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Skitourengeher im Gelände

Vergleich probabilistischer Instrumente zur Risikoabschätzung im Schneesport

Freeriden und Tourengehen haben in den letzten Jahren enorme Zuwachsraten zu verzeichnen. Ein Umstand, der auch immer wieder die Frage nach aktuell gültigen Strategien und Methoden zur Risikominimierung abseits der gesicherten Pisten in den Fokus rückt.
Entscheidungsfindung mittels GKMR-Methode
Abb. 1 Entscheidungsfindung mittels GKMR-Methode. Quelle: ACHTUNG LAWINEN!, 2021

Historisch betrachtet interessieren zwei Ansätze, die sich mit den Gefahren durch Lawinen befassen. Neben dem Ansatz der Schneedeckenanalyse, die von Lawinenpapst Werner Munter als eine für Einsteiger ungeeignete Expertenanalyse kritisiert wurde (Hellberg, 2020), gibt es noch den von besagtem Munter selbst ins Leben gerufenen Ansatz der Probabilistik.

Gerade in den Neunziger- und Nuller-Jahren sind diverse probabilistische Instrumente zur Risikoabschätzung, im Volksmund häufig zurückgehend auf ihren Ursprung schlichtweg als Reduktionsmethoden bezeichnet, entwickelt worden:

  • Professionelle Reduktionsmethode – PRM (Munter, 1992)
  • Elementare Reduktionsmethode – ERM (Munter, 1997)
  • Stop or Go (Larcher, 1999)
  • SnowCard (Engler & Mersch, 2001)
  • Reduktion des Lawinenrisikos des SAC (Harvey, 2002)
  • Grafische Reduktionsmethode – GRM (Harvey, 2003)
  • Bierdeckelmethode/Schnellcheck (Munter, 2004)

Behr & Mersch (2020, S. 40) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nicht alle probabilistischen Instrumente gleich sind und dass einige „feiner und treffsicherer“ seien als andere. Ein Umstand, der nicht im Sinne ihrer Erfinder liegen kann, schließlich sollten idealerweise alle Instrumente dem höheren Ziel dienen, eine Lawinenauslösung um jeden Preis zu vermeiden und dennoch großartige Tiefschneeerlebnisse in einem möglichst sicheren Rahmen zuzulassen.

Die Darstellung des Lawinenlageberichts, der üblicherweise die primäre Informationsquelle für die Verhältnisse im avisierten Tourengebiet ist und somit eine erste Risikoabschätzung zulässt, wurde in den letzten Jahren sehr im Sinne aller Nutzenden vereinheitlicht. Im Gegensatz zu dieser willkommenen Entwicklung arbeiteten die maßgeblichen Fachverbände der einzelnen Alpenländer im Rahmen ihrer Ausbildungen nach wie vor mit unterschiedlichen probabilistischen Instrumenten zur Risikoabschätzung.

Die aktuelle Version des ACHTUNG LAWINEN! vom Bayerischen Kuratorium für alpine Sicherheit (2021) zeigt anschaulich, wie die von allen deutschen Fachverbänden (DAV, VDBS, DSLV, Naturfreunde, Bayerische Polizei, DSV, VdPBS & VDHBF) einheitlich getragene G + K – M = R Herangehensweise (vgl. Abb. 1) zur Entscheidungsfindung den analytischen und den probabilistischen Ansatz vereint.

Gleichwohl werden dort auf der ersten Ebene des 3×3-Beurteilungs- und Entscheidungsrahmens nach Munter (1997) die GRM, die SnowCard und das auf einer quantitativen Reduktionsmethode beruhende neueste Online-Tool, der Skitourenguru, als mögliche probabilistische Instrumente vorgeschlagen.

Welches der eingangs aufgelisteten probabilistischen Instrumente ist nun allerdings feiner und/oder treffsicherer und demnach für den Einsteiger oder den eher erfahreneren Tiefschneesucher das Instrument der Wahl? Wir haben diese Frage als Ausgangslage genutzt, um im Rahmen zweier Abschlussarbeiten die gängigen probabilistischen Instrumente miteinander zu vergleichen. Aufbauend auf diesen zwei Abschlussarbeiten haben wir uns den im Folgenden dargestellten Zielsetzungen gewidmet.

