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Berge, Schnee, Wolken
26. Sep 2023 - 6 min Lesezeit

Pro & Contra: (Null-)Toleranz bei nicht erreichten 8000ern?

Rekorde im Nachhinein aberkennen weil ein Gipfel aus präziser topografischer Sicht um wenige Meter verfehlt wurde oder zählt eine Besteigung auch wenn der topografisch höchste Punkt nicht erreicht wurde?

Selbst die Höhenbergsteiger-Legenden schlechthin bleiben von der Diskussion nicht verschont: Im September 2023 köchelt nach genauerer Auswertung topographischer Karten und Fotos medial mal wieder die Frage hoch, ob sie denn wirklich ganz, ganz oben waren, die Gerlinde Kaltenbrunner und der Reinhold Messner. Welche Rolle spielen ein paar Meter überhaupt?

Eine Frage, zwei Standpunkte: Der (vermeintlich) schnellste Achttausender-Sammler Nirmal Purja und der Berg-Chronist Eberhard Jurgalski über echte Gipfel, falsche Erfolge und Fairness.

Pro Toleranz

Nirmal Purja am Großglockner
Nirmal Purja ist ein nepalesischer Bergsteiger und ehemaliger Gurkha-Soldat, der seinen Angaben zufolge alle 14 Achttausender in sieben Monaten mit Flaschensauerstoff und Helikoptertransfers bestiegen hat. Nachforschungen ergaben aber, dass er nicht innerhalb der sieben Monate auf allen höchsten Punkten der Berge stand. Foto: Red Bull Content Pool

Wir sollten außergewöhnliche menschliche Leistungen feiern. Ich las kürzlich die Forschungsarbeit, die zum Schluss kommt, dass tatsächlich viele der Besteiger*innen aller 14 Achttausender nie die echten Gipfel erreicht haben. Die Nachforschungen behaupten, ich sei einer von drei Bergsteigern, die alle richtigen Gipfel erreicht hätten.

Aber mir ist das egal. Mir bedeutet das nicht viel. Ich denke, es ist wichtig, in Erinnerung zu rufen, dass sich die Technologie ständig weiterentwickelt. Sie wird immer besser und noch besser und dadurch ist es viel leichter geworden, die wahren Gipfel zu finden. Früher war die Technik lange nicht so ausgereift wie heute. GPS und moderne Kartensysteme haben das Bergsteigen revolutioniert. Daher zu behaupten, diese großartigen menschlichen Leistungen von damals sind nicht gültig, weil die Technik noch nicht so weit war, ist nicht fair.

Wenn jemand alle 14 Achttausender bestiegen hat, Tausende und Abertausende Meter mit all seiner damaligen Erfahrung hochgestiegen ist und zu jenem Punkt kam, den er für den Gipfel gehalten hat, weil er damals nicht mehr Daten zur Verfügung gehabt hat, dann macht das absolut nichts. Selbst wenn der erreichte Punkt ein paar Meter außerhalb unserer modernen Standards ist. Sie haben hart gearbeitet, sind auf den Gipfel gestiegen, der damals als Gipfel bekannt gewesen ist, und haben deshalb alle 14 Achttausender bestiegen.

Niemand kann ihnen das nehmen, diese außergewöhnliche menschliche Leistung!

Reinhold Messner ist der größte Bergsteiger aller Zeiten und er hat als Erster alle 14 Achttausender bestiegen – keine Frage! Seine Rekorde sind bahnbrechend. Er war der Erste, der alle 14 Achttausender ohne Sauerstoff bezwungen hat. Er hat gezeigt, dass es möglich ist, und viele Menschen folgten seinem Weg.

Er ist ein großartiger Mann, der Generationen dazu inspiriert hat, ihre eigenen Träume zu verfolgen. Und er war einer der wenigen Menschen, die an mich geglaubt haben, als ich mein Projekt „14 Achttausender in sieben Monaten“ begonnen habe. Niemand kann ihm und auch nicht den anderen 14-Achttausender-Besteigern ihren großartigen Erfolg nehmen. Niemand! Wir sollten diese tollen Leistungen feiern und andere Bergsteiger unterstützen und in der Community willkommen heißen, damit sie ebenso ihre Träume verwirklichen können.


Pro Nulltoleranz

Bergchronist Eberhard Jurgalski
Eberhard Jurgalski ist ein deutscher Berg-Chronist und Buchautor. Er ist bekannt für das Sammeln von Informationen über Achttausender und deren Besteigungen. Zudem beschäftigt er sich mit der systematischen Erfassung von Bergen anhand topografischer Kriterien und geografischer Gebirgsforschung.

