Verhauer: Abseilen – Achtung Seilende!
Es ist schon etliche Jahre her, dass ich mit Benedikt, einem Bergführerkollegen, die Cassin am Preußturm im Drei-Zinnen-Massiv geklettert bin. Dennoch wird mir die Tour ewig in Erinnerung bleiben. Ja, klar, solche Klassiker vergisst man nicht, aber der wahre Grund, warum ich immer wieder an diesen Klettertag in den Zinnen denke, ist ein anderer.
Es lief alles wie am Schnürchen, an diesem wunderschönen Spätherbsttag: Die Nordseiten der Zinnen waren schon mit Schnee bedeckt, die Touristen fort und die Tour trotz der ein oder anderen polierten Stelle sehr schön zu klettern. Am Ausstieg genossen wir die Ruhe und die wunderbare Aussicht, bevor wir uns an den Abstieg – oder besser gesagt ans Abseilen machten.
Die Fragen vor dem Abseilen
Jetzt noch mal konzentrieren, und in einer Stunde sind wir beim Bierchen. Obwohl, oder vielleicht gerade weil man in seinem Kletterleben Hunderte Male abgeseilt hat, birgt dieser triviale Vorgang immer noch ein gewisses Restrisiko:
- Passt der Abseilstand?
- Passt der Verbindungsknoten?
- Ist das Abseilgerät richtig eingelegt?
- Ist der Kurzprusik eingelegt?
- Sind alle Karabiner zu?
- Sind Knoten in den Seilenden?
Neben diesen Standardfragen, die man vor dem Abseilen ohnehin noch einmal gewissenhaft checkt, beschäftigt man sich mit weiteren Fragen wie:
- Wo ist der nächste Stand?
- Reicht das Seil?
- Welches Seil zieht?
- Lässt sich das Seil abziehen?
- Löst man Steinschlag beim Abziehen aus und, und, und.
Aber inzwischen ist das ja alles Routine, und bei einem eingespielten Team flutscht die ganze Sache natürlich umso besser. Zurück zur Kleinen Zinne, zurück zum vorerst letzten Abseiler ca. 30 Meter oberhalb der großen Schlucht. Alles ist vorbereitet und ich schmeiß die beiden Seile hinunter. Nein, ich hab die Knoten im Seilende nicht vergessen, ich hab bewusst keine hineingemacht, da die Seile ganz locker bis zum Boden reichen, was mir mein Blick nach unten auch bestätigt.
Ein letzter Check am Stand und dahin geht’s. Ich seile als Erster bis auf den Schluchtgrund ab, gehe die Schlucht mitsamt den Seilen im Abseilgerät – mehr abseilend als gehend – weiter und entdecke den nächsten Stand: „A bissl alt die Haggl, aber passt schon, ist ja nix Außergewöhnliches in den Dolos! Alles gut!“
Gerade will ich meine Selbstsicherungsschlinge in den Stand einhängen, da entdecke ich einige Meter weiter vorne, direkt an der Schluchtkante, einen besseren Stand mit fettem Ring. „Super, den nimm i!“ Gesagt, getan. Ich gehe – weit nach hinten gelehnt, meinen Reverso wieder belastend – rückwärts weiter an die Kante. In dem Moment, wo ich meine Selbstsicherung in den Abseilring einhänge, flutschen auch schon die gespannten Seile durch mein Abseilgerät.
Dass keine Knoten in den Seilenden waren, hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr am Radar. Warum auch, war doch meine volle Aufmerksamkeit ganz und gar auf den Abseilring gerichtet! Wäre der Stand einen Meter weiter hinten gewesen, wäre dieser Klettertag wohl nicht so gut ausgegangen …
„Mein Fazit: Beim Abseilen gibt es nichts, was es nicht gibt, und die Fehlertoleranz ist einfach verdammt klein. Deshalb machen gewisse Standards und Partnerchecks einfach Sinn.“
Gerhard Mössmer