„Für Anwendende bleibt die dringende Aufforderung bestehen, sich mit dem probabilistischen Instrument der Wahl intensiv auseinanderzusetzen und die jeweiligen Nuancen einschätzen zu lernen. Sonst gilt die alte Weisheit: A fool with a tool is still a fool …“

Ziel

Der vorliegende Artikel möchte Unterschiede zwischen den derzeit relevanten probabilistischen Instrumenten aufdecken. Um zu untersuchen, wie groß die Unterschiede in der Gefahrenbewertung der einzelnen Instrumente sind, werden in diesem Beitrag ausgewählte Instrumente auf ihre Sensibilität bezüglich einzelner Einflussfaktoren hin untersucht.

Dabei orientiert sich die Untersuchung an vier der fünf seit dem Winter 2017/18 einheitlich erfassten Gefahrenmuster: Neuschnee, Triebschnee, Altschnee und Nassschnee (Harvey, Rhyner & Schweizer 2012, S. 69; Mitterer et al., 2014, S. 83). Das Gefahrenmuster Gleitschnee haben wir bewusst ausgelassen, da Gleitschneelawinen nicht durch Skifahrer ausgelöst werden. Erfasst werden die Unterschiede der Handlungsempfehlungen, welche sich durch unterschiedliche Einflussfaktoren ergeben.

Zudem soll durch den Vergleich der Instrumente erfasst werden, bei welchen der relevanten Gefahrenmuster die ausgewiesenen Handlungsempfehlungen besonders stark variieren und ob sich eine Kategorisierung in offensivere und defensivere Instrumente, wie sie von Würtl (2017) bereits erwähnt wurde, bestätigen lässt. In diesem Kontext wird auch analysiert, ob einzelne Einflussfaktoren in den unterschiedlichen Instrumenten über- oder unterrepräsentiert sind.

Skitourengeher beim Abziehen der Felle. Foto: Pauli Trenkwalder.
Skitourengeher beim Abziehen der Felle. Foto: Pauli Trenkwalder.

Methodik

In einem ersten Schritt wurde untersucht, welche probabilistischen Instrumente welche Einflussfaktoren berücksichtigen. Zunächst gilt es zu sagen, dass alle relevanten Instrumente auf den von Munter in die Diskussion gebrachten Grenzwerten der Elementaren Reduktionsmethode (1997), der Gefahrenstufe (GS) und der Hangsteilheit aufbauen. Darüber hinaus ziehen manche Instrumente weitere Einflussfaktoren hinzu.

Daraus resultiert, dass die Komplexität der einzelnen Instrumente variiert, teilweise allerdings auch analytische oder bereits strategische Elemente mit in die Entscheidungsfindung einfließen. Für die vorliegende Arbeit wurden allerdings lediglich die im Sinne einer probabilistischen Entscheidungsfindung relevanten Einflussfaktoren berücksichtigt.

In einem zweiten Schritt wurde nach Rücksprache mit dem Bergführer und Projektleiter der Arbeitsgruppe ACHTUNG LAWINEN! Florian Hellberg (2022) eine Auswahl der zu untersuchenden Instrumente getroffen. Es sollten sowohl die aktuell von den Verbänden gelehrten Instrumente wie die SnowCard (DAV) und die Grafische Reduktionsmethode (SAC & integrative Lawinenkunde Österreich) und Stop or Go (ÖAV) einbezogen werden als auch Instrumente, die aus historischen Gründen einen hohen Stellenwert haben.

Als solche sehen wir die Elementare Reduktionsmethode und die Professionelle Reduktionsmethode an. Mit der Auswahl an Instrumenten und den zu berücksichtigenden Einflussfaktoren konnte nun zu jedem Gefahrenmuster ein spezifisches, exemplarisches Szenario entwickelt werden, welches dieses Gefahrenmuster möglichst kennzeichnend abbildet.

Wir bezeichnen diese im Folgenden als Basisszenarien. Zu jedem untersuchten Gefahrenmuster hatten wir zunächst ein Basisszenario in günstiger und eines in ungünstiger Exposition entworfen. Ferner hatten wir für die Basisszenarien eine einheitliche Hangsteilheit von 33° festgelegt. Diese Szenarien wurden dann mit jedem der untersuchten Instrumente bewertet.

Um nun die jeweiligen Instrumente auf ihre Sensibilität bezüglich einzelner Einflussfaktoren zu untersuchen, wurden in einem weiteren Schritt einzelne Einflussfaktoren systematisch variiert. So konnte kenntlich gemacht werden, wann und unter welchen Bedingungen die Einzelhangbewertung aufgrund der Veränderung nur eines Faktors umschlägt.

