Verleiten Lawinenairbags tatsächlich zu riskanterem Verhalten?
Wirkungen von Lawinenairbags
Die grundlegende Idee von Airbagrucksäcken ist, dass in einem fließenden Medium wie einer Lawine die volumenmäßig größeren Körper an die Oberfläche „wandern“. Vergrößert die betroffene Person mithilfe des Airbags ihr Volumen, besteht eine größere Wahrscheinlichkeit für weniger tiefe Verschüttungen nach Stillstand der Lawine. Kritische Verschüttungen sind somit seltener, was wiederum weniger Erstickungstote zur Folge hat.
Da Ersticken die häufigste Todesursache bei kompletter Verschüttung ist (Procter et al., 2016), hat der verbreitete Einsatz von Airbags das Potenzial, die Sterbewahrscheinlichkeit bei Lawinenereignissen insgesamt zu verringern. So weit die Theorie. In der Praxis müssen Airbags zunächst rechtzeitig ausgelöst werden und dann auch funktionieren, um ihre Wirkung entfalten zu können.
Und Airbags können zwar dabei helfen, die Verschüttungstiefe zu verringern, sind aber nicht dafür konstruiert, vor anderen Gefahren eines Lawinenabgangs wie Absturz, Anprall, Verschüttung in Geländefallen oder bei bestimmten Lawinentypen wie Grund- oder Nassschneelawinen zu schützen. Außerdem könnte es sein, dass Airbags das subjektive Sicherheitsgefühl steigern („Den Hang probier’ ich – ich hab’ ja einen Airbag“). Dann wäre der Sicherheitsgewinn durch den Airbag aufgrund riskanten individuellen Verhaltens wieder dahin bzw. sogar überkompensiert.
Das heißt, Airbags sollten unter bestimmten Umständen einen Vorteil haben, sie gehen in ihrer Anwendung aber – wie der Rest der persönlichen Notfallausrüstung im Lawinenbereich auch – mit gewissen Schwächen einher. Überwiegt nun der potenzielle Nutzen eines Airbags seine Schwächen? Habe ich im Gelände im Falle des Falles bessere Überlebenschancen, wenn ich einen Airbag trage, oder verleitet mich der Airbag zu mehr Risiko?
Diesen Fragen zur Nutzung von Airbags und deren Auswirkungen auf reales Verhalten im Gelände ist die Forschungsgruppe Winter der DAV-Sicherheitsforschung nachgegangen. Konkret berichten wir in diesem Beitrag, wie verbreitet Airbags unter Skitourengruppen sind, ob die Airbagnutzung von bestimmten Gruppenmerkmalen abhängt, was Gruppen über die Wirkungsweise von Airbags und ihre Effektivität wissen und ob sich das Tragen eines Airbags auf die Bereitschaft von Gruppen auswirkt, anspruchsvollere oder riskantere Touren zu wählen.
Wie ist die Airbagnutzung bei Skitouren- und Freeridegruppen?
Es wurden 157 Gruppen mit N = 465 Personen an zwei Skitourenstandorten (Kelchsau, n = 195 Personen/62 Gruppen; Namlos, n = 150/50) und einem Freeridegebiet in Tirol (Hochfügen, n = 120/45) befragt. Die Gruppengröße variierte vom Einzelgänger (n = 13) bis zu 14 Personen (n = 1). Die häufigste Gruppengröße war die Zweiergruppe (n = 80); 77.1 % aller Gruppen lagen bei einer Größe zwischen 2 und 4.*
Airbagnutzung nach Personen
Von den insgesamt 465 erhobenen Personen trugen 189 Personen (41 %) einen Airbag auf Tour, davon 66 von 120 bei Freeridern in Hochfügen (55 %), 72 von 195 in Kelchsau (37 %) und 51 von 150 in Namlos (34 %). An beiden Skitourenstandorten zusammen betrachtet trugen 36 % der Skitourengeher einen Airbag. Beim Freeriden wurde also häufiger ein Airbag getragen als beim Skitourengehen.
Airbagnutzung nach Gruppen
Über alle Gruppen reichte die Anzahl der Personen mit Airbag von 0 Personen pro Gruppe (n = 60; 38 %) bis 7 (n = 1; 0.6 %) pro Gruppe. Interessanter als die absoluten Zahlen ist aber der Anteil der Personen mit Airbag in einer Gruppe, also wie viel Prozent der Gruppenmitglieder einen Airbag trugen. Zwei Airbagnutzer in einer Gruppe sagen noch nicht viel aus. Setzt man dies aber in Relation zur Gruppengröße, dann ergibt sich in einer Gruppe mit zwei Personen eine Nutzungsrate von 100 % (alle Gruppenmitglieder haben einen Airbag), in einer 8er-Gruppe aber „nur“ eine Rate von 25 %.
