Kurzschluss? „Führen am kurzen Seil“ in der Schweizer Bergführerausbildung
Die spezifischen Techniken behandeln wir im Folgenden nur oberflächlich. Eine zentrale Aussage könnte aber sein, dass obengenannter Begriff vom „Gehen“ irreführend ist und wir korrekterweise vom „Führen am kurzen Seil“ sprechen sollten. Der Unterschied zwischen Gehen am kurzen Seil und Führen liegt darin, dass beim Führen eine klare Rollenverteilung zwischen dem Führenden (Bergführer) und dem Geführten (Gast) besteht.
Gehen am kurzen Seil hingegen legt nicht fest, dass hier eine Person Sorge und Verantwortung für eine oder zwei weitere Personen trägt. Den Hauptfokus richten wir im zweiten Teil des Artikels darauf, euch das geniale methodische Konzept der vier Säulen zur Vermittlung dieser verschiedenen Techniken vorzustellen. Alle Ausbildungsinhalte zum „Führen am kurzen Seil“ sind in einem Bergführerverbands-internen Lehrmittel festgehalten und strukturiert.
Umgangssprachlich sprechen wir in der Schweiz oft vom „Führen am kurzen Seil“, präziser ist aber der Titel dieses Lehrmittels: „Bergführerspezifische Seilhandhabung im Felsen und Firn“. Diese Bezeichnung wiederum zeigt unzweideutig auf, dass die Anwendung dieser beschriebenen Techniken am mehr oder weniger kurzen Seil komplex und herausfordernd ist.
Auf klassischen langen Hochtouren sind es für den Bergführer jedoch die einzigen sinnvollen Techniken, um möglichst sicher, effizient und in vernünftiger Zeit auf den Gipfel und wieder ins Tal zu gelangen. Dabei spielt das Seil und dadurch die unmittelbare Verbindung vom Bergführer zum Gast eine entscheidende Rolle.
„Beim Führen am kurzen Seil suchen wir immer den besten Kompromiss zwischen größtmöglicher Sicherheit und Geschwindigkeit einer Seilschaft (Effizienz).“
Ebenso zentral für die Sicherheit des Gastes am Berg ist auch das optimale Coaching. Um dies gut umsetzen zu können, braucht es aber eben eine kurze Distanz und damit zwingend auch das „kurze Seil“ zum Gast. Die Kombination aus „sich sicher fortbewegen“, einer angepassten Seilhandhabung, optimaler Wegfindung und dem Anleiten, Zureden, Motivieren, Beruhigen (Coachen) des Gastes oder der Gäste braucht viel Erfahrung, handwerkliches Geschick und Intuition.
Doch wie kann man diese Erfahrung und diese Techniken einem Kandidaten oder einer Kandidatin (= Bergführeranwärter in Ausbildung, Anm. d. Redaktion) vermitteln? Jede Situation am Berg ist einzigartig. Es gibt unzählige Kombinationsmöglichkeiten aus verschiedenen Parametern. Darum sind Lerngespräche mit intensiven Diskussionen und Praxisübungen im Gelände in der Ausbildung sehr wichtig.
Gelände, Erfahrung und Tradition
Gerade in der Schweiz haben wir eine sehr lange Tradition, wenn es darum geht, unsere Gäste am „kurzen Seil“ auf Gipfel zu führen und diese Dienstleistung unseren zukünftigen Bergführern zu vermitteln. Unterschiede in den verschiedenen Bergführerausbildungen sind wohl vorwiegend dem dominierenden Gelände für die anschließende Ausübung des Bergführerberufs geschuldet.
Es ist also nicht verwunderlich, dass bei uns die Techniken beim „Führen am kurzen Seil“ sehr wichtig sind. Neben der Lawinen- und Spaltensturzproblematik stellen sie in unserem Land wohl das größte Berufsrisiko dar. Dieser geländebedingte Schwerpunkt hat auch dazu geführt, dass in der Schweiz alle wichtigen Alpinverbände wie SAC oder das Jugend und Sport Programm in ihren Ausbildungen seit je her das „Gehen am kurzen Seil“ ausbilden und im Gelände auch anwenden.