Seit vier Jahrzehnten sammle ich Fakten über Berge und das Bergsteigen und ich habe immer fest daran geglaubt, dass der höchste Punkt eines Berges der einzige ist, der wirklich als Gipfel zählt. Dank zunehmender Forschung und ausgefeilterer Technik ist es in letzter Zeit jedoch offensichtlich geworden, dass diese ausschließlich topografische Herangehensweise nicht der Erfahrung der Bergsteiger und auch nicht den Gipfeln der Achttausender entspricht.

In den letzten zehn Jahren haben einige Kollegen und ich viele Gipfelfotos untersucht, im Speziellen Fotos der drei Achttausender Manaslu, Annapurna I und Dhaulagiri I. Bei diesen Bergen gibt es offene Fragen bezüglich der genauen Verortung der Gipfel sowie der Aufzeichnungen, wer bis wohin aufgestiegen ist. Nach all diesen Untersuchungen und dem Austausch untereinander ist es nun klar, dass viele Bergsteiger – einschließlich einiger gut bekannter – die höchsten Punkte auf einem oder mehreren dieser Berge nicht erreicht haben, und zwar aufgrund der unsicheren Topografie.

Stattdessen sind Bergsteiger – wissentlich oder nicht – an einer Auswahl niedrigerer Stellen stehen geblieben – es geht um 35 bis 190 Meter Distanz, teilweise in noch sehr schwierigem Gelände. Als wir 2019 die PDFs mit den umfangreichen Ausführungen über die Gipfelzonen der drei oben genannten Berge und zugleich alle als Gipfelbesteigung deklarierten Routenendpunkte veröffentlichten, haben anschließend einige ihre vorher falschen Gipfel mit einer neuen Besteigung bis zum höchsten Punkt korrigiert, zumindest bei Annapurna I und Dhaulagiri I.

Beim Manaslu kamen, obwohl auch im PDF erkennbar, die Korrekturen erst 2021, nachdem Drohnenfotos der Gipfelregion gemacht und gezeigt worden waren. Unser 2019 gemachter Vorschlag für „Toleranz-Zonen“ wurde schnell wieder verworfen, weil wir herausfanden, dass Miss Hawley 1997 einem Indonesier mit Namen Misirin den Gipfel aberkannte, weil er einem Klienten hinunterhelfen musste und 30 Meter vor dem Gipfel des Everest umgekehrt war und somit keine Gipfelanerkennung bekommen hatte.

Es gab Gratulationen zur akribischen Forschungsarbeit, aber auch Beschimpfungen, von einigen Legenden selbst.

Das heißt: Wenn Miss Hawley um all diese viel weiteren Distanzen zum Gipfel gewusst hätte, hätte sie diese behaupteten Besteigungen niemals anerkannt, mit Sicherheit nicht! Nachdem nun alle unsere Forschungsergebnisse am 8. Juli 2022 mit allen Namen veröffentlicht wurden, gab es gemischte Reaktionen. Es gab Gratulationen zur akribischen Forschungsarbeit, aber auch Beschimpfungen besonders von den Fans der Legenden und von einigen Legenden selbst, auf die ich hier nicht weiter eingehen möchte.

Es wird Menschen geben, die denken, dass unsere Arbeit nicht wichtig sei: Lasst alles beim Alten und macht eine allgemeine Amnestie für alle historischen Besteigungen! Aber viele andere wollen liebend gerne wissen, was Fakt ist: Wie viele Bergsteiger wirklich auf allen echten Gipfeln der 14 Achttausender standen. Und dafür ist unsere neue Tabelle mit allen Forschungsergebnissen sehr hilfreich. 2022 haben dann auch sehr viele Bergsteiger ihren falschen Manaslu-Gipfel durch eine erneute Besteigung bis zum echten Gipfel korrigiert.

Für die heutige Jagd nach Rekorden im Profibergsteigen ist es nötig, ein möglichst exaktes Bild der historischen Besteigungen zu erhalten, um für die Zukunft eindeutige sportliche Richtlinien zu definieren. Auch Bergsteigen ist nun einmal ein Konkurrenzsport geworden, bei dem es inzwischen um viel Geld geht. Somit sollten die einfachsten Regeln für die Zukunft sein: Als Gipfel gilt ausschließlich der Gipfel, und keine Helikopter vom Basislager zu einem höheren Camp.

Die UIAA hat 2002 schon in der „Tyrol Declaration“ geschrieben, dass bei Erstbesteigungen ein Bergsteiger verpflichtet ist, möglichst genaue Angaben zu machen, und wenn berechtigte Zweifel bestehen, muss man denen nachgehen. Bei großen Besteigungsserien, wie den 4000ern der Alpen, den 6000ern der Anden, den Seven Summits, den Seven Second Summits oder bei den 8000ern, sollten diese Richtlinien ebenso selbstverständlich sein. Hier sollte die UIAA nun tätig werden und die weltweiten Alpinvereine und -organisationen anhalten, uns bei der weiteren Forschung behilflich zu sein.

Erschienen in der
Ausgabe #122 (Frühling 23)

bergundsteigen #122 cover