Was ich schon immer über Schnee & Lawinen wissen wollte, aber bisher nicht zu fragen wagte. – Teil 1
Fragen #1 bis #10 – # lawinen # basics
Um hier Klarheit zu schaffen, starten wir unsere ÖGSL-Aufklärungskampagne mit Fragen an Christoph Mitterer.
Vorab: Herr Doktor Mitterer, woher stammt deine Expertise zum Thema „Schnee & Lawine“ und was verbindet dich mit dem Bergsport?
Mit Bergsport verbinden mich viele gute Freundschaften und noch mehr fantastische Abfahrten mit Ski und Bike. Erste Erfahrungen mit der Schneedecke stammen unterbewusst aus unzähligen Pulverabfahrten auf der Zugspitze und im Ammertal – wo ich ursprünglich herkomme. Aber so richtig angefangen hat es mit einem SAAC-Wochenendkurs unter der Leitung von Paul Mair auf der Rosshütte in Seefeld. Kurz darauf wurde ich Mitglied der Lawinenkommission im Ammertal und durfte meinen ersten Lawinenkommissionslehrgang am Sudelfeld besuchen. Der Grundstein für mein praktisches Wissen war gelegt. Über einen Kurs zur Schneedeckenmodellierung an der Uni in Innsbruck bin ich dann beim SLF in Davos bei Jürg Schweizer gelandet. Dort war ich fast sieben Jahre und durfte wiederum mit guten Freunden im Schnee forschen. Dann war genug mit Theorie. Ich bin dann zum LWD Bayern und jetzt beim LWD Tirol und arbeite an der Schnittstelle zwischen Forschung/Entwicklung und der operativen Lawinenwarnung.
#1 Wie entsteht die tägliche Lawinengefahrenstufe eines Lawinenwarndienstes?
Die tägliche Lawinengefahrenstufe ist im Prinzip eine Experteneinschätzung. Es gibt keine genaue mathematische Formel, um eine Lawinengefahrenstufe festzulegen.
Allerdings hat der Prozess der Einschätzung mehrheitlich einen standardisierten Workflow basierend auf der Europäischen Lawinengefahrenstufenskale und der EAWS-Matrix (siehe bergundsteigen 4/13 und 4/17). Der Lawinenwarner versucht, anhand von vielen verschiedenen Daten folgende Fragen beantworten zu können:
- Wie ist die Schneedecke in meinem Beurteilungsgebiet aufgebaut (stabil/instabil; gute/schlechte Bruchausbreitung möglich)?
- Wie wahrscheinlich ist es eine Lawine auszulösen (z.B. kleine, große Zusatzbelastung, spontan)?
- Wie umfangreich sind Gefahrenstellen, an denen Lawinen ausgelöst werden können (vereinzelte, einige, viele, die meisten)?
- Wie groß wird dann die zu erwartende Lawine?
Anhand dieser Fragen und der EAWS-Matrix versucht man dann, die Lawinengefahr einzuschätzen bzw. eine Lawinengefahrenstufe festzulegen. Beides wird über die Gefahrenstufe und die Beurteilung der Lawinengefahr letztendlich im Lagebericht oder der Lawinenvorhersage kommuniziert.
#2 Stimmt es, dass die Arbeit der Lawinenwarndienste für die Beurteilung der Verkehrswege und Siedlungsräume und nicht für uns Skitourengeher ins Leben gerufen wurde? Richtet sich die Beurteilung dann auch primär an die Lawinenkommissionen?
Ja und Nein. Ja, ursprünglich waren die meisten Lawinenwarndienste als Unterstützung für lokale Entscheidungsträger, sprich Lawinenkommissionen, installiert worden. Wie so oft waren große Katastrophen (z.B. in Bayern das Lawinenunglück am Schneeferner Haus auf der Zugspitze) oder wichtige Ereignisse (Olympia 1964) die Geburtshelfer der Warndienste in den Alpen.
Dann hat der Benutzerkreis über die Jahrzehnte eine Entwicklung durchgemacht und mit dem Boom rund ums Skitourengehen in den letzten ca. 25 Jahren ist der Skifahrer ein weiterer wichtiger Nutzerkreis des Lageberichts geworden.