Da das Besteigen vieler hochalpiner Gipfel, insbesondere der beliebten Routen auf die 4000er in den Schweizer Alpen oder allgemein in den Westalpen oft über lange Fels- und Firngrate führt, welche klettertechnisch nicht sehr schwierig sind, wenden wir im Idealfall die verschiedenen Seiltechniken situativ so an, dass wir möglichst effizient und mit einem größtmöglichen Maß an Sicherheit unterwegs sein können.
Sämtliche Klassenlehrer und auch die drei technischen Leiter, welche für die Bergführerausbildung in der Schweiz zuständig sind, sind hauptberuflich als Bergführer mit ihren Gästen unterwegs und nur „nebenamtlich“ als Ausbildner für den Schweizer Bergführerverband tätig. Dieser Umstand könnte als unprofessionell wahrgenommen werden, führt aber effektiv dazu, dass im Ausbildungskader im Hinblick auf das hier besprochene Thema Tausende Tage an effektiv gemachten Praxiserfahrungen als Know-how in die Ausbildung und deren Lehrmittel einfließen können.
Diese Erfahrung führt uns zur Überzeugung, dass – richtig angewandt – die Techniken zum „Führen am kurzen Seil“ unverzichtbar und ein sehr taugliches Konzept sind, wenn es darum geht, die Seilschaft vor einem Absturz zu bewahren. In diesem Artikel beschränken wir uns bewusst darauf, die Anwendung der Techniken des „Führens am kurzen Seil“ in einer Bergführer-Gast-Konstellation zu beschreiben.
Die Schweizer Struktur zum „Führen am kurzen Seil“
Der Bergführer muss sich dauernd fragen, welche Gefahren in welchem Abschnitt der Tour relevant sind und wie er seine Seiltechnik diesbezüglich anpassen muss. Um diese Entscheidungsfindung zu strukturieren, verwenden wir ein vierstufiges System. Die Grenzen dieser Stufen sind fließend und müssen der Situation angepasst werden. Um die verschiedenen Techniken zum „Führen am kurzen Seil“ skizzieren zu können, gehen wir kurz auf das Ausbildungssystem mit den verschiedenen Stufen in Firn und Fels ein.
In diesem Artikel behandeln wir unter dem Begriff „kurzes Seil“, die jeweiligen Stufen 1 im Firn bzw. die Stufen 1 und 2 im Felsen der SBV-Ausbildungsunterlage bergführerspezifische Seilhandhabung im Felsen und Firn.
Wir sprechen von einem zweistufigen System für die Anwendung im Firn:
- Stufe 1 „gemeinsames Gehen“ – Das Gelände, die Verhältnisse und die Zusammensetzung der Seilschaft sind günstig. Ein Halten eines Ausrutschers beim gemeinsamen Gehen sollte möglich sein. Oder die Wahrscheinlichkeit eines Stolperns des Gastes oder der Gäste ist gering.
- Stufe 2 „kurze oder längere heikle Abschnitte“ – Sicherung über einen Fixpunkt.
Sowie einem vierstufigen System für die Anwendung im Felsen:
- Stufe 1 „gemeinsames Gehen“ – einfaches Gelände, gestuft; eher Rutsch- als Sturzbelastung
- Stufe 2 „kurze schwierige Stellen“ – steilere Aufschwünge oder plattige Passagen; der Bergführer benötigt zeitweise beide Hände zur Fortbewegung
- Stufe 3 „Mikroseillängen“ – steiles, nicht zwingend schwieriges Gelände; Sturzbelastung des Gastes möglich
- Stufe 4 „Seillängen“ – Sichern von Standplatz zu Standplatz
Um diese Stufen situationsangepasst anwenden zu können, müssen fortwährend die richtigen Fragen beantwortet werden. Über allem steht immer die Frage nach Wahrscheinlichkeit und Konsequenz einer Rutsch- oder Sturzbelastung des Gastes. Zum Beispiel: Wie wahrscheinlich ist es, dass der Gast in leichtem, gestuftem Gelände ins Seil stürzt?
Wahrscheinlich wird er oder sie wohl höchstens ins Rutschen kommen. Befindet sich aber unter uns eine hohe Steilstufe, muss ich wegen der Konsequenzen unter Umständen trotzdem auf Stufe 2 oder gar 3 wechseln. Wichtig bei der Anwendung dieser vier Stufen sind die Selbstreflexion und das Erkennen der Grenzen, um rechtzeitig auf die nächsthöhere Stufe zu wechseln.