Damit sollte eine Art Laborsituation für die Untersuchung der einzelnen Instrumente in Abhängigkeit von dem jeweiligen Gefahrenmuster geschaffen werden. Wie ein solches Basisszenario und die jeweiligen Variationen aussehen, zeigen die Tabellen 1 und 2 beispielhaft für das Gefahrenmuster Altschnee. Bei der Erstellung von weiteren Tabellen für die Gefahrenmuster Neuschnee, Triebschnee und Nassschnee fiel auf, dass sich diese immer gleichen.

Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich in diesen Mustern und bei den verwendeten Instrumenten alle Einflussfaktoren in dem Aspekt der Exposition nach Lawinenlagebericht bündeln. Wir hatten zunächst eine Vielzahl von Faktoren verwendet wie z. B. (kritische) Neuschneemenge, Alarmzeichen, Höhenlage, Durchfeuchtung, Temperatur usw.

Letztlich mündet eine Variation dieser Faktoren aber immer in der Frage, ob die anzunehmende Exposition noch als günstig zu bewerten ist oder bereits auf ungünstig kippt. Wir sind deshalb dazu übergegangen, die weiteren Tabellen, die sich zu den verschiedenen Gefahrenmustern und der Varianz verschiedener Faktoren ergeben hatten, in zwei Einheitsmatrizen zusammenzufassen.

In diesen Einheitsmatrizen variieren dann nur noch die Gefahrenstufe, die Hangneigung und natürlich die Exposition. Bei der Exposition haben die zweitklassigen Reduktionsfaktoren nach Munter (2014) eine Sonderrolle: Sie eröffnen bei grundsätzlich ungünstiger Exposition gemäß Lawinenlagebericht und gleichzeitigem Verzicht auf den Sektor Nord also NW-N-NE bzw. Verzicht auf die nördliche Hälfte, sprich WNW-N-ESE weitere Handlungsspielräume (ausgenommen die Nassschneesituation).

Diese Spielräume fließen in Form der sogenannten zweitklassigen Reduktionsfaktoren Nr. 4 bzw. Nr. 5 in die Kalkulation ein. In den Tabellen zur ungünstigen Exposition gemäß Lawinenlagebericht werden demnach jeweils drei Spalten zur PRM dargestellt. Eine bildet den Sektor Nord ohne zweitklassigen Reduktionsfaktor ab und die anderen beiden zeigen die Ergebnisse bei Verwendung der Reduktionsfaktoren Nr. 4 und Nr. 5 (Munter, 2014, S. 126).

Der Faktor Gruppengröße wurde als Variable entfernt, da er die Tabellen nur unnötig aufblähen würde. Er spielte nur bei der PRM eine direkte Rolle. Der Anschaulichkeit halber wurde er bei den Tabellen 1 und 2 für Altschnee belassen. Im Rahmen der Einheitsmatrizen wurden alle Situationen, in denen ein drittklassiger Reduktionsfaktor von 2 – also kleine Gruppe oder große Gruppe mit Entlastungsabständen – notwendig war, gelb hinterlegt. Insofern wurde der Faktor Gruppengröße in Bezug auf die PRM weiterhin, wenn auch etwas vereinfacht, kenntlich gemacht.

Auswertung und Darstellung der Ergebnisse

Um die Ergebnisse der unterschiedlichen Instrumente vergleichbar zu machen, war ein einheitlicher Kategorisierungsansatz nötig. Dies stellte sich als eine nicht ganz einfache Aufgabe heraus, da einzelne Instrumente wie die ERM, PRM und Stop or Go lediglich Ja-Nein-Entscheidungen zulassen, während die grafischen Matrizen von GRM und SnowCard ausdifferenzierte Ergebnisstufen aufweisen. Wir haben uns bemüht, die Ergebnisse möglichst so darzustellen, wie es die jeweiligen Instrumente vorgesehen haben, wohl wissend, dass diese in der Praxis durchaus anders interpretiert und genutzt werden können.

Altschnee, Exposition günstig
Tab. 1 Altschnee, Exposition günstig – Basisszenario: GS 3, 33°, 5 Personen

Gleichzeitig haben wir versucht, einheitliche grafische Darstellungen zu finden, um die Ergebnisse über mehrere Instrumente hinweg besser vergleichen zu können. So ergibt z. B. die PRM nach Munter (1992) einen Wert. Ist dieser Wert ≤ 1, so ist ein Hang gemäß dem angestrebten Restrisiko befahrbar. Die Entscheidung lautet also „Ja“. Wer mit der PRM arbeitet, weiß in der Praxis natürlich, dass ein größerer Zahlenwert auch einem größeren Risiko entsprechen kann, wohingegen eine kleinere Zahl einen gewissen Puffer gegenüber dem angestrebten Risiko andeutet.