Dazu kommt, dass ab Mitte der 1990er-Jahre Werner Munter mit seiner Reduktionsmethode die Entscheidung im Gelände maßgeblich mit der Gefahrenstufe verknüpft hatte. Dadurch waren Skitourengeher fix an die Gefahrenstufe und andere Informationen aus dem Lagebericht gebunden.
Heute ist es einfach Fakt, dass Lawinenwarndienste zwei Nutzerkreise unterstützen und informieren müssen: Freizeitsportler im winterlichen Gebirge und lokale Sicherungsdienste. Somit Nein: Die Beurteilung richtet sich nicht primär an die Lawinenkommissionen, sondern an beide Nutzerkreise.
#3 Was steckt hinter den Gefahrenstufen und wie hängen sie mit der Hangsteilheit zusammen?
Wie schon oben erwähnt stecken hinter der Gefahrenstufe die Schneedeckenstabilität, die Auslösewahrscheinlichkeit, Größe der zu erwartenden Lawine und der Umfang der Gefahrenstellen (Abb. 1, 2).
Diese Variablen können unterschiedlich miteinander kombiniert werden. Wir vermuten, dass durch diese Kombinationen die Lawinengefahr überproportional und kontinuierlich ansteigt. Die Gefahrenstufen müssen diese Kontinuität in diskrete Werte, sprich fünf Stufen umwandeln und dadurch viele Situationen abdecken (Abb. 3, siehe bergundsteigen #93).
Die Steilheit versteckt sich in der Gefahrenstufenskala hinter drei Begriffen:
- Mäßig steiles Gelände: Hänge flacher als rund 30 Grad
- Steilhänge: Hänge steiler als rund 30 Grad
- Extremes Steilgelände: besonders ungünstige Hänge bezüglich Neigung (steiler als etwa 40 Grad), Geländeform, Kammnähe und Bodenrauigkeit
Das mäßig steile Gelände beschreibt eigentlich mehr oder weniger den Fakt, dass Lawinen aus dem Flachen ausgelöst werden können, die Bruchfortpflanzung riesig ist und letztendlich Lawinen im Steilgelände anreißen und bis ins Flache vorstoßen, sprich mehr den Katastrophenfall. Ist auch nur in der Definition für die Gefahrenstufe Sehr groß erwähnt.
Der Begriff Steilhänge (steiles Gelände) beschreibt letztendlich Gelände, ab dem Lawinen abgleiten können, nämlich ziemlich genau 30 Grad. Erst ab dieser Hangneigung können trockene Schneebrettlawinen abgleiten. Viele Beurteilungskonzepte in der Praxis berufen sich aus diesem Grund auf diesen Schwellenwert (siehe bergundsteigen 04/17, 04/15, 04/06).
Extremes Steilgelände hat zwar auch eine Hangsteilheit in der Erklärung, nämlich 40 Grad, allerdings versucht man damit wohl eher die Geländecharakteristika zu beschreiben. Ab 40 Grad spricht man über felsdurchsetztes, extremes Gelände.
#4 Welche Bedeutung hat die regionale Gefahrenstufe für mich als Skitourengeher? Einige sagen ja, dass sie am Einzelhang keine Bedeutung hat.
Es handelt sich bei der Gefahrenstufe um eine stark generalisierte Information, die nach Definition der Vereinigung der europäischen Lawinenwarndienste (EAWS) für eine Region gilt. Diese Region beschreibt in ihrer kleinsten räumlichen Dimension einen Gebirgsstock, z.B. Silvretta, und sollte nie kleiner als 100 km2 sein. Insofern hat sie wirklich am Einzelhang keine Bedeutung. Sie stellt einen groben Richtwert zur Planung dar.
Ich denke, dass sich diese „einigen“ auf Munter berufen. Denn anhand der Gefahrenstufe und Hangneigung lässt sich laut Munters Reduktionsmethode das Risiko eines x-beliebigen Einzelhangs in einer Region abschätzen (siehe bergundsteigen 04/15 und 04/06) und – wie der Name schon sagt – reduzieren. Wir erhalten einen Wert der Wahrscheinlichkeit, ob der Hang hält. Was wirklich passiert, können wir dann nicht sagen, wir bekommen keine Aussage 0 oder 1, sprich Lawine, keine Lawine. Somit hat sie für mich im Einzelhang keine Bedeutung.