Um die Daten übersichtlich zu halten, haben wir die Gruppen in vier Kategorien aufgeteilt: erstens nach Gruppen ohne Airbagnutzer, zweitens nach einem Airbaganteil von weniger als 50 %, drittens von 50 % oder mehr (aber nicht 100 %) und viertens nach Gruppen, deren Mitglieder alle einen Airbag hatten (=100%).
Wie aus Tabelle 1 ersichtlich, war im Freeridegebiet im Vergleich zu den Skitourenstandorten nicht nur der Anteil derjenigen Gruppen, in denen niemand einen Airbag hatte, geringer. Sondern in der Mehrheit der Gruppen (60 %) hatten dort sogar alle Mitglieder einen Airbag. Dies war bei den Skitourengruppen durchschnittlich an beiden Standorten nur bei 23 % der Gruppen der Fall.
Entsprechend bestand ein signifikanter Unterschied in der Airbagnutzung zwischen den Standorten, F(2, 154) = 5.772, p = .004, n² = .070 (mittlerer Effekt). Im Detail ergaben sich keine Unterschiede zwischen den beiden Skitourenstandorten (Lechtal und Kelchsau), dafür aber zwischen diesen beiden und dem Freeridegebiet (Hochfügen). Im Letzten war die Airbagnutzung in den Gruppen größer als in den Skitourengebieten.
Wer trägt einen Airbag?
Der höhere Anteil von Airbagrucksäcken bei Freeridern hat nicht notwendigerweise etwas mit deren höherem Risikobewusstsein zu tun, sondern ist vermutlich eine Folge aus höherer Akzeptanz des Mehrgewichts beim Freeriden sowie den sozialen Bildern und Erwartungen, die mit diesen Tätigkeiten verknüpft sind.
Zum Gesamtbild Freeriden gehört ein Lawinenairbag (zumindest noch) eher dazu als zum Skitourengehen. Und dieselbe Person mag aus einer Vielzahl an Gründen beim Freeriden eher den Airbag mitnehmen, als wenn sie auf Skitour geht – falls sie das überhaupt tut. Um herauszufinden, ob es vielleicht auch „harte“ Kriterien außer der Spielform des winterlichen In-die-Berge-Gehens gibt, die eine Airbagnutzung wahrscheinlicher machen, haben wir zunächst explorativ unterschiedliche soziodemographische Variablen (z. B. Geschlechtshomogenität, Gruppengröße, Alter, Erfahrung, Ausbildung, Ausrüstung etc.) der erhobenen Gruppen mit dem Anteil der Airbagnutzung in den Gruppen korreliert.
Diejenigen Variablen, die dabei signifikante Zusammenhänge zeigten, wurden dann in ein Regressionsmodell zur Erklärung der Airbagnutzung aufgenommen. Dieses Modell klärte 22.4 % der Varianz auf, d. h. der Unterschiede in der Airbagnutzung bzw. Nicht-Nutzung zwischen den Gruppen, F(7, 149) = 6.14, p < .000. Dabei trugen nur drei Variablen signifikant zur Aufklärung bei:
Geschlechtshomogenität der Gruppe (ß = .18, p = .021) Anteil der Standardnotfallausrüstung (VS-Gerät, Schaufel, Sonde) in der Gruppe (ß = .23, p = .006) und Anteil Helm in der Gruppe (ß = .27, p < .000). Geschlechtshomogene Gruppen trugen eher einen Airbag als gemischtgeschlechtliche Gruppen, wobei es keinen Unterschied machte, ob die Gruppe nur aus Frauen oder nur aus Männern bestand.
Gruppen, in denen alle Mitglieder gut ausgerüstet waren (VS-Gerät, Schaufel, Sonde, Helm), trugen ebenfalls eher einen Airbag. Bei Letzteren liegt die Vermutung nahe, dass in diesen Gruppen bereits eine gewisse Sensibilität und Bereitschaft bestand, in Ausrüstung zu investieren und diese auch zu tragen.
Warum geschlechtshomogene Gruppen eher einen Airbag tragen, bleibt spekulativ. Interessant ist jedenfalls, dass intuitiv naheliegende Variablen wie Erfahrung, Tourenhäufigkeit, selbsteingeschätzte Kompetenz in der Beurteilung von Lawinengefahren oder Risikobereitschaft die Airbagnutzung nicht vorhersagen.
