massen, die in eine statisch wirkende Schlinge stürzen. Zwei Kräfte, die sich addieren. Die Kraft am verbleibenden Fixpunkt wird dabei oft größer als die, die den ersten Fixpunkt zum Versagen brachte. Das war der Grund, weshalb die Amerikaner ihre Stände schon immer mit einem so genannten „overhand-knot“ bauten, also einem abgeknoteten Sackstich (Abb. 2).

Abb. 4: Mit vernähter Schlinge an zwei Fixpunkten direkt gefädelt und sechs Strängen im Ankerstich am Zentralpunkt.

Es dauerte noch einige Jahre, bis auch in Europa ein Umdenken einsetzte. In der DAV-Sicherheitsforschung beschäftigten wir uns 2002 bis 2004 mit dem Thema und führten Messungen durch. Auch wurden Unfälle gesammelt, die nahelegten, dass der zweite Fixpunkt möglicherweise ausbrach, weil der „Energie-Eintrag“ nach dem Ausbruch des ersten zu groß wurde. Ernteten wir anfangs noch erheblichen Widerstand, fand langsam ein Umdenken statt und das fixierte Kräftedreieck setzte sich durch. 2006 wurde die fixierte Kräfteverteilung Lehrmeinung im DAV. Gleichzeitig wurde die Reihenschaltung an soliden Fixpunkten salonfähig. Bereits 2008 experimentierten die Südtiroler mit einer smarteren, da schneller auf- und abzubauenden Methode, die heute als „Südtiroler Stand“ bezeichnet wird.

Abb. 5: Ankerstich mit nur vier Strängen im Zentralpunkt ist ausreichend sicher.

3. Aufbau Südtiroler Stand

Aufgebaut wird der „Südtiroler Stand“ je nachdem, wie viele Fixpunkte vorhanden sind und ob eine vernähte Schlinge oder offenes Reepschnurmaterial verwendet wird. In den Abbildungen 4, 5 und 6 werden die unterschiedlichen Aufbaumöglichkeiten dargestellt. Offenes Reepschnurmaterial wird üblicherweise direkt in die Haken oder durch die Sanduhren gefädelt, Drahtkabel von Keilen und Schlingen (vorhandene Sanduhren- und Köpfelschlingen sowie Cams) werden mit einem Karabiner versehen. Das direkte Fädeln der Hakenösen mit einer Reepschnur spart nicht nur Karabiner, sondern vermeidet zudem eine gefährliche Biege-Belastungen auf Karabiner bei tief eingeschlagenen Haken.

Bei zwei Fixpunkten wird gerne eine 120er-Bandschlinge verwendet. Diese wird im ersten (oberen) Haken mit Ankerstich und am zweiten (unteren) doppelt gefädelt (Abb. 4). Der Ankerstich im Zentralpunktkarabiner besteht hierbei aus sechs Strängen. Werden die Haken nicht gefädelt, sondern mit Karabinern eingehängt, könnte der Ankerstich auch lediglich aus vier Strängen gebildet werden (Abb. 5). Klar ist, je weniger Stränge im Ankerstich, desto früher beginnt eine Schlinge zu laufen, würde einer der Fixpunkte ausbrechen. Dabei spielt das verwendete Material natürlich eine wesentliche Rolle. Denn glatte Dyneema-Bandschlingen beginnen deutlich früher zu laufen als Polyamid-Schlingen oder Reepschnurmaterial mit Polyamid-Mantel. Doch könnten aus dem „Laufen“ Probleme entstehen?

Probleme beim „Südtiroler“?

Nach wie vor werden häufig Fragen zu dieser Standplatz-Methode gestellt. Vor allem der Ankerstich am Zentralpunktkarabiner wird oft skeptisch bewertet. Das vor allem dann, wenn nur zwei Fixpunkte verbunden werden und der Ankerstich nur aus vier Strängen gebildet wird (Abb. 5). Es wird befürchtet, dass beim Ausbrechen eines Punktes der Ankerstich am Zentralpunktkarabiner läuft. Verbrennungen oder gar ein Riss der Schlinge werden befürchtet. Diesen Fragen gingen wir (der Autor gemeinsam mit Stefan Blochum, dem Ausbildungsleiter der Bergwacht Bayern) nach und führten im Bergwacht- Zentrum für Sicherheit und Ausbildung (ZSA) statische Zugversuche sowie dynamische Falltests durch.

