Notfall Alpin (5/9): Kritische Blutung z.B. nach einem Spaltensturz
alle Artikel der Serie: Notfall Alpin
- Teil 1: Die ersten 5 Minuten (Ausgabe #99)
- Teil 2: Atmung und Kreislauf (Ausgabe #100)
- Teil 3: Einsatz des AEDs durch Notfallzeugen am Berg (Ausgabe #101)
- Teil 4: Erste Hilfe nach einer Lawinenverschüttung – Time is brain! (Ausgabe
#102) - Teil 5: Kritische Blutung z.B. nach einem Spaltensturz (Ausgabe #103)
- Teil 6: Erste-Hilfe-Material zur Blutstillung (Ausgabe #103)
- Teil 7: Neurologisches Problem (Ausgabe #104)
- Teil 8: Neurologisches Problem (D). Teil 2 be FAST (Ausgabe #108)
- Teil 9: E-Problem nach Skisturz (Ausgabe #109)
Klar. Die Wahrscheinlichkeit, in eine Gletscherspalte zu stürzen, ist gering – das zeigen Zahlen und Praxis. Dass man sich dabei verletzt, kann passieren, starke Blutungen treten dabei selten auf. Warum also dieses Szenario? Weil es super passt, um darzustellen, dass die Erste Hilfe im Lehrsaal anders aussieht als in einer exponierten Situation.
Aus diesem Grund stellt Phillipp später auch Notverband und Tourniquet als die Mittel der Wahl vor – für viele Bergsteiger neue Materialien, die wir nochmals ausführlich auf Seite 40 beschreiben, weil wir sie als wichtig und fürs Bergsteigen relevant bewerten. Doch nicht nur bei der Ersten Hilfe läuft es oft anders als bequem geübt, auch die notwendige Rettungstechnik kann vom 08/15 Schema abweichen – gerade beim Spaltensturz.
Denn was dabei leider immer wieder passiert, ist, dass Bergsteiger – angeseilt oder nicht – in eine Spalte stürzen und dort feststecken, unter dem nachfallenden Schnee ersticken oder im Eiswasser ertrinken bzw. eine tödliche Unterkühlung erleiden. Kurz gesagt: Sobald ein Spaltensturz kritische Dimensionen erreicht, ist es wichtig, sofort zum Abgestürzten zu kommen und ihm zu helfen – auch, wenn er handlungsunfähig im Seil hängt und verletzt ist.
Geübt wird seit Jahrzehnten standardmäßig das Gegenteil: Die Retter bleiben am Spaltenrand und der Abgestürzte wird herausgezogen oder prusikt selbst heraus. Funktioniert das, d.h. der Abgestürzte ist handlungsfähig und nicht wirklich verletzt, dann habe ich in der Praxis kaum ein echtes Problem. Die Zeit ist sekundär und irgendwie bekommt man ihn schon heraus. Im schlimmsten Fall muss man auf weitere Seilschaften oder externe Rettung warten.
Unangenehm, aber mit entsprechendem Wissen und Können machbar. Deshalb sind die ganzen Diskussionen, ob und wie und mit welchen Raffinessen man aktiv oder passiv am besten aus der Spalte kommt, interessant, aber eigentlich am Thema vorbei. Stellt euch die Frage, wie ihr so schnell als möglich zu eurem verletzten Seilpartner hinunterkommt, um ihm zu helfen. Und übt das! Und natürlich, wie ihr dann wieder herauskommt …
Schnell hinunter zum Verletzten
Je nach eurem Können, dem der Seilschaft, der vorhandenen Ausrüstung, der Art wie angeseilt wurde usw. habt ihr mehr oder weniger Möglichkeiten zur Verfügung, eine solche Situation zu lösen. Abgebildet – weil es uns recht realistisch vorgekommen ist – haben wir eine Dreier- Seilschaft mit einem 50-m-Einfachseil.
Die Abstände betragen ca. 10 m, dazwischen befinden sich drei Bremsknoten und der Erste und der Letzte haben das Restseil im Rucksack verstaut. Angeseilt wurde mit Achterschlinge und Verschlusskarabiner, jeder hat eine Abwurfschlinge montiert. Bitte die Fotos nur als eine von vielen (guten) Möglichkeiten verstehen – es geht dabei nicht um richtig oder falsch.