Insgesamt bestätigt sich das Bild unserer bisherigen Auswertungen zur Entscheidungsfindung und Verhalten der Skitourengruppen (vgl. Forschungsgruppe Winter, 2022, 2023): Die Gruppen unterscheiden sich zum Teil zwar sehr voneinander bezüglich einzelner Gruppenmerkmale wie Alter, Geschlecht oder Erfahrung, aber insgesamt haben sie alle einen sehr ähnlichen Ausrüstungsstand und gehen bei ihrer Entscheidungsfindung ähnlich vor bzw. kommen zu vergleichbaren Ergebnissen.
Eine Kategorisierung der Gruppen nach Schubladen findet sich in der Realität nicht (z. B. die mittelmäßig ausgerüsteten Erfahrenen, die gute Entscheidungen treffen vs. die top-ausgerüsteten Unerfahrenen, die schlechte Entscheidungen treffen). Wichtig ist auch, im Hinterkopf zu behalten, dass das alleinige Tragen eines Airbags oder der gesamten Standard-Notfallausrüstung wenig über die Kompetenz der Personen aussagt, im Gelände gut zu entscheiden, nichts über ihre sonstigen lawinenbezogenen Fähigkeiten und auch nichts über ihr Wissen bezüglich Airbags. Letzteres schauen wir uns nun genauer an.
Was wissen Skitourengruppen über Airbags?
Wie wurde das Wissen über die Wirkung von Airbags erhoben: Damit Sicherheitsausrüstung (Helm und Airbag-Rucksack sind PSA!) für den Nutzer einen Sicherheitsgewinn bringt, muss diese getragen bzw. rechtzeitig ausgelöst – sprich aufgeblasen – werden. Aufseiten der Nutzer:innen sollte darüber hinaus zumindest grundlegendes Wissen über die Funktionsweise, den möglichen Anwendungsbereich und die Wirksamkeit des Gegenstandes vorhanden sein.
Die Fähigkeit, den Airbag anzuwenden, haben wir nicht erhoben (vermutlich wären nicht besonders viele Befragte bereit gewesen, ihren Airbag am Parkplatz auszulösen; und das würde auch nicht viel darüber aussagen, ob diejenigen dann auch während eines Lawinenabgangs in der Lage gewesen wären, ihn auszulösen). Somit konnten wir nur die Items Kenntnis und Verständnis erheben.
Dazu haben wir den Gruppen vor der Tour (Erhebungszeitpunkt 1) drei Fragen gestellt:
- Was glaubt ihr – wie viele von 100 Wintersportlern ohne Airbag, die von einem Lawinenunfall betroffen sind, sterben?
- Was glaubt ihr – wie viele von 100 Wintersportlern mit Airbag, die von einem Lawinenunfall betroffen sind, sterben?
- Was sind die Limitationen eines ABS/Airbags (wann hilft der Airbag nicht)?
Die Fragen wurden offen ohne Vorgabe von möglichen Antworten gestellt; bei Nachfragen wurde die Frage ausführlicher erklärt. Bei den ersten beiden Fragen wurde der von der Gruppe genannte Wert notiert. Bei der letzten Frage kreuzte der/die Interviewer:in die genannten Einschränkungen auf dem Erhebungsbogen an (mögliche Antworten: Geländefallen, Absturz, Nachverschüttung, Anprallverletzung, technisches Versagen, wird nicht immer ausgelöst/ menschliches Versagen, Sonstiges wie Kombination Airbag und Fangriemen).
Für die Anzahl der genannten Antworten wurde der Summenscore berechnet (je mehr korrekte Antworten, desto größer das Wissen). Aus den beiden Fragen nach den Sterberaten konnten wir zum einen berechnen, wie sehr die Gruppen die Wahrscheinlichkeit, bei einem Lawinenunfall mit oder ohne Airbag zu sterben, über- bzw. unterschätzen (Abweichungen vom „wahren“ Wert) und wie korrekt sie den Sicherheitsgewinn durch einen Airbag und damit seine Effektivität einschätzen (Differenz zwischen der Schätzung mit vs. ohne Airbag).
Für diese Berechnungen mussten wir als Referenzwert „wahre“ Werte der Überlebenswahrscheinlichkeiten festlegen. Die Berechnung der Effektivität von Airbags zur Erhöhung der Überlebensrate ist aber alles andere als trivial und wird daher in einem Exkurs auf der nächsten Seite skizziert.
Wie groß ist das Wissen?