Umgekehrt aber auch gut zu antizipieren, wann wieder auf eine tiefere Stufe zurückgewechselt werden kann. Wechsel der Sicherungsmethode (Stufe) haben meist auch eine Anpassung der Seilverkürzung zur Folge. In diesem Stufensystem haben wir folgende Struktur platziert: Beschreibung, Charakteristik, Seilführung im Aufstieg, Seilführung im Abstieg, Grundsätze bei Anwendung dieser Technik, und Erkenntnisse aus Praxistests.
„Die zentrale Frage ist: Kann ich mit der Methode, in diesem Gelände, mit diesem Gast die wahrscheinlich auftretenden Kräfte halten oder muss ich die Stufe (Sicherungsmethode) wechseln?“
Mit diesem System der zwei, respektive vier Stufen für das Felsgelände beschreiben wir in unserer Lehrunterlage, wie wir als Bergführer möglichst sicher und effizient eine oder mehrere Personen im klassischen Fels- und Firngelände von A nach B führen können (vgl. Auszug aus Lehrunterlage SBV). Die Ausbildung und Anwendung dieser Lehrinhalte ist ein zentraler Bestandteil der Schweizer Bergführerausbildung.
Sie macht den Unterschied zwischen guten Alpinisten (Voraussetzung, um überhaupt mit der Bergführerausbildung beginnen zu können) und Berufsleuten aus, deren Verantwortung und Aufgabe es ist, Gäste im alpinen Gelände auf Gipfel zu führen. Als Bergführer mit Garantenstellung Ist seilfreies Gehen auf alpinen Touren keine Alternative zum Gehen am kurzen Seil.
Die zwei wichtigsten Punkte
Aus dem Wissen, das von unseren Vorgängern übermittelt wurde, und aus zahlreichen praxisnahen Tests im Gelände haben sich zwei zentrale Punkte herauskristallisiert, um einen Absturz zu vermeiden und am Berg dennoch effizient voranzukommen:
Erstens muss der Bergführer immer einen Kontakt zum Gast über einen leichten Zug am Seil herstellen. Bei unseren Messungen in praxisnahen Tests hat sich herausgestellt, dass beim gemeinsamen Gehen am kurzen Seil im Schnitt etwa 0,3–0,5 kN über die Hand gehalten werden können. Das ist nicht viel, wenn man an die Kräfte eines fallenden Körpers denkt. Es ist aber auch nicht nichts, wenn man sich überlegt, dass diese Kräfte in der Regel nicht schlagartig auftreten, sondern sich progressiv entwickeln. Entscheidend dabei ist die Reaktionszeit des Führenden.
Er/Sie muss auf einen Sturz oder Ausrutscher direkt Einfluss nehmen können. Passiert diese Reaktion unmittelbar, sind die Kräfte noch nicht hoch und man kann sie kontrollieren. Wenn wir von einem Zug am Seil als Kontakt sprechen, dann sind das keine 20 kg, sondern nur ein leichter Zug, gerade so viel, um den Gast in seiner Fortbewegung nicht zu hindern. Um diesen Kontakt vor allem in den entscheidenden Momenten zu gewährleisten, braucht es Training und das Einüben von spezifischen Handgriffen.
Als zweites sind wir überzeugt, dass wir als Bergführer noch viele weitere Möglichkeiten haben, um das Entstehen eines Ausrutschers oder Sturzes zu verhindern. Wir denken da an eine gute Spur im Firnfeld oder an einen dem Gast angepassten ruhigen Rhythmus, an eine optimale Routenfindung, klare Anweisungen und Anleitungen usw.
