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Speedrekord am Cho Oyu. Foto: Bene Böhm
20. Okt 2023 - 11 min Lesezeit

Schnell, schneller, tot

Rekordjagd am Berg: Die einen gewinnen, die anderen verlieren – und bezahlen dafür nicht selten mit ihrem Leben. So stellt sich immer mehr die Frage: Welchen Mehrwert haben diese Rekorde und wohin führt uns das Höher, Schneller, Weiter?

Am 7. Oktober geht kurz unterhalb des 8027 Meter hohen Shishapangma eine Lawine ab und reißt die Amerikanerin Anna Gutu und ihren nepalesischen Guide Mingmar Sherpa mit. Nur wenige Stunden später löst sich eine weitere Lawine: Gina Marie Rzucidlo und Tenjen Lama Sherpa, der zusammen mit Kristin Harila im Juli dieses Jahres alle 14 Achttausender in nur 92 Tagen bestiegen hatte, werden verschüttet. Die beiden Frauen eiferten um den Rekord, als erste Amerikanerin alle 14 Achttausender zu besteigen – der Shishapangma war für beide der letzte. Nun sind sie und ihre nepalesischen Bergführer tot. 

Unweit des auf tibetischem Gebiet liegenden Shishapangma feiert Dynafit-Geschäftsführer Benedikt Böhm am selben Tag eine Höchstleistung: Um halb zwölf stehen er und sein Partner, der nepalesische Bergsteiger und Bergführer Prakash Sherpa, nach zwölf Stunden und 35 Minuten auf dem Gipfel des 8188 Meter hohen Cho Oyu – und stellen damit einen neuen Geschwindigkeitsrekord auf. 

Zwölf Stunden und 35 Minuten vom Basecamp zum 8201 Meter hohen Gipfel des Cho Oyu.  Foto: Benedikt Böhm
Zwölf Stunden und 35 Minuten vom Basecamp zum 8201 Meter hohen Gipfel des Cho Oyu. Foto: Benedikt Böhm

Speed am Berg

Rekorde an den Achttausendern, den Nordwänden der Alpen oder den Bigwalls der Welt sind nichts Neues. Dennoch überschlagen sich in vergangener Zeit die Meldungen über immer neue Höchstleistungen.  Und so drängt sich immer wieder die Frage auf: Welchen Mehrwert haben diese Begehungen und wohin führt uns das Höher, Schneller, Weiter? 

bergundsteigen #114 cover speed

Geschwindigkeiten sind wie eine Droge, die alle Bereiche unseres Lebens erfasst. Diese Ausgabe widmet sich dem Thema Speed im Bergsteigen.

„Mir geht es mehr um meine persönliche Philosophie – das Rekordthema war lediglich Beiwerk, das natürlich medial groß aufgegriffen wird“, sagt Benedikt Böhm über seine Besteigung. Wie etwa Kilian Jornet gehöre er einer neuen Generation von Bergsteigern an: „Ich habe jahrelang Leistungssport gemacht und da natürlich versucht, alles zu perfektionieren: von der Ausrüstung bis hin zur physischen Vorbereitung.“

Diesen Minimalismus sowie die Geschwindigkeit haben wir auf den Berg übertragen.

Benedikt Böhm

Für Böhm stehe die Freude an der Leistung im Vordergrund. Die Kunst der Geschwindigkeit. „Wie viel ein Mensch aus sich herausholen kann, wenn er technisch, physisch und psychisch vorbereitet ist.“ Die Motivation für diese Entwicklung kann sowohl auf intrinsischen als auch auf extrinsischen Anreizen basieren. Als äußerer Einflussfaktor spielt sicherlich unser kapitalistisches Wertesystem eine Rolle: Wachstum, Wettbewerb und Profit werden auf die Bergwelt übertragen. Die Berge: ein Trainingsobjekt, ein Mittel zum Zweck. Wir leben ohnehin schon in einer Leistungsgesellschaft, so Böhm: „Ich sehe es kritisch diese aufzuweichen, weil wir so oder so im internationalen Wettbewerb stehen.“