Wie aus Tabelle 2 ersichtlich, überschätzten alle Gruppen die Wahrscheinlichkeit, im Falle eines Lawinenunfalls zu sterben, und zwar sowohl mit als auch ohne Airbag. Ebenso überschätzt wurde der Sicherheitsgewinn durch die Benutzung eines Airbags (Mortalitätsdifferenz). Diese Abweichungen von den Referenzwerten sind allesamt signifikant mit mindestens t(46) ≥ 2.325, p ≤ .025, d ≥ .339.
Exkurs: Wie berechnet sich die Effektivität von Airbags
Für Wintersportler ist entscheidend, wie effektiv ein Airbag in der Praxis ist: Wie sehr erhöht sich meine Überlebenswahrscheinlichkeit, wenn ich von einer Lawine mit oder ohne Airbag erfasst werde? Studien, in denen Dummys mit aufgeblasenem Airbag versus ohne Airbag von künstlich ausgelösten Lawinen mitgerissen werden, liefern zwar Erkenntnisse über die Funktionsweise, aber nicht über die Effektivität in der Praxis eines Ernstfalls.
In der Praxis muss der Airbag erst einmal ausgelöst werden (was nicht alle schaffen), dann muss er sich auch aufblasen (was nicht immer der Fall ist) und dann beeinflussen viele weitere Faktoren, ob die betroffene Person beim Stillstand der Lawine weitgehend unverletzt und nur gering verschüttet ist (Aufprall, Absturz, Lawinengröße, Gelände, Verschüttungstiefe, Schneebeschaffenheit etc.).
Um die Effektivität verlässlich zu berechnen, müssten wir sowohl vergleichbare Daten über alle Lawinenunfälle haben, die nicht nur die Airbagnutzung und alle relevanten Faktoren beinhalten, sondern auch wissen, welche Faktoren überhaupt welchen Einfluss auf die Überlebenswahrscheinlichkeit haben und wie sie miteinander interagieren.
Weder werden alle Lawinenunfälle mit Personenbeteiligung dokumentiert noch kennen wir die genauen Wirkungszusammenhänge relevanter Faktoren. Zur Lösung dieses Problems haben Haegeli und Kolleg:innen (2014a, 2014b) ein elegantes Vorgehen gewählt, das leider aber auch mit einem großen Nachteil einhergeht: Sie werteten nur diejenigen Lawinenereignisse mit Personenbeteiligung mit dem Potenzial einer Gesamtverschüttung (von Lawine mitgerissen oder getroffen) aus, bei denen sowohl Personen mit Airbag (aufgeblasen oder nicht) als auch Personen ohne Airbag betroffen waren.
Dieses Vorgehen ermöglichte einerseits einen direkten Vergleich der verschiedenen Airbag-(Nicht-)Nutzer innerhalb der Gruppen unter ansonsten gleichen Bedingungen (d. h. gleiches Lawinenereignis). Andererseits blieb aber ein Großteil der dokumentierten Lawinenereignisse unberücksichtigt, weil beispielsweise Ereignisse mit nur einer betroffenen Person oder Ereignisse nur mit Personen ohne bzw. mit Airbag ausgeschlossen wurden.
Um zu einer realistischen Einschätzung zu kommen, wurden auch Fälle, in denen der Airbag nicht aufgeblasen war (ca. 20 % der betroffenen Airbagnutzer; Großteil aufgrund von Fehlern seitens des Nutzers), zu den Airbagnutzern gezählt. Und schließlich wirkt der Airbag zwar dadurch, dass er die Verschüttungstiefe reduziert; aber nicht jede Person ohne Airbag, die von einer Lawine erfasst wird, wird kritisch verschüttet.
Weitere entscheidende Einflussgrößen sind daher die Lawinengröße (je größer, desto wahrscheinlicher eine kritische Verschüttung) und eine mechanische Verletzung während des Abgangs (höhere Wahrscheinlichkeit kritischer Verschüttung bei Verletzung). Das heißt, bei der Berechnung der Sterbewahrscheinlichkeiten ohne versus mit Airbag wurde der Effekt der Lawinengröße und der Verletzung durch Trauma auf die kritische Verschüttung ebenfalls berücksichtigt (für eine detaillierte Erklärung siehe Haegeli in bergundsteigen #88, 2014b).
Haegeli und Kolleg:innen berichten in ihrer Studie (2014a) von einer bereinigten Reduktion der Sterbewahrscheinlichkeit von 22 % ohne Airbag (kein Airbag getragen) zu 14 % mit Airbag (aufgeblasene und nicht aufgeblasene), woraus sich eine Mortalitätsdifferenz von 8 % ergibt. Diese Werte haben wir für unsere Berechnungen als Referenzwerte verwendet.