Vier Säulen – die Kriterien zur qualitativen Kontrolle beim „Führen am kurzen Seil“
Als Ausbildner der Bergführerausbildung sind wir unter anderem dazu da, die Leistung der Kandidaten zu beurteilen und zu bewerten. Doch wie machen wir das beim „Führen am kurzen Seil“? Geht es nur um die Seilhandhabung? Geht es um die Zeit bis zum Gipfel? Mit diesen Fragen konfrontiert kam die Idee auf, die ganze Beurteilung und schließlich das Feedback auf vier Säulen aufzuteilen:
- Persönliche Gehtechnik, Trittsicherheit, Klettertechnik, Steigeisentechnik
- Seilhandhabung
- Wegfindung
- Kommunikation mit dem Gast und Coaching
Jedes Kriterium ist als Säule oder Standbein zu betrachten. Wackeln eine oder mehrere der vier Säulen, wird das sichere Führen eines oder mehrerer Gäste erschwert oder gar verunmöglicht. Somit hat die Stabilität jeder Säule auch Auswirkungen auf die Stabilität der anderen! Ein Beispiel: Je besser und sicherer der Bergführer sich im alpinen Gelände fortbewegt (persönliche Geh- und Klettertechnik, Trittsicherheit), umso mehr Kapazität hat er, den Gast zu coachen, die Seilhandhabung optimal den Gegebenheiten anzupassen und gleichzeitig den einfachsten und sichersten Weg zu finden.
Diese vier Säulen sind bei jedem Kandidaten und Bergführer unterschiedlich ausgeprägt und beeinflussen so die Gesamtleistung seiner Arbeit am Berg. Gewisse Mankos in der einen Säule können durch andere teilweise kompensiert werden, aber nie vollständig ersetzt. Schnell hat sich aus diesem anfänglichen Feedbacktool ein eigentliches methodisches Ausbildungskonzept entwickelt.
Jede der vier Säulen wird im Gelände einzeln ausgebildet und angewandt. Dieses Konzept erleichtert einerseits die Ausbildung der komplexen Materie, andererseits erleichtert es die Rückmeldung an die Kandidaten. Als vielleicht wichtigsten Punkt für ein langes Bergführerleben fördert es das Bewusstsein für die eigenen Stärken und Schwächen, für die verschiedenen Risiken und die Reflexion darüber.
Die vier Säulen im Detail
In der Folge wollen wir die Inhalte der einzelnen Säulen genauer betrachten:
Persönliche Gehtechnik, Trittsicherheit, Klettertechnik, Steigeisentechnik
Wenn sich ein Bergführer oder eine Bergführerin mit einem Gast im Gelände bewegt, muss der Bergführer oder die Bergführerin seine bzw. ihre persönliche Technik so einschätzen und anpassen, dass er oder sie sich selbst nicht gefährdet und/oder abstürzt. Die persönliche Geh- und Klettertechnik ist dabei der zentrale Pfeiler. Im Zusammenhang mit klassischen Hochtouren würden wir dies am ehesten mit der Fertigkeit „sich im ‚Gamsgelände‘ zu bewegen“ beschreiben.
Insgesamt kann ein hohes Sportkletterniveau in der Bergführerausbildung hilfreich sein. Es ist aber überhaupt kein Garant dafür, dass sich ein*e Kandidat*in auch im alpinen Gelände geschmeidig bewegen kann. Ein präzises Steigen und hohe Trittsicherheit – sei es mit oder ohne Steigeisen – helfen auch, sich in Bezug auf mögliche Belastungen durch das Seil gut und stabil zu positionieren.
Ist diese Säule schwach, kommt die gesamte Seilschaft im Gelände nur langsam voran oder der/die Bergführer*in gefährdet sich selbst. Andererseits kann es aber auch dazu führen, wenn ein*e Bergführer*in sich sehr stark, schnell und trittsicher im Gelände bewegt, dass er/sie die Konsequenzen eines Ausrutschers oder Sturzes durch den Gast unterschätzt und die Kräfte nicht halten kann. Auch die stärksten Bergsteiger dürfen die physikalischen Gesetzmäßigkeiten nicht negieren!
Seilhandhabung
Die offensichtliche Kernaufgabe der Bergführer hat viel mit handwerklichem Geschick und antrainierten Handgriffen zu tun. Diese muss man sich hart erarbeiten und langfristig festigen, damit man den erwähnten Kontakt über das Seil möglichst immer gewährleisten kann. Beim Wechsel von einer Stufe in die nächste ist ein zentraler Punkt die richtige Arbeitslänge des Seils. Dafür passen wir ständig unsere Seilverkürzung an.