Genau das hat sich der ehemalige Soldat und Expeditionsleiter Nirmal Purja zunutze gemacht: Nach seinem Project Possible, bei dem er in damaliger Rekordzeit er alle 14 Achttausender in knapp sechs Monaten bestieg, hat er nun die kommerzielle Besteigung aller Achttausender für die breite Masse perfektioniert. Wer sich den Traum erfüllen will, braucht nur das nötige Kleingeld – alpinistisches Können scheint zweitrangig. „Jeder, den wir im Basislager trafen, sprach von den 14 Peaks. Nirmal hat einen Mythos geschaffen, der sich so wie ein MBA (a.d.R. Master of Business Administration) im Lebenslauf macht. Nur die 14 Achttausender schafft man schneller“, kritisiert Böhm. Seine Geschwindigkeitsrekorde ordnet der Dynafit-CEO in eine andere moralische Werteordnung ein: „Bei unseren Begehungen steht ein großer Wertekodex im Vordergrund: kein Sauerstoff und keine Träger.“ (*Eine ausführliche persönliche Einschätzung von Benedikt Böhm zu den Ereignissen findet sich am Ende des Artikels.)

Diese Kritik wurde auch gegenüber der Norwegerin Kristin Harila laut, die derzeit mit 92 Tagen den Rekord für die Besteigung aller 14 Achttausender hält. Letztlich stellt sich aber die Frage:

Dürfen und sollen wir darüber urteilen, welche Leistungen Anerkennung verdienen und welche nicht? Anhand welcher Kriterien und Wertesysteme bewerten wir die Leistungen anderer?

Viele Menschen, wenig Wissen

Eine berechtigte Diskussion hat Ralf Dujmovits auf seinem Instagram-Account angestoßen. Gefährlich wird es nämlich vor allem dann, wenn Personen plötzlich Berge „bezwingen“ wollen, die wenig Ahnung von den Gefahren haben und die Verhältnisse am Berg nicht einschätzen können. Ralf Dujmovits schreibt: 

„Es ist nie eine gute Idee, die normale, nach Norden gerichtete Route am Shishapangma in der späten Nachmonsunzeit (Herbst) zu versuchen. Im Frühjahr und Herbst liegt ein stabiles Hochdrucksystem über der tibetischen Hochebene, das viele Tage mit gutem Wetter hintereinander bringt. Das Hochdrucksystem saugt Luft in großen Höhen an. Auf dem Gipfelgrat entsteht dadurch eine starke Luftströmung von Süden nach Norden. Diese Strömung transportiert Schnee von der Südseite auf die Nordwand . Der anhaltende Wind kann die Schneekristalle zusammendrücken und oberflächliche Schneebretter bilden, die Lawinen auslösen können.“ 

Ein zweites Problem, so Dujmovits, sei die kondensierende Feuchtigkeit und die Entstehung kantiger Schneekristalle im Inneren der Schneedecke. Der gigantische Hang oberhalb von 7300 Metern könne dann durch das zusätzliche Gewicht eines Bergsteigers leicht gestört werden – und ins Rutschen geraten. 

Fraglich ist, warum Veranstalter wie Nirmal Purja dennoch solche Routen wählen. Aus der Ferne lässt sich das natürlich schwer beurteilen. Dennoch bleibt der Eindruck, dass die Kommerzialisierung gefährlicher Berge in Kombination mit unerfahrener Kundschaft tragische, oft tödliche Konsequenzen hat. 

Ein Duell am Abgrund

Ueli Steck, Dani Arnold und der Kampf um Rekorde. Foto: Netflix
Ueli Steck, Dani Arnold und der Kampf um Rekorde. Foto: Netflix

Eine weitere Rekordjagd ist seit Anfang Oktober auf Netflix zu sehen: Die Dokumentation „Duell am Abgrund“ erzählt die Geschichte von Dani Arnold und Ueli Steck und ihren Speedrekorden an den großen Nordwänden der Alpen. Vor zwei Jahren beendete Dani Arnold sein Projekt, alle sechs großen Nordwände (Eiger, Matterhorn, Grandes Jorasses, Große Zinne, Piz Badile, Petit Dru) alleine und in Rekordzeit zu durchsteigen. Der Eiger-Rekord, den Ueli Steck 2008 mit zwei Stunden und 47 Minuten aufgestellt hatte, wurde 2011 von Dani Arnold um 20 Minuten unterboten. 2015 holte sich Steck den Rekord mit zwei Stunden und 22 Minuten zurück. 