In den Abbildungen wird die seiltechnische Lösung gezeigt, nach dem Sturz eine Verankerung zu bauen und rasch zum Verunfallten hinunter zu kommen. Überlegt euch selber, was ihr tun würdet bzw. was bei eurer Anseilmethode und den aktuellen Verhältnissen möglich ist. Auch einige „Wenn und Abers“ einbauen, d.h. einen Plan B haben.
Bei uns hat sich z.B. tatsächlich herausgestellt, dass Sissi (die Letzte der Seilschaft) eine Knie-OP gehabt hat und noch nicht voll belastungsfähig ist – deswegen ist sie bei der Verankerung geblieben und nicht hinuntergegangen, was vermutlich schneller gewesen wäre … wenn sie im Rucksack das notwendige Material gehabt hätte … und damit auch umgehen könnte … (was sie natürlich hat und kann).
C-ABCDE-Schema bei kritischer Blutung
Das C-ABCDE-Schema wird angewendet, wenn der Verunfallte eine augenscheinlich starke oder sogar spritzende Blutung aufweist. Die Entscheidung für C-ABCDE wird also schon beim „Ersteindruck“ der verletzten Person getroffen, noch bevor wir uns A (=Atemwege) widmen. Stark blutende Verletzungen entstehen oft bei „penetrierenden“ Traumen – also bei einer Gewalteinwirkung, welche in den Körper „einsticht“ – z.B. durch spitze Gegenstände (Eisgerät, Steigeisen Ast, etc.).
Im militärischen Bereich geschieht dies meist durch Splitter oder Kugeln, was wir an dieser Stelle deshalb erwähnen, weil von dort auch die Idee stammt, das ABCDE-Schema zu modifizieren: nämlich dann, wenn kritische Blutungen ein Überleben gefährden bzw. verhindern. Im Sinne der Schockbekämpfung ist es dabei von zentraler Bedeutung, wichtige Bestandteile des Blutes (Erythrozyten) im Körper bzw. im Gefäßsystem zu halten, um den lebenswichtigen Sauerstofftransport zu gewährleisten.
Nach dem Motto: „Jeder Ery“ zählt! Die Blutstillung ist in diesem Rahmen absolut lebensrettend und hat denselben Stellenwert wie eine Reanimation. Und weil diese Blutstillung lebensrettend ist, muss sie so schnell als möglich geschehen, also sofort! Ein regulärer Druckverband mag zwar unter „normalen“ Umständen, z.B. in einer Werkstatt bei einem gut zugänglichen Verletzten, funktionieren, doch da selbst hier Probleme entstehen können, empfehlen wir bei kritischen Blutungen die Verwendung eines Notverbandes („Israeli Bandage“, vgl. Notfall Alpin: Erste Hilfe Material zur Blutstillung in bergundsteigen #103).
Zum einen ist der Druck – welcher die Wunde komprimiert – leichter aufzubauen und auch höher, das heißt, die Maßnahme führt schneller zum Erfolg, also zum Stoppen der Blutung. Zum anderen kann es gerade im alpinen Umfeld – Kälte, Nässe, ungünstige Position des Opfers – oft kaum bis gar nicht möglich sein, einen ordentlichen Druckverband anzulegen.
Kritische Blutung stoppen
Unser Opfer hängt offensichtlich mit einer starken Blutung im Seil. Die aufgerissene Hose und der offene Oberschenkel lassen eine starke Verletzung durch das Steigeisen vermuten. Deshalb wird die Entscheidung getroffen, nicht wie sonst mit dem A (Airway, siehe bergundsteigen #99/100/101) zu starten, sondern sofort die Blutung zu stillen.
Auf die Wunde drücken
Der verletzte Bergsteiger drückt bereits mit seiner Hand auf die Wunde, um den Blutverlust zu verringern (falls nicht, wird er angewiesen das zu tun!). Diesen Druck soll er aufrechthalten, bis unser Notverband angelegt ist. Ist das Opfer (bereits) bewusstlos, soll ein weiterer Helfer stark auf die Wunde drücken oder das Blutgefäß oberhalb der Blutung sehr stark komprimieren. Die Blutstillung darf dabei nicht verzögert werden.