Bei einer Dreierseilschaft verändern wir allenfalls mit wenigen Handgriffen die Distanz zwischen den Gästen und die Länge der Weiche. Diese Anpassungen müssen perfekt eintrainiert sein und speditiv (Anm. d. Red.: schweizerisch rasch vorankommend, zügig) erfolgen. Das Wählen der „richtigen Stufe“ und damit einhergehend das Anpassen der Arbeitslänge des Seils ist entscheidend und muss gut antizipiert und rechtzeitig an die jeweilige Situation angepasst werden.
„Wir müssen uns der physikalischen Gesetzmäßigkeiten als Bergführer*in bewusst sein und dementsprechend unsere Techniken im Gelände anpassen. Masse x Weg = Energie, oder so ähnlich … ;-). Daher auf anspruchsvollen Touren maximal zwei Gäste und oft nur einen Gast!“
Reto Schild
In der Schweiz arbeiten wir auf klassischen Touren sehr oft auch mit kürzeren Seilen von 30 bis 40 Metern. Bei der Stufe 3, den Mikroseillängen, klettern wir kurze Seillängen von maximal 15–20 Metern von Fixpunkt zu Fixpunkt (dies kann auch eine Sicherung über Hüfte oder Schulter sein) oder – wenn nötig – eben dann ganze Seillängen, welche immer noch relativ kurz sind (30–40 Meter/Länge des Seils). Ziel ist, auch bei Stufe 3 und 4 möglichst Sicht- und Rufkontakt zum Gast zu halten, damit dieser optimal angeleitet werden kann. Das Credo lautet im klassischen Westalpen-Führergelände oft:
„So kurz wie möglich, so lang wie nötig!“ (Seildistanz zwischen Führer und Gast). Deshalb haben wir in der Schweizer Lehrunterlage „Bergführerspezifische Seilhandhabung“ sämtliche Techniken auch auf vier Stufen für das Felsgelände aufgeteilt. Die Länge des offenen Seils zwischen Bergführerin und Gast im Fels- oder Mixedgelände betragen typischerweise für diese vier Stufen immer in etwa folgende Längen:
- Stufe 1 und 2: 6 bis maximal 8 Meter
- Stufe 3: 15–20 Meter
- Stufe 4: meist ganzes Seil offen, respektive verkürzt auf 30–40 Meter bei einem 50 Meter Seil.
Erfahrungsgemäß kann gerade mit einer effizienten Seilhandhabung eine Bergführerin sehr viel zur Effizienz und Sicherheit beitragen. Ist dieser Pfeiler stark und gut ausgebildet, lässt sich unglaublich viel Zeit „gewinnen“.
Wegfindung, Spurpräparation
Erfolgreiches Bergsteigen hat viel mit Energieeffizienz zu tun. Wir müssen mit der vorhandenen Energie eines Gastes möglichst haushälterisch umgehen. Dabei sind der angepasste Rhythmus und das eingeschlagene Tempo der zentrale Punkt. Ebenso wichtig ist aber die Wegfindung. Die grobe Wegfindung verhindert dabei große, unnötige Umwege.
Wir müssen also erkennen, ob man links, rechts oder über den Turm klettert. Die Wegfindung im Kleinen, das heißt auf den nächsten paar Metern trägt viel zur Schonung der Energiereserven und auch zur Sicherheit im Kleinen bei. Große, kraftraubende Schritte sollten vermieden werden. Oftmals lohnt es sich dabei einen kleinen „Umweg“ von wenigen Metern zu gehen und dabei eine kleinere Steigung zu haben, als einen großen Schritt über eine Steilstufe zu machen.
Die Herausforderung in der Ausbildung ist oft, dass die sehr fitten Kandidaten sich dessen gar nicht bewusst sind und die großen Schritte sogar als effizienter wahrnehmen. In diesem Zusammenhang möchten wir gerne die Aussage vom früheren technischen Leiter Edi Bohren erwähnen: Edi sagte immer: „Die kleinste Einheit einer Bergtour ist der einzelne Schritt.“ Stimmt dieser Schritt nicht oder ist dieser nicht an die Energie des Gastes angepasst, hat man schlechtere Chancen, zum Gipfel zu kommen.