#5 Stimmt es, dass ich außerhalb der angegebenen Kernzone (Exposition und Höhe) von einer um eine Stufe geringeren Gefahrenstufe ausgehen kann?
Man kann man davon ausgehen, dass die Lawinengefahr dort geringer ist.
Ob es gerade eine ganze Stufe ist, hängt von der Situation ab (siehe Punkte A, B und C in Abb. 3). Zudem, herrscht z.B. erhebliche Lawinengefahr für den Sektor Nord, der Sektor Süd ist allerdings schon aper, dann ist dort keine Lawinengefahr.
#6 Wie kann ich als Skifahrerin überhaupt eine Lawine auslösen bzw. was passiert in der Schneedecke bei einem Schneebrettabgang?
Ich beziehe mich jetzt ausschließlich auf die Auslösungen von trockenen Schneebrettlawinen, weil diese mit Abstand die gefährlichsten für Skifahrer sind. Wie wir uns die Lawinenauslösung bzw. einen Schneebrettabgang vorstellen, haben Jürg Schweizer und Ben Reuter erst kürzlich ausführlich vorgestellt (bergundsteigen 04/15).
Das Konzept bzw. unser physikalisches Prozessverständnis, das hinter der Auslösung einer Lawine steht, beschreibt eigentlich eine Abfolge von Brüchen. Diese Abfolge an Brüchen kann ich nur erzeugen, wenn ich eine geschichtete Schneedecke habe. Die erste Voraussetzung für Schneebrettlawinen ist demnach eine ungünstige Schichtung bestehend aus einer Schwachschicht und einem darüber liegenden Schneebrett. Jetzt muss man nur die Abfolge an Brüchen in Gang setzen und da kommen wir Skifahrer ins Spiel.
Ob ein Skifahrer in einer Schwachschicht einen Bruch initiiert, hängt davon ab, wie schwach die Schwachschicht ist und wie dick sie überlagert ist: Je näher die Schwachschicht an der Schneeoberfläche ist und je weicher der überlagernde Schnee ist, desto größer ist die Wirkung des Skifahrers.
Je steiler, umso leichter kann ich eine Schwachschicht stören. Dabei zerstöre ich als Skifahrer wirklich winzige Eisverbindungen oder ganze Eiskristalle. Die Kristalle in der Schwachschicht fallen nicht wie in einem Kartenhaus um, sondern werden wirklich kaputtgemacht.
Hat die Schädigung eine bestimmte Größe erreicht, pflanzt sie sich von selbst fort. Der vom Skifahrer erzeugte Initialbruch ist in der Regel groß genug, dass es sofort zur schnellen Rissfortpflanzung kommt.
Damit der Riss sich aber immer weiter fortpflanzen kann, muss er zusätzlich mit Energie versorgt werden. Diese Energie stammt vom wellenartigen Durchbiegen des Schneebretts. Nur wenn das Schneebrett diese wellenartige Verformung mitmacht, sprich nicht selbst auseinanderbricht, kann Energie zum weiteren Brechen weitergegeben werden.
Kann sich der Riss ungestört fortpflanzen – das heißt, sind die Schneedeckeneigenschaften im Hang ähnlich günstig für die Ausbreitung – wird der Bruch erst zum Stillstand kommen, wenn sich ein Zugriss quer durch das Schneebrett öffnet. Die ganze abgelöste Schneetafel beginnt zu gleiten und bricht auseinander, sofern die Hangneigung größer als 30 Grad ist.
#7 Wie soll ich mich jetzt als Skitourengeher also am besten verhalten?
Herausfinden, ob ich in der Schneedecke einen Bruch auslösen kann und ob sich dieser fortpflanzt.
Dafür muss ich wissen, ob ich eine prominente Schwachschicht habe und ein gebundenes, gut verformbares Schneebrett. Das Ganze finde ich raus über Schneeprofile, Beobachtungen oder im Schneedeckenteil und der Gefahrenbeurteilung der Lawinenwarndienste.