Die Versuche

Zunächst testeten wir die verschiedenen Schlingen in Form von „quasi statischen“ Zugversuchen an der Zerreißmaschine. Uns interessierten die Durchlaufwerte der verschiedenen Materialien. Also ab welcher Kraft beginnt eine 8 mm dünne Dyneema-Bandschlinge im Ankerstich zu laufen, wann eine Polyamid- und wann eine Dyneema- oder Kevlar-Reepschnur? Danach prüften wir dieselben Schlingen in dynamischen Fallversuchen.

Versuchsbeschreibung: Sturzmasse 95 kg / Sturzhöhe 2,80 m / ausgegebenes Seil 180 cm / SIM-Hand 470 N / Seil Edelrid Cobra, 10,3 mm

Statistische Zugversuche

Die Ergebnisse waren komplexer als anfangs gedacht. Denn neben der Anzahl der Stränge und dem Material war auch die Rauigkeit der Schlinge, bedingt durch die Web-Art relevant. Also ob ein oder zwei Schussfäden beim Weben verwendet wurden. Denn die Oberflächen-Rauigkeit beeinflusst die Reibung. Zudem macht es einen Unterschied, ob der Ankerstich locker oder vorgereckt belastet wurde. Belastet man die Schlinge zuvor, z. B. weil zwei Personen am Stand hängen oder weil durch den Sturz der erste Fixpunkt ausgerissen wird und dadurch das ganze System zugezogen (vorgereckt) wird, so führt das zum Zuziehen des Ankerstichs und dadurch zu höheren Durchlaufwerten. Zusammengefasst konnten wir Folgendes feststellen:

  • Bei einer 8 mm dünnen Dyneema-Bandschlinge mit nur vier Strängen im Ankerstich (ohne Vorbelastung des Knotens) begann der Ankerstich bei 2,0 bis 2,7 kN zu laufen. Wurde der Ankerstich vorbelastet und dann gezogen, lief dieselbe Schlinge erst bei 5,8 kN. Wählte man den Aufbau wie in Abb. 4, also mit sechs Strängen im Ankerstich, begann die Schlinge ohne Vorbelastung erst bei 6 bis 6,5 kN zu laufen.
  • Eine 10 mm breite Dyneema-Bandschlinge begann nicht vorbelastet und mit vier Strängen im Ankerstich gelegt bei 3,4 bis 3,9 kN zu laufen.
  • Eine mit einem Schussfaden pro Webvorgang hergestellte und damit raue 12-mm-Dyneema-Bandschlinge lief sogar erst bei 10 kN.
  • Risse wurden dann beobachtet, wenn die Schlinge durch den Karabiner im Schlingenende oder die Vernähung nicht weiterlaufen konnte. Hier lagen die Bruchwerte zwischen 14,6 und 21 kN! Also jenseits aller in der Praxis auftretenden Kräfte. Die 5,5- und 6,0- mm- Kevlar-Reepschnüre zeigten ein Laufen zwischen 8 und 10 kN (siehe Tabelle 1: statische Zugversuche).

Alles in allem waren die Ergebnisse beruhigend, warfen aber doch die Frage nach der Praxisrelevanz auf. Denn wie stark ist denn ein Ankerstich zugezogen, sollte ein Fixpunkt ausbrechen und dann die gesamte Last auf den verbleibenden Punkt wirken? Und wie verhält sich die Schlinge bezüglich Verbrennungen, wenn das ganze System dynamisch belastet wird? Um diese Fragen weiter zu beleuchten, führten wir weitere dynamische Versuche durch.

Tabelle 1: Statische Zugversuche

Dynamische Fallversuche

Bei den dynamischen Fallversuchen wurde der Ankerstich immer nur mit vier Strängen gelegt.