Einerseits geht es um Energiereserven und andererseits natürlich auch um die Stabilität des Gastes und des Bergführers. Das heißt, bei einem kleinen Schritt, einer kleinen Körperschwerpunktverlagerung ist die Gefahr eines Ausrutschers oder des Gleichgewichtsverlustes viel geringer als bei großen Schritten. Im Firn und Eis kommt neben einer gleichmäßigen, schräg ansteigenden Aufstiegsspur der Spurpräparation eine bedeutende Rolle zu.
Im Firn kann eine Spur bedeutend verbessert werden, indem man sie vorritzt. Das heißt, mit der Schaufel des Pickels wird während des Laufens eine kleine Kerbe in den Firn geritzt. Das verbessert nicht nur den Tritt für den Gast, sondern erhöht auch die Stabilität des Bergführers oder der Bergführerin in der Spur. Dies gilt für das Anlegen einer neuen Spur, gilt aber auch zum Verbessern einer schon bestehenden Spur.
Fürs Ritzen und Stufenschlagen braucht es das geeignete Werkzeug. Aus diesem Grund beobachtet man vor allem in der Schweiz zuweilen Bergführer*innen mit Holzpickeln, die aus einer früheren Zeit zu stammen scheinen. Diese klassischen Holzpickel eignen sich für diese Arbeit viel besser als modernere Modelle. Wobei auch mit denen gearbeitet werden kann. Wichtig ist eine gute Schaufel.
Die Holzpickel werden immer noch von der Firma Bhend in Grindelwald angefertigt. Auch Stufenschlagen im blanken Eis erhöht die Sicherheit. Wobei man nicht ganze Wände hochhackt. Aber für einige Meter im Blankeis können einige Stufen im Eis die Sicherheit bedeutend erhöhen. Für lange Blankeisstrecken gibt es zum Glück Eisschrauben. Beim Ritzen und Stufenschlagen leidet unter Umständen die Reaktionsfähigkeit des Bergführers oder der Bergführerin in Bezug auf das Seil.
„Ziel beim ‚Führen am kurzen Seil‘ ist es zu verhindern, dass der Gast (Masse) ungebremst Weg (Beschleunigung) machen kann, damit wir die daraus resultierende Energie kontrollieren können.“
Reto Schild
Sind die geritzten oder geschlagenen Tritte aber gut, reduziert dies die Wahrscheinlichkeit eines Ausrutschens oder Stürzens des Gastes enorm und ist deshalb oft sogar die sicherere Variante, als in einer schlechten Spur immer maximal aufmerksam sein zu müssen, um einen Ausrutscher oder Sturz des Gastes halten zu können.
„Ein Tritt ist ein Tritt“, sagte Erich Sommer, einer der ehemaligen technischen Leiter in der Schweizer Bergführerausbildung, immer. Und von einem guten Tritt rutscht man nicht einfach so ab. Es gibt auch Situationen, vor allem in Querungen bei sehr harten oder sehr weichen Verhältnissen im Firn/Schnee, bei denen ein Halten des Gastes im Falle eines Ausrutschers unwahrscheinlich ist.
Besonders hier ist die einzige mögliche Risikoreduktion, das Tempo drastisch zu reduzieren und eine optimale Spurpräparation. Das Ritzen einer Spur und das Stufenschlagen sind anspruchsvolle Pickelanwendungen, welche wir deshalb in der Schweiz in der Bergführerausbildung ausbilden, trainieren und auch prüfen. Während der geübte Bergführer eine Spur ritzt, nimmt der Gast im Idealfall keinen Rhythmus- oder Tempounterschied wahr.
Kommunikation mit dem Gast, Coaching
Die Kommunikation hat oft einen direkten Einfluss auf die Leistung eines Gastes. Beruhigende Worte können eine allfällige Anspannung positiv beeinflussen. Oder eine Anleitung zur bevorstehenden Kletterstelle lassen ihn diese rascher passieren. Die physische Nähe zum Bergführer wirkt sich oft vertrauensbildend aus. Dies bedeutet, dass es sinnvoll ist – wenn möglich –, nur kurze Abschnitte weiter voraus zu gehen, um den Blick- oder Rufkontakt nicht zu verlieren.