In der Dokumentation betont Dani Arnold immer wieder, dass er die Leistungen ausschließlich für sich selbst erbringen will. Der kanadische Alpinist Don Bowie, der 2013 zusammen mit Ueli Steck im Lager an der Annapurna-Südwand war, kritisiert solche Aussagen: „Viele behaupten, sie tun es nur für sich selbst. Aber wenn das der Fall ist, warum geht man dann damit an die Öffentlichkeit? Sobald man solche Leistungen öffentlich vermarktet, Profit daraus schlägt und betont, wie schnell man geklettert ist, wird es zu einem öffentlichen Wettbewerb.“ 

Ein Wettbewerb, der sowohl von den Medien als auch von der Öffentlichkeit gleichermaßen gefeiert und kritisiert wird: Höher, schneller, weiter – Superlative faszinieren. Don Bowie bezweifelt jedoch, dass solche Wettkämpfe einen echten Mehrwert für den Alpinismus haben: “Als Bergsteiger muss man draufgängerisch sein. Aber je mehr ich es als Rivalität sehe, bei der man ohne Seil und im Alleingang klettern muss, desto mehr halte ich es für einen sinnlosen Wettbewerb.“  

Neben der Darstellung zweier starker, kühner Alpinisten, zeigt die Dokumentation jedoch auch eine andere, tragische Seite des Bergsteigens. In einem Ausschnitt aus einem älteren Interview wird Ueli Steck, der 2017 am Nuptse tödlich verunglückte, die Frage nach dem Sinn des Bergsteigens gestellt. Und ob er wisse, dass die ersten Menschen auf dem Mond, nämlich Armstrong und Aldrin, an Depressionen litten? Steck nickt zustimmend. „Ich glaube, für mich ist es genauso. Die beiden kamen vom Mond zurück, und die ganze Welt hatte eine Meinung. Aber die Leute wissen nicht, was oben passiert ist. Dort oben hat man starke Gefühle, aber man ist allein“, reflektierte Ueli Steck. Mit 38 Jahren akzeptieren zu müssen, dass die größten Leistungen vielleicht hinter einem liegen, sei nicht leicht. „Man fühlt sich ein wenig nutzlos“, fügte er hinzu.

Der fragende Journalist – unangemessen erfreut über die starken Zitate für sein Interview – beendet das Gespräch abrupt. Was in den letzten Sekunden dieser Aufnahmen bleibt: ein plötzlich zerbrechlich wirkender Mann, dessen Härte und hohe Ansprüche an sich selbst – so wie es bei vielen anderen Bergsteigerinnen und Bergsteigern ist – einen fast traurig machen.


Tagebucheintrag Benedikt Böhm am Cho Oyu

Nimsdai ist einem breiteren Publikum durch den Netflix-Film ‚14 Peaks‘ bekannt. Er ist auch ein guter Geschäftsmann. Ich habe mir seine beiden Läden in Kathmandu angeschaut und kann das, glaube ich, aufgrund meines beruflichen Hintergrunds gut beurteilen. Er hebt sich von der Konkurrenz ab, indem er alles um seine Person und die 14 Peaks herum perfekt aufbaut und inszeniert.

Mittlerweile hat er seine Finger in vielen Projekten, von Restaurants bis hin zur Gründung einer eigenen Helikopterfirma. Nimsdai ist meiner Meinung nach gut für Nepal, weil er ein Nationalheld geworden ist, den es hier vorher nicht gab. Er gibt dem Land Selbstvertrauen. Es ist wichtig, kurz über Nimsdai zu sprechen, weil mit ihm einige tiefgreifende Veränderungen im kommerziellen Höhenbergsteigen einhergehen. Zunächst ist festzustellen, dass nepalesische Bergsteigeragenturen die westlichen Agenturen weitgehend verdrängen. Gut ist auch, dass die lokalen Agenturen davon direkt profitieren. (…) Vor allem Nimsdai zieht viele Kunden an: Er hat exklusive Kunden wie die Prinzessin von Katar und viele andere. Meistens geht es darum, dem Kunden den Traum von den vierzehn 8.000 zu erfüllen. So wie es Nimsdai in seinem Film vorlebt. So schnell wie möglich alle 8.000er abhaken. Viel Sauerstoff, viele Helikoptereinsätze, viele Sherpas, die sich um die Logistik (Sauerstofftransport, Zelte, Aufbau, Versicherung etc.) kümmern und die Route abstecken und fixieren. Und nun, wie die Dinge hier am Cho Oyu ineinander greifen und Ausdruck dieser Entwicklungen sind.