Wichtig zum Verständnis der Interpretation dieser Werte ist, dass sie nicht als absolut verstanden werden dürfen, sondern eine relativ hohe Irrtumswahrscheinlichkeit haben. So reicht die Spanne, innerhalb derer der wahre Mittelwert der Mortalitätsdifferenz mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % liegt (das sogenannte 95-%-Konfidenzintervall), von 2 % bis 14 % (Haegeli et al., 2014a).
Übersetzt in einen Lawinenunfall bedeuten diese Zahlen, dass bei zwei Personen – eine mit, eine ohne Airbag – die von derselben Lawine erfasst werden, auch die Person mit aufgeblasenem Airbag verschüttet und sterben kann, während diejenige ohne Airbag überlebt (für ein reales Beispiel siehe das Lawinenunglück am Steintalhörnl, Berchtesgadener Alpen, im Februar 2022; Lawinenwarnzentrale Bayern, 2022).
Fazit:
Trotz der statistischen Einschränkungen gilt: Auch mit Airbag kann man in einer Lawine sterben – die Sterbewahrscheinlichkeit ohne Airbag ist über alle Fälle gerechnet jedoch um mehr als 50 % höher (14 % zu 22 %). Oder positiv formuliert: Die Überlebenswahrscheinlichkeit insgesamt erhöht sich vermutlich deutlich, auch wenn es bei ein- und dem- selben Ereignis genau andersrum sein kann!
Als häufigste Limitation eines Airbags wurde von knapp der Hälfte der befragten Gruppen menschliches Versagen genannt. Insgesamt wurde etwa ein Drittel der möglichen Einschränkungen benannt. Wir schließen daraus, dass die Einschränkungen den Gruppen grundsätzlich bewusst sind, bezüglich der genauen Wirkweise aber durchaus noch weiterer Informationsbedarf besteht.
Im Weiteren haben wir untersucht, ob die Einschätzung der Sterbewahrscheinlichkeiten von der Airbagnutzung innerhalb der Gruppen abhängt (siehe Abbildung 1). Hierzu haben wir zwischen Gruppen, in denen niemand einen Airbag hatte, Gruppen, in denen weniger als die Hälfte der Mitglieder einen Airbag hatte (<50 %), solchen, in denen die Hälfte oder mehr einen Airbag hatte (≤50 %), sowie Gruppen, in denen jede:r einen Airbag trug, unterschieden.
Auch hier zeigt sich – wenig verwunderlich –, dass über alle Airbagnutzergruppen hinweg die Sterbewahrscheinlichkeiten überschätzt werden. Nur in den Gruppen, in denen weniger als die Hälfte der Mitglieder einen Airbag hatte, gab es bei der Einschätzung eine recht realistische Einschätzung der Sterbewahrscheinlichkeit mit Airbag (13.4 % vs. 14 % Referenzwert). Diese Gruppen unterschieden sich dabei signifikant von den Gruppen mit höherem Airbag-Anteil, F(3, 148) = 3.554, p =.016, n² = .068 (mittlerer Effekt).
Ob es sich dabei um ein Zufallsergebnis handelt oder ob ein geringerer Anteil von Airbags in der Gruppe tatsächlich zu realistischeren Einschätzungen führt, lässt sich mit unseren Daten nicht klären und müsste in weiteren Studien untersucht werden.
Verhalten sich Airbagnutzer riskanter?
Die wohl spannendste und außerdem kontrovers diskutierte Frage ist, ob sich das Tragen eines Airbags auf die Risikobereitschaft auswirkt. Einerseits lässt sich argumentieren, dass Menschen gemäß der Theorie der Risikohomöostase (Wilde, 1982) ihr Risikoverhalten der wahrgenommenen Sicherheit anpassen und damit mehr Sicherheit durch mehr Risiko kompensiert wird.
Wenn also die subjektive Sicherheit durch einen Airbag erhöht wird und dieser Sicherheitsgewinn auch noch überschätzt wird, dann sollten sich Risikokompensationseffekte zeigen, indem die Betreffenden sich riskanter verhalten und beispielsweise bei kritischen Verhältnissen unterwegs sind oder steilere Hänge befahren. Andererseits lässt sich argumentieren, dass eine Airbagnutzung nur dann zu höherer Risikobereitschaft führt, wenn dem Gerät naiv eine magische Wirksamkeit zugeschrieben wird, die dieses nicht erfüllen kann (z. B. „Der Airbag schützt mich vor Lawinen – jetzt kann mir nichts mehr passieren“).