Mit anderen Worten, „Ja“ ist nicht gleich „Ja“. Dennoch haben wir es bei den zweistufigen Instrumenten (ERM & PRM) in der Ergebnisdarstellung bei den zwei Stufen „Ja“ und „Nein“ belassen, zumal sie so konstruiert sind, dass das Ergebnis immer eine klare Ja-Nein-Entscheidung ist. Bei der PRM haben wir aus Gründen der Vergleichbarkeit mit den grafischen Instrumenten trotzdem eine gelbe Kategorie eingefügt. Gelb bedeutet in diesem Fall, dass ein Wert ≤ 1 nur erreicht werden konnte, indem ein drittklassiger Reduktionsfaktor eingesetzt wurde, die Entscheidung zum „Ja“ also nur gegeben ist, weil Entlastungsabstände bzw. Einzelbefahrung eines Hangs mit einkalkuliert wurden.

Altschnee, Exposition ungünstig – Basisszenario: GS 3, 33°, 5 Personen
Tab. 2 Altschnee, Exposition ungünstig – Basisszenario: GS 3, 33°, 5 Personen

Das macht das Ergebnis der PRM optisch besser vergleichbar mit bspw. der Auswertung der SnowCard, welche bei Gelb auch eben-solche Vorsichtsmaßnahmen dringend empfiehlt. Etwas anders ist es bei Stop or Go. Hier sieht der Check 1 eine Ja-Nein-Entscheidung vor. Konnte beim Check 1 bereits ein „Nein“ oder „Stop“ erzielt werden, haben wir das so markiert. Wenn allerdings der Check 1 positiv ausfiel und Check 2 relevant wurde, haben wir das mit der Kategorie „evtl.“ in gelber Farbe markiert.

Dies ist die häufigste Kategorie bei Stop or Go, da dies das Instrument ist, welches sich am schwierigsten in eine Laborsituation übertragen lässt. Es ist schließlich dazu entwickelt worden, am Hang in der Situation angewandt zu werden. Wir fanden ein „evtl.“ trotzdem geeignet, weil es mit den anderen Ergebnissen besser vergleichbar war. „Ja“ in Grün haben wir hier nur gegeben, wenn wie beim Altschnee gar keine Alarmzeichen zu erkennen sind und somit der Check 2 – zumindest in unserer Laborsituation – positiv ausfallen würde, zumal der Check 2 das Vorhandensein von Alarmzeichen berücksichtigt.

Diese Interpretation von Stop or Go ist bewusst etwas naiv gehalten, da wir Stop or Go in seinen Eigenschaf- ten als reines probabilistisches Instrument testen und vergleichen wollten. In der Praxis würden Nutzende trotz fehlender Alarmzeichen beim Altschneeproblem sehr wohl gut daran tun, hier einen Check 2 einzurichten. Die beiden grafischen Instrumente SnowCard und GRM haben wir schlicht abgelesen und so wiedergegeben, wie es die Autoren formuliert haben. Alle Kategorien sind in der Legende noch einmal übersichtlich wiedergegeben.

Legende
Legende zu den Tabellen

Ergebnisse

Die Spalten innerhalb aller Tabellen beziehen sich immer auf jeweils ein probabilistisches Instrument. Um die Unterschiede zwischen den Instrumenten zu erkennen, muss man also die Tabellen Zeile für Zeile lesen. Farbunterschiede innerhalb einer Zeile deuten dabei auf unterschiedliche Empfehlungen verschiedener Instrumente unter gleichen Bedingungen hin. Diese sollen im Folgenden interpretiert werden.

Bei günstiger Exposition fällt auf, dass die ERM und GRM oftmals etwas offensiver in ihren Empfehlungen ausfallen. Besonders bei Gefahrenstufe 4 und einer Steilheit von 33° ist dies der Fall. Dies liegt daran, dass bei der Anwendung der ERM und der GRM bei günstiger Exposition eine Gefahrenstufe niedriger angenommen werden darf (Munter, 2014 S. 122; Harvey et. al., 2012, S. 159). Durch diese Reduktion um eine ganze Gefahrenstufe lassen ERM und GRM noch Spielräume zu, wo die anderen Instrumente ganz klar von einer Befahrung des Hanges abraten.