In unserem Team ‚Climbalaya‘ war bis gestern unter anderem eine Amerikanerin namens Gina, die wie so viele andere versucht, ihre letzten beiden 8000er (Cho Oyu und Shishpangma) hier in Tibet zu bezwingen. Dann wäre sie die erste Amerikanerin, der das gelingt. Den Gipfel des Cho Oyu hat sie am 1. Oktober erreicht. Wir haben sie getroffen, als wir in Lager 2 waren und sie gerade beim Abstieg war. Was das Ganze aber so spannend macht (und damit schließt sich der Kreis zu Nimsdai) ist, dass Nimsdai auch eine amerikanische Kundin (namens Anna) hat, der nur noch die 2 tibetischen 8000er fehlen. Und hier zeigt sich für mich die Perversion der Logistikschlachten. Anna hat mit Nimsdais Team am 29.09. ihren zwölften Achttausender namens Dhaulagiri (Nepal) erreicht. Das Rennen geht weiter. Am 30.09. ist die ganze Nimsdai-Truppe irgendwie noch mit dem Helikopter bis zur tibetischen Grenze und weiter zum Basislager hier am Cho Oyu geflogen. Am 1. Oktober sind sie alle zum Lager 1 aufgestiegen. Und in der Nacht auf den 2. Oktober sehen wir das ganze Team (vielleicht 15-20) auf dem Weg zum Gipfel direkt an unserem Lager 2 vorbeigehen. Einer kommt zum Zelt und fragt nach Wasser. Für Nims Truppe geht es jetzt darum, ganz schnell den Cho Oyu zu machen, um dann sofort zum Shishapangma zu kommen, um noch vor Gina den letzten fehlenden 8000er zu schaffen. Gina ist übrigens schon am Morgen des 2.10. zum Shi aufgebrochen. Team Nimsdai mit Anna macht sich heute (3.10.) auf den Weg zum Shishapangma. Also einen Tag später als Gina. Ich fände es schön, wenn sich Gina und Anna einfach zusammentun würden, aber ich glaube nicht, dass das möglich ist. Aber wenn ich auf eine der beiden tippen müsste (ohne die Leistung der beiden zu kennen), dann wäre es Anna. Warum? Anna hat 9 (!!!) Sherpas, Gina nur 3. Ich war schon am Shishapangma und im Gipfelbereich braucht man Manpower zum Spuren. Da sind 9 deutlich besser. Mit richtigem Höhenbergsteigen und selbstständigen Entscheidungen hat das alles nicht viel zu tun.

Zunächst zum künstlichen Sauerstoff. Denn alle diese Leute gehen mit künstlichem Sauerstoff und in Begleitung von vielen Sherpas, die alle Lasten tragen. (…) Gestern kam eine nette Taiwanesin (namens Grace) in unsere Gruppe. Ich sitze ihr gerade beim Frühstück gegenüber (3. Oktober). Wie könnte es anders sein, fehlen ihr nur noch die beiden tibetischen 8.000er. Sie ist verspätet angekommen, weil sie 4 Wochen (!!!!) in Kathmandu auf ihr Einreisevisum gewartet hat. Und jetzt ist sie hier auf über 5.500 m mit Kopfschmerzen. Jetzt wartet sie nur noch auf 1-2 schöne Tage, um sofort auf den Gipfel zu gehen und dann gleich weiter zum Shishapangma. Das hat Gina auch gemacht. Sie war nicht akklimatisiert. Es ist eine Material- und Logistikschlacht. Wie ist das für Grace möglich? Sie wird ab Lager 1 einfach Sauerstoff verwenden. Ein Team um sie herum wird dafür sorgen, dass er ihr auch in Level 6 nie ausgeht und dass alles andere versorgt ist.

Ich könnte hier noch viele Beispiele aufzählen, aber es zeigt, wie schnell sich das kommerzielle Höhenbergsteigen entwickelt. Prakash erzählt mir, dass immer mehr Anbieter ihre Kunden einfach mit dem Helikopter auf Lager 1 und 2 bringen. Ausreichend Sauerstoff mitnehmen und los geht’s. Warum soll man sich zum Beispiel den Eisbruch am Everest Richtung Lager 1 antun, wenn man bequem hochfliegen kann? Meiner Meinung nach ist Nimsdai nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung, da er diesen Stil in seinem Film ‚14 Peaks‘ vorlebt. Im Film übrigens mit dem Segen von Reinhold Messner, für den der Einsatz von künstlichem Sauerstoff bei Nims 14 Peaks plötzlich kein Problem mehr ist.