Wird dagegen verstanden, dass ein Airbag nur eine Sicherheitsausrüstung unter mehreren ist, die auch mängelbehaftet ist, und es keinen 100-%igen Schutz vor den Folgen eines Lawinenabgangs gibt, dann sollte eine Airbagnutzung nicht zu höherer Risikobereitschaft führen. Die Untersuchung von Risikokompensationseffekten durch Airbags in realen Situationen ist ausgesprochen aufwendig.
Daher ist es naheliegend, zunächst zu versuchen die Auswirkungen von Airbagnutzung auf Risikoeinschätzungen und beabsichtigtes Risikoverhalten mit Hilfe von Szenarien (z. B. „Stellen Sie sich vor, Sie haben (k)einen Airbag und wollen folgenden Hang befahren …“) zu erkunden. Die Ergebnisse von Onlinestudien mit solchen Entscheidungsszenarien (z. B. Haegeli et al., 2019; Wolken et al., 2014) ergaben keine (z. B. Wolken et al., 2014) bzw. nur leichte Risikokompensationseffekte unter bestimmten Bedingungen (z. B. Haegeli et al., 2019).
Von solchen Studien kann aber nicht unmittelbar reales Verhalten in realen Situationen abgeleitet werden. Gerade im Bereich der Entscheidungsforschung gibt es oft nur geringe Übereinstimmungen zwischen dem Antwortverhalten in Fragebogenstudien, dem Verhalten in Laborstudien und dem Verhalten in der Realität (z. B. Lejarraga & Hertwig, 2021; Schulze & Hertwig, 2021).
In der Skitourenstudie der DAV-Sicherheitsforschung haben wir sowohl die selbsteingeschätzte Risikobereitschaft als auch objektivierbare Maße für das intendierte und das tatsächliche Risikoverhalten (Risikopotenziale und Gefahrenstellen der geplanten und durchgeführten Tour) im Feld erhoben. Im Folgenden berichten wir über die Zusammenhänge dieser Variablen mit der Airbagnutzung.
Airbagnutzung und selbsteingeschätzte Risikobereitschaft
Wir hatten vor Beginn der Tour die befragten Gruppen gebeten, ihre eigene Risikobereitschaft einzuschätzen. Zwischen dieser selbsteingeschätzten Risikobereitschaft und der Nutzung bzw. Nicht-Nutzung von Airbags ergaben sich keinerlei Zusammenhänge. Die Nutzung von Airbags trug nicht zu einer höheren selbsteingeschätzten Risikobereitschaft bei.
Airbagnutzung und Gefahrenstellen sowie Risikopotenzial der Tour.
Für alle durch die befragten Gruppen geplanten (Erhebungszeitpunkt 1: vor der Tour) und durchgeführten Touren (Erhebungszeitpunkt 2: nach der Tour) können wir basierend auf einer aufwendigen Geländeanalyse die Anzahl der tagesaktuellen Gefahrenstellen benennen. Zusätzlich haben wir für jede dieser Gefahrenstellen eine Experteneinschätzung für den Erhebungstag, welche Verhaltensmaßnahmen an den einzelnen Gefahrenstellen angemessen waren.
Daraus lassen sich als objektivierbare Maße für Risikoverhalten die Anzahl der Gefahrenstellen und ein Risikopotenzial (vgl. Forschungsgruppe Winter, 2023) der geplanten und durchgeführten Touren berechnen. Zwischen diesen Indikatoren für Risikoverhalten und der Nutzung bzw. Nicht-Nutzung von Airbags ergaben sich keine überzufälligen Zusammenhänge. Es ergaben sich auch dann keine bedeutsamen Zusammenhänge, wenn die Daten nach Erhebungsstandorten getrennt ausgewertet wurden.
Airbagnutzung und Lawinengefahrenstufe.
Der einzige signifikante Zusammenhang bestand in einer Zunahme der Airbagnutzung mit höherer Gefahrenstufe. Unseres Erachtens spricht dies dafür, dass sich die Gruppen in ihrem Verhalten und ihrer Ausrüstung unterschiedlichen Verhältnissen anpassen. Wird eine Modetour mit verspurten Hängen bei LLB 1 begangen, stellt sich durchaus die Frage, worin denn der Sicherheitsgewinn durch einen Airbag liegen soll und wie sinnvoll es ist, diesen mitzunehmen. Bei LLB 2 oder 3 im wenig verspurten Gelände ist der Sicherheitsgewinn durch einen Airbag eher gegeben.
