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poljarnik
04. Apr 2022 - 4 min Lesezeit

Poljarnik: Erfahrungen aus der Arktis

Poljarnik ist die russische Bezeichnung für Polarmensch. Als solchen darf man auch Christoph Höbenreich bezeichnen. Denn er verbrachte insgesamt über zwei Jahre im Eis der Arktis und Antarktis und kennt die Kälte wie wenige andere. Hier seine Erfahrungen.

Ich friere genauso ungern wie die meisten. Aber gibt es etwas Schöneres, als einen klirrend kalten, strahlenden Wintertag in einer weißen, reinen und stillen Welt?

Christoph Höbenreich

Frischzellenkur und Tiefkühltherapie in einem

Die trockene Kälte winterlicher Gebirgs- und Polarluft ist wie Frischzellenkur und Tiefkühltherapie in einem. Und extreme Minusgrade bieten oft bizarre Erlebnisse und Überraschungen in der Wunderwelt der Eiskristalle. Auf meinen Polarexpeditionen sammelte ich viel Kälteerfahrung. Ab etwa 25°C Minus wird es wirklich gefährlich. Am Gipfel des Mt. Vinson führten unter -40°C Lufttemperatur und beißender Wind zu einem Windchill von -60°C und binnen weniger Sekunden zu einer wachsweißen Nase eines Teilnehmers. Ein anderer zog am Gipfel des Mt. Sidley bei ähnlichen Verhältnissen nur kurz seine Fäustlinge aus, die er dann schon nach einer Minute mit gefühllosen Fingern nicht mehr selbst anziehen konnte. Und ich erfror mir in Neuschwabenland ein unter der Mütze unbemerkt hervorragendes Ohrläppchen. Dass Erfrierungen oft unbemerkt und schnell geschehen, macht sie so heimtückisch. Nicht umsonst nennen es die Amerikaner „Frostbite“, wenn sich im Unterhautgewebe Eiskristalle bilden. Wenn die Kälte ihre Zähne zeigt, ist aber meist nicht das Schicksal schuld, sondern eigenes Unvermögen oder mangelnde Vorsicht. Mit richtiger Ausrüstung und einigen Tricks kann man sich vor Kälte recht gut schützen. Jedenfalls besser als vor Hitze.

In Polarmontur im katabatischen Polarsturm in der Schirmacher Oase.
Foto: Christoph Höbenreich

Modische Kälteschutz-Accessoires nichts für Polarreisen

Die in den Alpen übliche Bergsteigerkleidung und modische Kälteschutz-Accessoires sind oft nur bedingt für Polarreisen geeignet. Daher lohnt es sich, über den alpinen Tellerrand hinaus- und sich bei den nordischen Völkern umzuschauen. Sie haben bewährte Materialien und ausgeklügelte Strategien für Arbeit, Jagd und Sport in der Kälte. Wer hätte beispielsweise gedacht, dass die wohl besten Polarschuhe für klirrende Wintertemperaturen aus Naturprodukten wie Wollfilz, Baumwollsegelstoff, Rentierleder und Naturkautschuk gemacht werden? Wärmeleistung, Biegsamkeit, Winddichtheit und Dampfdurchlässigkeit von Mukluks (Nordamerika), Kamiks (Grön- land) oder Walenkis (Russland) sind unübertroffen. Hat unser Körperbau Einfluss auf das „Kältegenussvermögen“? Wenn es kalt ist, legt man instinktiv die Arme eng an und kauert sich zusammen, um die Oberfläche zu verringern. Dann geht weniger Energie verloren. Vielleicht verhält es sich bei Menschen ja wie im Tierreich: Wüstenfüchse haben einen schlanken Körperbau mit langen Beinen und großen Ohren, während Polarfüchse eine rundliche Figur mit kurzen Beinen und kleinen Ohren entwickelt haben. Da Säugetiere ihre Körpertemperatur unabhängig von der Umgebungstemperatur konstant halten, ist es in kalten Gebieten vorteilhaft, eine möglichst geringe Körperoberfläche zu besitzen, um mehr Körperwärme speichern zu können, während in warmen Gebieten große Extremitäten die Kühlung des Körpers erleichtern.

Eine Unterkühlung kann unmittelbar lebensbedrohlich sein, eine Erfrierung lokale Verletzungen und Dauerschäden verursachen und bei Handlungsunfähigkeit in extremer Exposition indirekt ebenfalls Lebensgefahr bedeuten. Beidem gilt es vorzubeugen. Neben tiefen Temperaturen spielen Luftfeuchtigkeit, Windchill, Dauer der Kälteexposition, Funktionalität und Passform der Kleidung eine entscheidende Rolle. Feuchte Kleidung, der Verlust von Handschuhen, einengende Schuhe, Apathie sowie Flüssigkeits-, Sauerstoff- und Bewegungsmangel begünstigen Wärmeverluste und Kälteschäden. Anders als in großer Höhe ist in polaren Breiten das Blut nicht „eingedickt“, hat man genug Sauerstoff zum Atmen und kann man sich durch Bewegung schnell warm laufen. Wenn man an einem hohen Berg bei großer Kälte und Wind langsam unterwegs ist oder lange stehen muss, braucht man hingegen guten passiven Wärmeschutz durch dick isolierte Schuhe und Daunenkleidung.

Neuschwabenland
Bei einer Erstbesteigung eines „Eisbergs“ in Neuschwabenland.
Foto: Christoph Höbenreich

In der Arktis kann man sich nicht verkühlen

Klirrend kalte Luft ist meist sehr trocken und führt an den Fingerspitzen zu schmerzhaften Schrunden. Eingeatmete Luft wird mit Feuchtigkeit angereichert, die mit der Abatmung verloren geht. Dem Körper geht durch Atmen viel Flüssigkeit und innere Wärme verloren. Reichlich warme Getränke sind wichtig. Ein hochgezogener Kragen hilft und beugt dem Kältehusten vor. Andererseits ist „feuchte“ Kälte wiederum subjektiv viel unangenehmer als „trockene“ Kälte. Bei Aufenthalt im Nebel kondensiert oder gefriert Feuchtigkeit an exponierter Haut und entzieht dem Körper nach dem Kühlungsprinzip Wärme. Zum Schutz des Gesichts vor eisigem Wind ist ein Pelzbesatz an der Kapuze unschlagbar. Es klingt übrigens paradox, aber in der Antarktis kann man sich praktisch nicht verkühlen. Die Luft ist nämlich fast keimfrei. Warum in der Kälte starrsohlige Schuhe nachteilig sind, selbst athletische Körper plötzlich nach zentimeterdicken Butterscheiben gieren, was es mit dem Einpudern der Füße auf sich hat und ob Dampfsperrsocken wirken sowie viele praktische Tipps und Tricks zu Kältemanagement und Erster Hilfe finden Sie im zweiteiligen Artikel „Wenn Fleisch gefriert“ von Christoph Höbenreich in bergundsteigen 4/2000 und 1/2001 (und natürlich hier online (Teil 1) & (Teil 2)).

Erschienen in der
Ausgabe #117 (Winter 21-22)

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