#8 Wie sind die im Lagebericht angegebenen Lawinenprobleme entstanden?
Streng genommen sind die Lawinenprobleme ein Kommunikationsmittel, das komplexe Prozesse in der Schneedecke zu vereinfachten Kategorien zusammenfasst und dem Nutzer ein vereinfachtes Verhalten im Gelände vorschlägt.
Die dahinterliegende Idee basiert auf der Tatsache, dass wir Menschen sehr gut mit komplexen Problemen umgehen können, wenn wir sie in wiederkehrende Muster kategorisieren können. Umgekehrt haben wir Schwächen im Umgang und Einordnen von Wahrscheinlichkeiten. Diese musterbasierte Methode wurde von mehreren Lawinenwarndiensten parallel seit ca. 2010 eingeführt. Tirol führte die 10 Gefahrenmuster ein, die Schweiz hatte vier typische Lawinensituationen und Canada versuchte über neun sog. avalanche characters, sprich Lawinencharakteristika, zu kommunizieren.
Man hat dann versucht, diese leicht unterschiedlichen Ansätze in Einklang zu bringen und sie entlang der Informationspyramide des Lawinenlageberichts angeordnet (siehe bergundsteigen 04/14). Schlussendlich haben sich die Warndienste innerhalb der EAWS im Juni 2017 darauf geeinigt, fünf Lawinenprobleme auf der Ebene der Gefahrenstufe einheitlich kommunizieren zu wollen: Neuschnee-, Triebschnee-, Altschnee-, Nassschnee- und Gleitschneeproblem.
#9 Fischmäuler stressen mich auf Tour eigentlich überhaupt nicht, vor 25 Jahren habe ich gelernt, dass der Hang dann entlastet ist. Wie soll ich als Skitourengeher also mit dem Gleitschneeproblem umgehen?
Ich hoffe schon sehr, dass dieses Wissen von vor 25 Jahren nur mehr als Mythos durch die Skitourencommunity geistert, denn um Fischmäuler herum kann alles in Bewegung sein: Hänge darunter sind weder entlastet noch entspannt, noch können wir genau vorhersehen, wann ein Fischmaul sich in eine Gleitschneelawine verwandelt.
Als Skitourengeher gilt es einfach die Nähe von offenen Rissen zu meiden, Gefahrenstellen schnell zu passieren und unter dem offenen Fischmaul keine Jause, Bayern würden Brotzeit sagen, einzulegen – sonst kann es schon mal passieren, dass das Fischmaul dich jausnet.
Abb. 5 Suche die Fischmäuler – und weil in der S(W)-Flanke des Gr. Galtenberg Anfang Februar 2019 einiges zu sehen war, kannst du auch gleich die alten Schneebrettanrisse und frischen Lockerschneelawinen suchen (Fischmäuler=rot, Schneebrettanrisse=violett, Lockerschneelawinen=gelb). Foto: argonaut.pro
# 10 Stimmt es, dass laut Werner Munter die ganzen probabilistischen (wahrscheinoichkeitsbasierten) Methoden bei einem Nassschneeproblem nicht funktionieren?
Ja. Das hängt vor allem an der Tatsache, dass ich als Skitourengeher eine nasse Lawine sehr selten selber auslöse und sich zusätzlich die Mechanik und Materialeigenschaften im nassen Schnee stark verändern.
Nasse Lockerschnee- und Schneebrettlawinen sind meistens spontan. Ähnlich wie beim abgehenden Fischmaul befinde ich mich schlicht und ergreifend zum falschen Moment am falschen Ort. Hier sind einfach das Timing und die Schneedecke entscheidend: früh dran sein und früh daheim wieder bei Kaffee und Kuchen hocken; nicht gehen, wenn der Harschdeckel nicht oder schlecht trägt.
Übrigens Harschdeckel lassen sich einigermaßen gut über die Oberflächentemperaturen an den Messstationen der Lawinenwarn-/Wetterdienste abschätzen. Dafür muss die Oberflächentemperatur für längere Zeit markant unter 0 Grad fallen.