Insgesamt ergaben die Daten unserer Feldstudie keinen Hinweis darauf, dass die Nutzung von Airbags einen Einfluss auf die Risikobereitschaft oder das Risikoverhalten hat. Bei der Tourenplanung und Einzelhangbeurteilung tragen zahlreiche Faktoren zur Entscheidungsfindung bei; der Airbag spielt dabei offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle. Dies bedeutet aber nicht, dass die Nutzung eines Airbags im Einzelfall doch zu einem riskanteren Verhalten beiträgt – nach unseren Daten sollte das aber die Ausnahme und nicht die Regel sein.
Fazit
Lawinenairbags werden nicht nur beim Freeriden, sondern auch beim klassischen Skitourengehen – wenn auch in geringerem Ausmaß – mittlerweile verbreitet benutzt. Die von uns befragten Nutzer: innen sind sich darüber im Klaren, dass Airbags Einschränkungen haben und keine absolute Sicherheit garantieren. Aber sie überschätzen großteils systematisch den Sicherheitsgewinn von Airbags sowie allgemein die Wahrscheinlichkeit, ohne Airbag in einer Lawine ums Leben zu kommen.
Nicht jeder Lawinenabgang mit einer kritischen Verschüttung endet erfreulicherweise tödlich (Anm.: Die Sterbewahrscheinlichkeit ohne Airbag beträgt 22 %)! Unseres Erachtens sollte im Bereich des Airbagwissens noch stärker darüber informiert werden, wann die Nutzung eines Airbags eine sinnvolle Ergänzung der Lawinen-Notfallausrüstung sein kann und in welchen Situationen weniger.
Auf individueller Ebene lautet die Empfehlung – wie so oft –, das eigene Verhalten kritisch zu reflektieren und sich darüber bewusst zu werden, in welchen Situationen der Airbag das eigene Risikoverhalten beeinflusst. Da der überwiegende Anteil nicht aufgeblasener Airbags bei Lawinenunfällen auf Fehler des Nutzers zurückgeht (z. B. Kartusche nicht korrekt eingelegt; keine Auslösung), sollte vor jeder Nutzung unbedingt die Funktionsbereitschaft überprüft werden.
Das Auslösen des Airbags sollte regelmäßig auf Tour mental und motorisch (z. B. in unterschiedlichen Situationen an den Auslösegriff greifen) durchgespielt werden. Hin und wieder ergibt es auch Sinn, den Airbag tatsächlich auszulösen. Sich plötzlich mitten in einer abgehenden Lawine zu befinden, ist für die allermeisten von uns ein Ereignis vollkommen außerhalb des Üblichen – ja vielleicht sogar außerhalb unserer Vorstellungskraft.
Bei einem plötzlichen Ereignis ist unsere Wahrnehmung damit höchstwahrscheinlich überfordert und wir müssen zunächst überhaupt erst einmal verstehen, was gerade mit uns und um uns herum passiert, bevor wir eine Entscheidung treffen und den Airbag auslösen können. Je besser wir uns darauf vorbereiten, desto eher wird es uns auch gelingen. Elektronische Airbagsysteme wie jene von Alpride, Ortovox/Arc’Teryx und Pieps/Black Diamond bieten aufgrund der Möglichkeit zur mehrmaligen Auslösung mit einer Akku-Ladung diesbezüglich ein günstiges Lernumfeld – für eine Auslöseschulung kann es unter Umständen sinnvoll sein, einen solchen Airbag für z. B. ein Wochenende auszuleihen oder zu mieten.
Aber auch bei mechanischen Systemen kann das Auslösen des Griffs ohne Aufblasen (im „unscharfen“ Zustand) geübt werden. Manche wird es erstaunen, dass man je nach Modell doch relativ stark am Auslösegriff ziehen muss. Im Zuge unserer Arbeit konnten wir zeigen, dass allgemein gut ausgerüstete sowie geschlechtshomogene Gruppen eher einen Airbag tragen. Über die Gründe für Zweiteres kann nur spekuliert werden.
Naheliegende Variablen wie Erfahrung, Tourenhäufigkeit, selbsteingeschätzte Kompetenz in der Beurteilung von Lawinengefahren oder Risikobereitschaft hingegen sagen die Airbagnutzung anders als erwartet nicht vorher. Genauso konnten wir entgegen der landläufigen Meinung in Bergsportkreisen und Medien sowie Ergebnissen in älteren Studien zur Risikokompensation in anderen Bereichen (u. a. Hedlund 2000) keine Anhaltspunkte finden, wonach sich die Nutzung von Airbags negativ auf das Risikoverhalten auswirkt – das unbestreitbare Sicherheitsplus durch Airbags also ins Gegenteil verkehrt.