Bei ungünstiger Exposition hingegen fällt auf, dass die verschiedenen Instrumente sehr einheitlich bei 40° auf „Nein“ kippen. Hierin zeigt sich deutlich, dass die von Munter einst formulierten Grenzwerte der ERM (<40° bei GS 2, <35° bei GS 3 & <30° bei GS 4) der Ausgangspunkt bei der Entwicklung aller folgenden Instrumente waren. Da hierbei immer von einer ungünstigen Exposition ausgegangen wurde, sind die absoluten Limits bei ungünstiger Exposition also über alle hier dargestellten Instrumente hinweg gleich.

Der einzige Ausreißer in diesem Bereich ist die PRM, welche durch eine Differenzierung in den einzelnen Expositionen in der Nordhälfte unter Berücksichtigung der Reduktionsfaktoren Nr. 4 und Nr. 5 mehr Spielraum lässt. Nimmt man z. B. an, der Lawinenlagebericht würde bei Gefahrenstufe 3 und einem Triebschnee- und/oder Neuschneeproblem die ganze Nordhälfte als ungünstig deklarieren, dann wäre mit der PMR durch Verzicht auf reine Nordhänge eine Einzelbefahrung bis <40° denkbar (vgl. Tab. 4).

Einheitsmatrix Neuschnee, Exposition ungünstig
Tab. 4 Einheitsmatrix Neuschnee, Triebschnee und Nassschnee, Exposition ungünstig

Alle anderen Instrumente kippen bereits bei 35° auf „Nein“. Dieser Sonderfall bringt die von Munter (1997, S. 126) formulierten zweitklassigen Reduktionsfaktoren besonders gut zum Ausdruck. Dieser nicht unerhebliche Spezialfall – zumal in dieser Exposition und Steilheit viele reizvolle, aber auch gefährliche Tiefschneehänge zu finden sind – ist der Grund, warum die PRM nach Munters eigener Aussage (2014, S. 122) mehr Spielräume erlaubt als die ERM, sie aber auch wesentlich mehr Erfahrung voraussetzt. (Munter (2016, S. 126) positionierte sich hier sehr deutlich: „Die PRM ist für Profis und erfahrene Berggänger reserviert .“)

Ein Vergleich der beiden grafischen Instrumente nämlich der GRM und SnowCard macht deutlich, dass die SnowCard oftmals etwas defensiver ausgerichtet ist. Das liegt zum einen daran, dass bei der GRM bei günstiger Exposition um eine ganze Gefahrenstufe reduziert werden kann (siehe oben). Zum anderen wurde bei der Snow-Card aber auch bewusst auf einen linearen Verlauf der Trennlinien verzichtet. Somit differenziert die SnowCard stärker in den Gefahrenstufen 1 bis 3.

Bei Gefahrenstufe 4 hingegen ist es fast egal, ob man bei günstig oder ungünstig abliest. Dort kommen die Graphen der SnowCard sehr dicht zusammen, wohingegen sie bei der GRM über alle Gefahrenstufen und Hangsteilheiten hinweg immer einen konstanten Abstand von ca. 5° einhalten und somit durchgehend parallel verlaufen. Die SnowCard scheint insofern tatsächlich „feiner“ zu differenzieren, zumindest in der hier dargestellten Laborsituation.

Nun gibt es in der Praxis im Gelände das oft zu hörende Argument, dass ein Hang nur auf 5° genau zu schätzen sei. Demnach würde es genügen, wenn auch die Matrix des Instruments nur in diesen 5°-Schritten differenziere. Wir argumentieren genau andersherum: Wenn schon im Gelände die Schätzung der Hangsteilheit nur auf 5° genau funktionieren kann, dann sollte wenigstens das verwendete probabilistische Instrument so genau wie möglich sein. Denn andernfalls gibt es zweimal eine Unschärfe von bis zu 5°, welche sich im ungünstigen Fall addiert.

Wie schon in vorangegangenen Publikationen (z. B. Behr & Mersch, 2020; Würtl, 2017) diskutiert wurde, nimmt das Altschneeproblem eine Sonderstellung ein. Ein häufiger Kritikpunkt lautet, dass die probabilistischen Instrumente hier nur unzureichend funktionieren. Anhand der grafischen Darstellungen in Tabelle 1 und 2 fällt auf, dass Stop or Go dem Altschneeproblem gegenüber relativ offensiv erscheint. Dies haben wir bewusst so dargestellt, weil wir auf einer sehr theoriebasierten Ebene also gewisser- maßen naiv davon ausgegangen sind, dass es beim Altschneeproblem keine Alarmzeichen gibt.