Möglichkeit 1: Notverband
Nun wird der Notverband ausgepackt und angelegt (Vgl. Notfall Alpin: Erste Hilfe Material zur Blutstillung in bergundsteigen #103). Die Wundauflage, und damit der „Druckbügel“, liegt dabei genau auf (direkt über) der Wunde. Durch mehrmaliges Umwickeln des Beins unter Zug wird hoffentlich so viel Druck aufgebaut, dass die Blutung „steht“, nachdem das Ende der Bandage (mit der integrierten Kunststoffklammer) fixiert wurde.
Möglichkeit 2: Tourniquet
Konnte der Notverband die Blutung nicht stoppen, hilft die Anlage eines Tourniquet (Details Vgl. Notfall Alpin: Erste Hilfe Material zur Blutstillung in bergundsteigen #103). Dieses Abbinde-Gerät ersetzt das Abdrücken der Blutgefäße, welches in unserem Szenario kaum konsequent und ohne Unterbrechung durchzuführen wäre.
Im Sinne einer Eskalations-Strategie bietet es sich an, starke Blutungen zuerst mit einem Notverband zu versorgen. Erst wenn dies nicht zur Blutstillung führt, kann das „stärkere“ Mittel eingesetzt werden (mitunter verursacht das Tourniquet starke Schmerzen, die man sich sparen kann, wenn der Notverband wirkt). Ausnahme hierbei stärkste Blutungen durch (Teil-) Amputationen oder mehrere großflächige Verletzungen an einer Extremität.
Auch die Lage (Einklemmung) kann die sofortige Anwendung eines Tourniquet erfordern.
Weiter mit ABCDE-Schema
Verletzten in aufrechte Position bringen
Ist die Blutung nun definitiv gestoppt, machen wir unmittelbar mit A (Airway=Atemwege) weiter. Da unsere verletzte Person kommuniziert und einfache Handlungen befolgen kann, sollte zuerst ihre Position – hängt mit Hüftgurt im Seil – verbessert werden, indem sie mit einem behelfsmäßigen „Brustgurt“ aufgerichtet wird.
Dazu kann man auch gleich die Rucksackgurte verwenden, denn idealerweise wirkt dabei der ganze Rucksack stabilisierend auf die Hals- und Brustwirbelsäule. Eine sonst sofort angestrebte HWS-Immobilisation ist in unserem Unfall-Szenario (ein Retter beim Opfer) kaum durchführbar und wird zwangsläufig hinten angestellt.
A (Airway=Atemwege) & B (Breathing= Atmung)
Unsere A-Kontrolle hat keine Auffälligkeit ergeben, so dass wir zu B kommen. Auch hier wird der entsprechende Teil des Bodychecks ( siehe bergundsteigen #99/100/101) durchgeführt.
C (Circulation=Kreislauf) & E
Bei C werden nun sowohl die restlichen Blutungsräume gecheckt als auch unsere blutungsstillende Maßnahme überprüft. Da wir nach wie vor von einem kritischen C ausgehen, erfolgt in diesem Fall bereits hier die Wärmeerhaltung. Diese hat deshalb so einen hohen Stellwert, da sich Hypothermie sehr negativ auf die körpereigene Blutstillung auswirkt (Gerinnung). Im Sinne der Schockbekämpfung muss eine Auskühlung verhindert werden!
D (Disability=neurologischer Status)
In D erheben wir den neurologischen Status, um auf Kopf- und/oder Wirbelsäulenverletzungen zu schließen und um ggf. den Verlust wichtiger Schutzreflexe (und daraus resultierende A-Probleme) im Fokus zu behalten.
E (Environment=äußere Einflüsse)
Die in E vorgesehene Wärmeerhaltung wurde bereits durchgeführt. Weitere Untersuchungen außerhalb des A, B und C werden erst nach der Rettung aus der Spalte durchgeführt.