Aber auch nonverbale Kommunikation und nonverbales Coaching sind sehr bedeutend. Das oben erwähnte Beispiel mit der präzisen Mikrowegfindung ist schließlich auch eine Form von Coaching. Wenn wir den Fuß präzise und entspannt auf den optimalen Tritt setzen, sind wir ein direktes Vorbild für den Gast und zeigen vor, wie die Stelle zu meistern ist. Auch über die Seilspannung lässt sich sehr gut und eindeutig kommunizieren.
Geben wir für einen heiklen Schritt ein bisschen mehr Seilzug und suchen gleichzeitig Blickkontakt, kann das signalisieren: Ich bin bereit dir zu helfen und halte dich. Wir können den Gast über leichten Zug auch an den rechten Ort dirigieren, ohne zu sprechen, oder ihm dadurch signalisieren, dass er sich an dieser Stelle konzentrieren muss.
Dies sind die vier Säulen, welche wir als unabdingbar für eine erfolgreiche und möglichst sichere Arbeit am kurzen Seil definiert haben. Jede ist wichtig. Situativ ist einmal die eine, ein anderes Mal die andere von größerer Bedeutung.
Resümee
Wichtig ist, die persönlichen Grenzen und Limits zu erkennen und zu akzeptieren. Bekanntermaßen ist die Seilhandhabung im Firn und Fels schwierig und komplex. Fehlt die nötige Übung, kann es rasch gefährlich werden. Mit einer umsichtigen und verantwortungsvollen Arbeitsweise und wachsender Erfahrung werden die vier Säulen gestärkt. Dadurch ist der Bergführer oder die Bergführerin in der Lage, das Risiko beim „Gehen am kurzen Seil“ im Felsen und Firn zu Gunsten seiner Seilschaft zu minimieren.
Last but not least: Geschwindigkeit ist gut, Effizienz im Handeln ist besser.
Der „schnellste“ Bergführer muss nicht immer auch derjenige sein, der seinen Job am „besten“ macht. Der Zeitaufwand für eine Bergtour hängt immer von verschiedenen Faktoren ab (Verhältnisse/Gelände/Mensch). Zu einem professionellen Risikomanagement gehört es, diesen Umstand zu akzeptieren. Die schweizerische Berg-Unfallstatistik zeigt, dass der Trend zu immer mehr tödlich verunglückten Alpinisten geht, die seilfrei abstürzen. Und dies obwohl insgesamt in den Schweizer Bergen viel weniger „Soloalpinisten“ unterwegs sind als klassische Zweier- oder Dreierseilschaften.
Glücklicherweise ereignen sich im Verhältnis zu allen geführten Touren aller Bergführer in den Schweizer Alpen pro Jahr, bei denen mit den Techniken des „kurzen Seils“ gearbeitet wird, wenige Seilschaftsabstürze im professionellen Bereich. Die Ausbildungsstruktur mit dem „Stufensystem“ und den vier Säulen wurde 2017 im Rahmen eines Treffens des Ausbildungskaders der Schweizer Bergführerausbildung erarbeitet. Seither wird in der Schweizer Bergführerausbildung nach dieser Struktur ausgebildet.
2018 wurde diese Ausbildungsstruktur im Montafon im Rahmen der Generalversammlung der Internationalen Vereinigung der Bergführerverbände (IVBV) den Vertretern anderer Bergführerausbildungen vorgestellt. Seither hat sich unsere Ausbildungsstruktur sehr bewährt und sie wird stetig weiterentwickelt. So entstanden auf Initiative der Bergsteigerschule Bergpunkt das darauf basierende „Merkblatt Hochtouren“ und Lehrvideos. Dieses Merkblatt wird seit 2022 in überarbeiteter Version vom SIB (Sicherheit im Bergsport) herausgegeben und dient auf verschiedenen Ausbildungsstufen als wichtige Ausbildungsgrundlage.
Kooperation
Seit Herbst 2022 sind die Bergführerverbände der Schweiz, von Österreich, Deutschland und Südtirol als Redaktionsbeiräte bei bergundsteigen mit an Bord. Daher erscheint seither in jeder Ausgabe ein Beitrag dieser Verbände. Die Serie soll informieren und zugleich zu einem konstruktiven Austausch zwischen den Verbänden anregen und dadurch auch indirekt die Bergführerausbildung weiterentwickeln.
Zum Teil 2: Kurzschluss 2.0 „Gehen am kurzen Seil“ in der Südtiroler Bergführerausbildung.
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