Der Check 2 basiert auf der Analyse von Alarmzeichen und fällt somit konsequenterweise mit einem „Ja“ positiv aus. Wir sind uns bewusst, dass Stop-or-Go-Nutzende dies wissen sollten und am Einzelhang berücksichtigen, geht man davon aus, dass es ein Instrument für erfahrene Tourengehende ist. Trotzdem scheinen die grafischen Instrumente beim Altschneeproblem von Vorteil, da sie Nuancen besser abbilden und unabhängig von Alarmzeichen funktionieren. Behr und Mersch (2020) haben bereits darauf hingewiesen, dass die SnowCard beim Altschneeproblem sogar sehr treffsicher funktioniere.

Beim Stop or Go fällt ferner auf, dass es keine farbliche Abstufung gibt wie bei den grafischen Instrumenten. Dafür ist der Bereich, in dem eine Ja-Nein-Entscheidung am Einzelhang zu treffen ist (gelb dargestellt), relativ groß. Stop or Go betrachten wir wie oben bereits erklärt aber auch nicht als ein im klassischen Sinne probabilistisches Instrument, das in der ersten Ebene des 3×3-Beurteilungs- und -Entscheidungsrahmens Anwendung findet. Es in diesem Vergleich nicht zu berücksichtigen, war für uns aufgrund seiner Verbreitung und Bedeutung jedoch keine Alternative.

Fazit

Die hier genutzten Szenarien zur Untersuchung der probabilistischen Instrumente stellen Laborbedingungen dar. Ihre Stärke, die große Vergleichbarkeit, wird gleichzeitig von ihrer großen Schwäche überschattet: Sie sind nur bedingt realitätsnah. Die vorliegende Untersuchung konnte dennoch zeigen, dass die verschiedenen probabilistischen Instrumente bei gleichen theoretischen Szenarien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

Eine Unterscheidung in offensive Instrumente, allen voran die PRM und ERM, und defensive Instrumente wie die SnowCard, hat sich durchaus bestätigt. Stop or Go ist von den Grenzen des Check 2 sicherlich auch eher defensiv angelegt. Es lebt aber vor allem von der Erfahrung und der Geländeeinschätzung der Benutzenden bei dessen Anwendung in der Situation am Hang, wo sich mit entsprechender Expertise dann noch Spielräume ergeben.

Auch die PRM bleibt erfahrenen Tiefschneefreunden vorbehalten. Um zur eingangs formulierten Zielsetzung zurückzukehren: Neulingen, die in den Bereich des Freeridens und Tourengehens vordringen, sei eher ein grafisches Instrument zu empfehlen. Hier zeigen sich die Abstufungen deutlicher, wobei auch erkennbar wurde, dass die SnowCard nochmals defensiver operiert als die GRM.

Behr und Mersch (2020) konnten bereits anhand realer Lawinenunfälle zeigen, dass durch die konsequente Anwendung der SnowCard 77 % (Verzicht auf roten Bereich) bzw. 85 % (Verzicht auf roten und orangen Bereich) der Lawinenopfer vermeidbar wären. Entsprechende Untersuchungen sollten nun auch für die anderen hier untersuchten Instrumente anhand von realen Lawinenunfällen durchgeführt werden, um so Vergleichswerte zu schaffen.

Vor dem Hintergrund der Entwicklung neuer, ganzheitlicher Risikobewertungskonzepte, wie der eingangs erwähnten G + K – M = R Herangehensweise, wird deutlich, dass die Probabilistik zwar anhaltender Kritik ausgesetzt ist, sie aber dennoch weiterhin einen nicht unberechtigten Stellenwert in der Gesamtheit der Risikoeinschätzung einnimmt.

Besonders deswegen zeigt die vorliegende Untersuchung, dass die Auswahl eines geeigneten Instruments einen großen Einfluss auf die Sicherheit der Schneesporttreibenden haben kann und somit auch weiterhin tiefgründig untersucht werden sollte. Und für Anwendende bleibt die dringende Aufforderung bestehen, sich mit dem probabilistischen Instrument der Wahl und dessen Einbettung in eine Gesamtstrategie zur Gefahrenbeurteilung intensiv auseinanderzusetzen und die jeweiligen Nuancen einschätzen zu lernen. Sonst gilt die alte Weisheit: A fool with a tool is still a fool …

Literaturverzeichnis

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Erschienen in der
Ausgabe #122 (Frühling 23)

bergundsteigen #122 cover