Wir führten Standstürze durch, bei denen einer der beiden Standhaken mit einer Sollbruchstelle versehen war. Diese Sollbruchstelle bestand aus einer 3-mm-Polyamid-Reepschnur im Einzelstrang mit zwei Sackstichaugen an den Enden. Unsere Sollbruchstelle versagte bei ca. 1,1 bis 1,2 kN. Damit wir unsere Fallmasse nicht ewig weit hochziehen mussten und geschuldet der Tatsache, dass die Bergwachthalle doch nicht so hoch ist, beschlossen wir, die Sturzhöhe eher kleiner zu halten und dafür eine große Fallmasse zu wählen. Wir benutzten 95 kg Eisenmasse als Sturzgewicht bei einer freien Fallhöhe von 3,2 m und einer gesamten Seillänge von 2,2 m. Der Sturzfaktor betrug demnach anfangs 1,45. Da wenig Seil zur Verfügung stand, welches dynamisch Energie aufnehmen konnte, erwarteten wir sehr große Kraftspitzen.

Abb. 7: Dynamischer Versuchsaufbau

Zudem verwendeten wir die „Simulated Hand“ (SIM) mit einer sehr hohen Handkraft von 470 N an der HMS. Die durchschnittliche Handkraft am Bremsseil liegt hingegen bei etwa 288 N. Nur besonders kräftige Zeitgenossen bringen es auf 450 oder mehr Newton. Durchaus also ein praxisnaher, aber eher harter Sturzaufbau. Das wurde im ersten Versuch auch gleich bestätigt, da unser Seilmantel in der HMS gleich mal riss. Wir reduzierten daraufhin die Sturzhöhe auf 2,8 m bei 1,8 m ausgegebenem Seil (Sturzfaktor 1,55). Somit weiterhin ein sehr harter Sturz, aber weniger Energie im System. Die Ergebnisse sind in Tabelle 2 aufgelistet.Die Durchlaufwerte streuten zwischen 4,5 und 6,5 kN, der Durchschnitt lag bei 5,7 kN. Die Durchrutsch-Länge der Schlinge im Ankerstich lag zwischen 2 und 40 cm und betrug im Durchschnitt 9 cm. Schlingenrisse traten keine auf. In 4 Fällen wurden leichte, oberflächliche Verbrennungsspuren beobachtet, die bei Durchrutschlängen ab 20 cm auftraten.

Tabelle 2: Dynamische Zugversuche
(*DLW = Durchlaufwert, *DLL = Durchlauflänge, *PA = Polyamid, *PE = Polyethylen)

Scharfe Kanten?

Ein weiteres Argument beim Südtiroler Stand betrifft den Aufbau mit Reepschnur, bei dem die Hakenösen direkt gefädelt werden. Es wurde die Befürchtung geäußert, dass die scharfkantigen Ösen der Normalhaken die Reepschnur verletzen könnten. Hierzu führte ich bereits 2018 Zugversuche an scharfkantigen Laschen durch (z. B. BD 3-mm-Eisschraubenlasche). Eine 5,5 mm dünne Kevlar-Reepschnur hielt hier 12,54 kN. Also auch hier kann Entwarnung gegeben werden.

Fazit

Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass der Südtiroler Standplatzaufbau, also mit Ankerstich am Zentralpunktkarabiner und direkt gefädelten Hakenösen extrem praktisch ist und ausreichend Sicherheitsreserven bietet. Die Methode besticht durch einen sehr schnellen Auf- und Abbau, vermeidet unnötige Knoten, die nach Belastung sehr schwierig zu lösen sind, und vermeidet einen Energie-Eintrag bei optimaler Kräfteverteilung. Somit hat sich diese Standplatzmethode in den letzten Jahren zurecht für Standplätze an fraglichen Fixpunkten zum „Standard“ entwickelt. Ein Dank den Südtirolern für ihre Kreativität bei absolutem Praxisbezug.

Erschienen in der
Ausgabe #119 (Sommer 22)

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