Weiteres Vorgehen (Rettung) beurteilen
Anschließend müssen wir eine Entscheidung treffen: Ist der Verletzte aktuell soweit stabil oder sind weitere Komplikationen zu erwarten?
Möglichkeit 1: sofortige Rettung
A- und B-Probleme können in dieser Lage (hängend im Seil) mitunter nicht gelöst werden. Hierbei kann es hilfreich sein, bei Vorhandensein einer Spaltenbrücke weiter nach unten abzuseilen (Kapern) um ggf. weitere stabilisierende Maßnahmen durchzuführen – je nach Situation kann das einiges an seiltechnischem Können und Improvisation verlangen.
Möglichkeit 2: schnelle Rettung
A und B sind derzeit stabil, C kritisch – aber die Blutstillung ist momentan erfolgreich.
In D ist nach wie vor Orientiertheit vorhanden. Zur weiteren und besseren Untersuchung und auch für einen umfangreichen Wärmeerhalt entscheiden wir uns eine „schnelle Rettung“ nach oben anzustreben. Dabei nehmen wir in Kauf, dass der Verletzte für kurze Zeit alleine in der Spalte bleibt. Dies sollte – wenn möglich – in Absprache mit der Profirettung/ILS (Integrierte Leitstelle) passieren. Ist der Rettungshubschrauber in wenigen Minuten da, kann der Retter auch beim Verletzten bleiben und muss ihn nicht alleine lassen. Hierbei sollte die HWS so gut als möglich stabilisiert werden.
Möglichkeit 3: schonende Rettung
Der Verletzte ist gänzlich stabil, nur der Sturz aus „großer Höhe“ (> 3 m) lässt auf Verletzungen schließen, v.a. HWS-Trauma. Konnte ein Notruf abgesetzt werden und sind die Rettungskräfte unterwegs, dann empfiehlt sich, die „schonende Rettung“ durch die Profiretter abzuwarten. Bis dahin wird nach der ABCDE-Strategie konsequentes Stabilisieren der HWS durch den Helfer durchgeführt. Maßgeblich für die Entscheidungsfindung sind die Prinzipien der C-ABCDE Versorgung.
Aber wir befinden uns im alpinen Gelände, genauer gesagt mit einem Verletzten in einer Spalte hängend, und hier spielen etliche weitere Fragen mit, die nur jeder selbst und vor Ort beantworten kann und für die es kein Patentrezept gibt. Mögliche Entscheidungsfragen sind:
- „Kann mich mein Seilpartner oben unterstützen?“
- „Weiß ich ob/wann Rettung kommt?“
- „Was ist mit dem vorhandenen Material möglich?“
- „Habe ich das nötige Können und Material für das geplante seiltechnische Manöver?“ etc.
Während jeder Rettung müssen wir uns permanent folgende Frage stellen: „Hilft die angestrebte Maßnahme dem Verletzten oder nicht und mit welchem Risiko ist sie durchführbar?“ Am Beispiel der Blutstillung lässt sich das sehr gut zeigen: Der unerfahrene Ersthelfer hat mit dem Notverband oder der Tourniquet eine sichere Möglichkeit, die Blutung zu stillen.
Anders der Profi, welcher die Blutung vielleicht als weniger stark einschätzt und dank seiner Routine einen perfekten Druckverband anbringen kann. Die richtige Anwendung und Handhabung ist aber in jedem Fall Voraussetzung.
Rettung durchführen & erneut ABCDE
Im dargestellten Szenario haben wir uns für eine schnelle Rettung entschieden: die Helferin ist aus der Spalte geprusikt und hat gemeinsam mit ihrer Partnerin den Verletzten herausgezogen und gut gelagert (Abb. 31, 32). Außerhalb der Spalte wird der Verletzte abermals nach dem ABCDE-Schema untersucht (Abb. 33). Hierbei ist v.a. auf einen strikten Wärmeerhalt zu achten (Windchill). Nochmaliger Notruf, Abtransport durch Profirettung usw. wie gehabt …
Fotos: Max Largo
Special Thanks to: Retterin Teresa Brenna, Partnerin Sissi Krammer & Wild Walt