Neuere, eher experimentell angelegte Studien finden allenfalls schwache Hinweise von Risikokompensation. Die Nutzung eines Airbags kann demnach unter bestimmten Bedingungen die Überlebenswahrscheinlichkeit bei kritischen Verschüttungen, die auch ohne Airbag nicht bei null liegt, noch weiter erhöhen und trägt eher nicht dazu bei, diese durch erhöhte Risikobereitschaft oder -verhalten der Nutzer:innen zusätzlich zu verringern.
Der Airbag ist im Sicherheitsbaukasten Lawine aber nur ein Baustein. Die effektivste Strategie, um langfristig gesund viele Touren im ungesicherten Skiraum zu erleben, ist, gar nicht erst in eine Lawine zu geraten. Die Prämisse in der Ausbildung muss deshalb lauten, noch stärker in die Lawinenprävention zu investieren – und nicht „nur“ den Lawinennotfall zu üben.
Eine gute Tourenplanung, eine dem eigenen Level angepasste Routenwahl sowie eine faktenbasierte Entscheidungsfindung im Gelände sind hier die weitaus entscheidenderen Bausteine. Die korrekte Erfassung des Gefahrenbeschriebs im Lawinenlagebericht (Lawinenproblem!), Standardmaßnahmen sowie allgemein gültige Faustregeln können auch auf niedrigerem Niveau vermittelt werden, ohne gleich auf komplexere Strategien wie Reduktionsmethoden zurückgreifen zu müssen.
Sollte es trotz aller Vorsichtsmaßnahmen zu einem Lawinenunfall kommen, kann ein Airbag eine effektive Ergänzung zur obligatorischen Notfallausrüstung (LVS, Schaufel, Sonde) und Gruppen-Notfallausrüstung (Erste-Hilfe-Set, Biwaksack, Mobiltelefon) darstellen.
Es bleibt abzuwarten, ob die anzunehmende weitere Verbreitung von Lawinenairbags zu einem neuerlichen Knick in der Zahl der durchschnittlichen Lawinentoten pro Winter führen wird (nach der „Erfindung“ von LVS-Geräten sowie abermals nach der Einführung von 3-Antennen-Geräten um die Jahrtausendwende) oder ob vielmehr Anwendungen zur automatisierten Risikoabschätzung wie Skitourenguru oder Gefahrenhinweiskarten (ATH; SLF) einen größeren Anteil an der hoffentlich in Zukunft weiter sinkenden Zahl an Lawinentoten haben werden.
Literatur
Forschungsgruppe Winter der DAV-Sicherheitsforschung (Brugger, M., Fritz, L., Hellberg, F., Hummel, C., Schwiersch, M. & Streicher, B.) (2023). Wie gehen Skitourengruppen bei ihren Entscheidungen vor? Weitere Ergebnisse aus der Skitourenstudie der DAV-Sicherheitsforschung. Bergundsteigen #122, 44-53.
Forschungsgruppe Winter der DAV-Sicherheitsforschung (Brugger, M., Fritz, L., Hellberg, F., Hummel, C., Schwiersch, M. & Streicher, B.) (2022). Sind Skitourengeher*innen tatsächlich anfällig für Entscheidungsfallen? Antworten zum Einfluss von Heuristiken aus der Skitourenstudie der DAV-Sicherheitsforschung. Bergundsteigen #121, 48-57.
Haegeli, P., Falk, M., Procter, E., Zweifel, B., Jarry, F., Logan, S., Kronholm, K., Biskupič, M., & Brugger, H. (2014a). The effectiveness of avalanche airbags. Resuscitation, 85(9), 1197–1203.
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Haegeli, P., Rupf, R., & Karlen, B. (2019). Do avalanche airbags lead to riskier choices among backcountry and out-of-bounds skiers? Journal of Outdoor Recreation and Tourism, 100270. http://doi.org/10.1016/j.jort.2019.100270
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Wilde, G. J. (1982). The theory of risk homeostasis: implications for safety and health. Risk Analysis, 2(4), 209-225.
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Finanzielle Unterstützung: Die Auswertung des Datensatzes wurde vom Bayerischen Kuratorium für Alpine Sicherheit (BayKurasi) maßgeblich unterstützt.
An den Erhebungen dieser Studie haben neben den Autoren mitgewirkt: Philipp Berg, Max Bolland, Steffi Bolland, Anna Gomeringer, Stefan Hinterseer, Alexandra und Georg Hochkofler, Johanna Kozikowski, Johanna Mengin, Jessica Ploner, Paul Schmid, Martin Prechtl, Bernhard Schindele, Laura Schwiersch.